ACHTZEHN
Teddy platzte bei Nashs Assistentin herein. Sie saß an ihrem Computer und konzentrierte sich auf ihren Bildschirm, schien sich aber durch die Unterbrechung nicht gestört zu fühlen. Sie waren sich gestern im Flur begegnet und als sie ihn erkannte, warf sie ihm ein natürliches Lächeln zu und schüttelte ihm die Hand, wobei sie sich als Gail Emerson vorstellte. Teddy fand, sie müsste um die fünfzig Jahre alt sein, konnte es aber nicht wirklich sagen, weil ihr attraktives Erscheinungsbild so jugendlich wirkte. Ihr Haar war eine Mischung aus verschiedenen Blondschattierungen. Ihre Augen waren blau und klug, aber irgendwie auch leicht und warm.
»Er erwartet Sie«, sagte sie und blickte zur Tür. »Wollen Sie eine Tasse Kaffee?«
Teddy sah die frische Kanne auf dem Tisch am Fenster stehen, dankte ihr, aber schüttelte den Kopf. Im Moment brauchte er kein Koffein mehr. Auf der Fahrt hierher hatte er bei der Post angehalten und sich einen morgendlichen Termin mit Holmes’ Abteilungsleiter verschafft. Die Uhr tickte. Teddy hatte versucht herauszufinden, was Holmes an jenem Tag gemacht hatte, als Valerie Kramp verschwunden war. Der 26. Oktober war ein Mittwoch. Der Abteilungsleiter konnte kaum Englisch sprechen, war aber in der Lage, es zu lesen. Obwohl der Mann über Teddys Besuch nicht erfreut gewesen war, ging er die Aufzeichnungen der Angestellten durch und belegte, dass Holmes sich um sechs Uhr in der Früh zum Dienst gemeldet hatte, seine übliche Neunstundenschicht absolvierte und sich um fünfzehn Uhr ohne Zwischenfälle wieder abmeldete. Nach dem, was Teddy gelesen hatte, verschwand Valerie Kramp in der Abenddämmerung. Nichts, was er von Holmes Abteilungsleiter erfahren hatte, deutete auf ein mögliches Alibi hin.
Er betrat das Büro. Nash stand über dem Geschworenentisch und paffte eine Zigarre. Als er aufblickte, schien sein Gesicht etwas blass zu sein. »Es ist schlimmer, als wir dachten«, sagte er.
Teddy fiel Nashs sorgenvolle Stimme auf. Als er nähertrat, überreichte ihm Nash ein Blatt Papier. Es war eine Vermisstenanzeige aus der nationalen Datenbank. Derselbe Steckbrief von Valerie Kramp, den Carolyn Powell ihm gestern beim Bootshaus gezeigt hatte. Unter Kramps Bild war eine vollständige physische Beschreibung mit Datum und Ort, wo sie zuletzt gesehen wurde. Teddy verstand Nashs Besorgnis nicht, bis er auf den Geschworenentisch blickte. Da waren noch zwei weitere Steckbriefe. Das Datum war jeweils ein anderes und auch die Namen.
»Nachdem ich Kramps Blatt herausgezogen hatte«, sagte Nash, »schlüsselte ich ihre physische Beschreibung auf und ging einen Monat zurück. Dann zwei Monate. Das kam dabei hoch.«
Teddy legte den Steckbrief neben die anderen beiden und war erstaunt über die Ähnlichkeit der Gesichter. Obwohl sich die individuellen Merkmale in gewissem Maße unterschieden, konnte es keinen Zweifel geben, dass sie dasselbe allgemeine Erscheinungsbild und denselben Stil hatten. Es war eine bestimmte Art von Schönheit, aber nicht wie das Gesicht eines Models in einer Modezeitschrift. Stattdessen kam ihre Ausstrahlung von innen heraus. Jede sah so aus, als ob sie mehr im Leben zu tun hatte, als sich vor einem Spiegel herauszuputzen oder den nächsten Besuch bei einem Schönheitschirurgen zu planen. Das Wort Seele fiel ihm dabei ein.
Teddy bemerkte einen Kalender auf dem Tisch. »Was machen Sie damit?«
»Ich überprüfe den Mondzyklus«, sagte Nash. »Es gibt keine Übereinstimmung. Die Entführungen fanden zufällig statt. Vier Wochen auseinander, dann zwei Wochen. Darlene Lewis wurde sechs Wochen danach ermordet. Es fing letzten September an.«
»Haben Sie die Polizei angerufen?«
»Noch nicht«, sagte Nash. »Ich glaube, wir müssen berücksichtigen, was in Oscar Holmes’ Interesse das Beste ist. Wir brauchen Zeit, um ein Profil des Killers zu erstellen und es durchzudenken.«
Teddys Blick wanderte wieder zu den Steckbriefen auf dem Tisch. Er griff in seine Tasche und fischte die Zigaretten heraus. Als er sich eine anzündete, versuchte er den Schock, den er fühlte, nicht zu zeigen: Die Opfer wurden immer zahlreicher. Der blanke Horror.
»Sie könnten Zwillinge sein«, sagte Teddy. »Wollen Sie mir damit sagen, dass die Polizei noch nicht gemerkt hat, dass da etwas nicht stimmt?«
»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie sind sich dessen bewusst, Teddy. Aber man braucht Beweise, dass ein Verbrechen begangen wurde. Man muss etwas haben, das es in Gang setzt. Darlene Lewis’ Mörder hat es ausgelöst. Bis vor zwei Tagen gab es kein Anzeichen eines Verbrechens, sonst hätten wir davon gehört. Das Auffinden von Valerie Kramps Leiche deutet auf einen Trend hin und gibt der Untersuchung einen Auftrieb.«
»Ich will, dass sie etwas sehen«, sagte Teddy. Er zog die Mordakte aus seiner Aktentasche, öffnete sie auf dem Tisch und zeigte, ohne ihn zu berühren, auf den Brief, den er mit der Post bekommen hatte.
Nash beugte sich näher darüber und begann zu lesen. Als er fertig war, untersuchte er den Umschlag und lächelte über den Absender: 45 Somebody Street.
»Ich fürchte, dass Sie sich an so etwas gewöhnen müssen«, sagte Nash. »Wir beide müssen das.«
»Was ist mit Fingerabdrücken?«
»Wenn Ihnen das ein besseres Gefühl gibt, sollten Sie es den Beamten geben, die den Fall bearbeiten. Haben Sie ihn berührt?«
»Ich wusste erst nicht, was es war.«
»Schicken Sie ihn trotzdem ein. Ich habe über die Jahre Hunderte davon bekommen, aber es hat zu nichts geführt. Einige hatten Fingerabdrücke, andere nicht. Das Problem ist, dass sie mit welchen übereinstimmen müssen, zu denen es einen Namen und ein Gesicht gibt. John Q. Public oder sollte ich sagen Colt fünfundvierzig? Ich bewahre meine in einer Mappe in der Schublade auf.
Nash versuchte, Teddy das schlechte Gefühl zu nehmen, aber es funktionierte nicht. Während Teddy beobachtete, wie Nash einen Schrank öffnete, drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus. Nash reichte ihm dann eine Plastiktüte mit einer Pinzette aus der obersten Schreibtischschublade. Irgendwie hatte Teddy das Gefühl, er würde überreagieren. Nash klang, als ob Todesdrohungen mit dem Job einhergingen und dass noch mehr zu erwarten wären. Gleichzeitig fühlte Teddy aber eine gewisse Angst, als er die Mitteilung mit der Pinzette anhob und die Worte Ich beobachte dich zum zweiten Mal an diesem Morgen las. Er ließ den Brief wieder in der Tüte verschwinden und gab sie Nash zurück.
Gail kam mit einem Bündel Papiere herein. Nashs Augen wurden glasig, als er sie ansah.
»Es tut mir Leid«, sagte sie und reichte die Unterlagen herüber. »Es fing letzten Januar an. Ich bin zwei Jahre zurückgegangen. Das ist alles, was es dazu gibt.« Sie ging aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Nash legte die Papiere auf dem Geschworenentisch aus, eines neben dem anderen. Es waren noch eine Reihe von Vermisstenanzeigen aus der NCIC-Datenbank, dem National Crime Information Center.
Teddy zuckte, als er die Gesichter sah. Er zählte sie, während Nash sie nach Datum ordnete. Es waren elf. Darlene Lewis’ Mord war der zwölfte. Alle sahen aus, als ob sie dieselben Eltern hätten. Als Teddy sie anstarrte, fühlte es sich an, als ob sie zurückstarren würden.
Er zitterte, zog einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich vor sie hin. Er versuchte wegzuschauen, konnte es aber nicht.
»Zumindest wissen wir, mit was wir es zu tun haben«, flüsterte Nash mit rauer Stimme. »Es ist ein Serienmörder, Teddy. Holmes oder jemand anders. So oder so – er treibt schon das ganze Jahr sein Unwesen, ohne entdeckt worden zu sein.«