DREISSIG

Sie wartete auf der anderen Seite des offenen Gastraumes an einem Tisch im Marathon Grill. Als er auf sie zuging, fiel ihm ihr schwarzer Anzug auf. Der Stoff saß eng anliegend, war sorgfältig verarbeitet und hob die sanften Konturen ihres Körpers eher hervor, anstatt sie zu verbergen. Sie trug keine Bluse unter ihrem Blazer, nur ein dünnes Goldhalsband. Als sie mit ihren blaugrauen Augen von der Speisekarte aufblickte, sah er, dass sie immer noch ein Verlangen nach ihm hatte. Er konnte nicht glauben, dass sie letzte Nacht zusammen geschlafen hatten. Sie war großartig, die bemerkenswerteste Frau, die er je gesehen, geschweige denn im Bett hatte.

Als er den Tisch erreichte, wanderte ihr Blick zur Wunde über seiner Augenbraue. Teddy hatte das Pflaster entfernt, da er entschied, dass die Wunde Luft und Licht brauchte. »Was ist passiert?«, fragte sie.

»Wir können später darüber sprechen.« Er setzte sich ihr gegenüber und nahm die Speisekarte in die Hand. Er konnte ihre Haut riechen, den zarten Duft von Bodylotion und Shampoo. Er hatte einen Bärenhunger, obwohl er das Essen auch hätte auslassen können.

»Sag mir sofort, was passiert ist«, sagte sie.

»Ich bin gegen einen Baum gerannt.«

Sie senkte ihre Karte und sah ihn an. Das kaufte sie ihm nicht ab. »Rennst du oft gegen Bäume?«

»Okay«, sagte er und beschloss, damit herauszurücken. »Ich ging letzte Nacht zu den Barnetts, um für seine Frau ein paar Dinge ins Krankenhaus zu bringen. Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass es kein Unfall war. Jemand hat ihn absichtlich überfahren. Ich habe sogar ein antikes Schnapsglas aus Sterlingsilber gefunden, das jemand im Schnee zurückgelassen hatte. Aber ich wusste nicht, dass der Typ immer noch da war. Als ich mich umdrehte, hat er mir auf den Kopf geschlagen und ich wurde bewusstlos.«

Sie fing an zu lachen. Sie sah gut aus, wenn sie lachte. Entweder war es ansteckend oder es hörte sich so verrückt an, als er es laut aussprach, dass Teddy auch zu lachen anfing.

»Jedes Wort davon ist wahr«, sagte er.

»Und ich nehme an, als du aufgewacht bist, war das antike Schnapsglas verschwunden.«

Er nickte langsam. Sie fing erneut an zu lachen. Er wollte es eigentlich nicht erzählen, aber wenn man in jemanden verliebt ist, dann passierte das schnell. Man hat in diesem Fall keine große Wahl. Es überkommt einen einfach und dann weiß man es. Er sah auf die Karte hinunter. Seine Aufmerksamkeit wanderte zu einer Stelle, an der die Vorspeisen anscheinend in einer fremden Sprache aufgeführt waren.

»Ich wette, dieses silberne Schnapsglas hatte etwas Einzigartiges an sich«, hörte er sie sagen. »Irgendein kunstvolles Muster.«

»Ja, das war tatsächlich so.«

»Das dachte ich mir. Was für ein Muster war es denn?«

»Große Schiffe und Wale«, sagte er.

Als sie endlich zu lachen aufhörte, schaute er auf das warme Lächeln in ihrem Gesicht, genoss ihre Nähe und wusste es einfach.

»Ähm«, sagte sie. »Mein Ratschlag wäre, dass du in Zukunft deine Augen offen hältst und von den Bäumen wegbleibst.«

Wäre sie nicht die Anklägerin im Fall Holmes gewesen, hätte er sie aus dem Stuhl und sie in seine Arme gezogen. Wäre er nicht der Verteidiger, wäre er aufgestanden und hätte sie sofort geküsst. Aber sie waren sich ihrer Pflichten bewusst und hatten ein Geheimnis, von dem Teddy wusste, dass jeder, der sie beobachtete, es erraten konnte.

Er klappte die Speisekarte zu und dachte, er wäre Legastheniker. Er wusste noch, was das Frühstück war und als die Bedienung ihre Tassen mit Kaffee füllte und ihre Wünsche entgegennahm, bestellte Teddy aus dem Gedächtnis: Speck und gebratene Spiegeleier mit Vollkorntoast.

Zu dieser Stunde waren mehr als die Hälfte der Tische belegt, aber der Raum war groß, mit einer zehn Meter hohen Decke. Sie konnten frei sprechen, ohne sich große Sorgen machen zu müssen, durch den Lärm gehört zu werden.

»Und wie geht es Barnett?«, fragte sie.

»Ich habe im Krankenhaus angerufen, bevor ich herkam. Sie sagen, er wird es überstehen. Es wird aber einige Zeit brauchen.«

Er rührte ein Päckchen Zucker in seinen Kaffee und probierte. Er war stark und heiß. Teddy fing an, sich zu entspannen. Auf dem Weg hierher hatte er Gelegenheit gehabt, über Barnetts Unfall nachzudenken und über die Möglichkeit, dass Andrews dabei eine Rolle spielte. Er hatte es vorher nur angedeutet und Powell hatte gelacht. Dennoch fand er es notwendig, die Angelegenheit dringend mit ihr zu erörtern. Außer dem Mörder hatte nur Andrews etwas davon, Barnett umzufahren. Teddy war sich vollkommen darüber bewusst, dass es ein Versuch gewesen sein könnte, Barnett einfach einzuschüchtern. Ein Auftrag, den er Michael Jackson gab, der außer Kontrolle geriet, als Barnett auf dem Eis ausrutschte und nicht ausweichen konnte. Andrews hatte sich bei der gestrigen Autopsie als Arschloch erwiesen. Und Jackson schien mehr als fähig Dinge auszuführen, die man ihm auftrug.

»Wie gut kennst du Andrews?«, wollte er wissen.

»Ich bin schon seit zehn Jahren bei der Strafverfolgung. Warum?«

Teddy beugte sich näher heran. »Ich wollte eigentlich wissen, wie weit du glaubst, dass er gehen würde, um einen Fall zu gewinnen?«

Sie stellte ihre Tasse ab und sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Sie lachte nicht mehr und er konnte sehen, wie ihre Gedanken sich schnell drehten.

»Einen Fall wie diesen«, sagte Teddy. »Andrews hat politische Ambitionen. Dieser Fall ist ein Gottesgeschenk für ihn. Du hast gesehen, wie er sich bei der Autopsie benommen hat. Was glaubst du, was er tun würde, um zu gewinnen?«

Das Verlangen war aus ihren Augen verschwunden. Da war nur noch Distanz. »Es klingt, als ob du mich fragen würdest, ob ich glaube, dass er in der Lage wäre, Barnett zu überfahren. Ich hoffe, das ist es nicht, wonach du fragst, Teddy.«

Er räusperte sich und sah sie an. »Ich glaube schon«, sagte er.

Sie setzte sich in ihrem Stuhl auf und machte ihren Rücken gerade. Sie war verstimmt, versuchte es aber nicht zu zeigen. Ihre Stimme war ruhig, nur etwas mehr als ein Flüstern, aber fest und stark: »Hör mir zu«, sagte sie. »Andrews mag ein Angeber sein. Klappern gehört nun mal zum Handwerk. Vielleicht hat er sogar einen oder zwei Fehler in der Vergangenheit gemacht. Wer hat das nicht? Aber es ist ausgeschlossen, dass er mit dem, was letzte Nacht passiert ist, etwas zu tun hat. Er hat Barnett nicht überfahren und er ist nicht für den Schlag auf deinen Kopf verantwortlich. Ich dachte, du machst Witze.«

»Das habe ich aber nicht, Carolyn. Jemand war dort draußen. Als ich das Schnapsglas fand, hat mich jemand niedergeschlagen.«

Sie sah auf den Tisch hinunter, ihre Stimme war bissig: »Vielleicht war es Dawn Bingle.«

Teddy schob seinen Kaffee beiseite und ignorierte den Seitenhieb. »Diesmal war es ein Mann«, sagte er. »Zumindest glaube ich das. Ich konnte es nicht genau erkennen.«

Sie schüttelte ohne Erwiderung ihren Kopf, als ob er verrückt wäre. Als Teddy darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er nicht sicher sein konnte, was er letzte Nacht gesehen hatte. Nicht sicher genug, um es unter Eid zu bezeugen. Es war dunkel. Als er auf dem Schnee lag, sah er eine Gestalt und nahm an, dass es ein Mann war. Aber vielleicht stimmte das nicht.

»Andrews braucht diesen Fall«, sagte Teddy. »Wenn Barnett aus dem Weg ist, bin nur noch ich da, gegen all die physischen Beweise. Seit der letzten Nacht sind seine Chancen in Richtung hundert Prozent gestiegen.«

Sie war sprachlos. Als ihr Frühstück kam, sah sie von ihrem Teller weg.

»Ich bedaure es, dass wir miteinander geschlafen haben«, flüsterte sie, als die Bedienung gegangen war. »Du bist nicht der Mensch, den ich in dir vermutete.«

»Wovon redest du?«

Ihre Aktentasche lag auf dem Stuhl neben ihr. Sie zog eine Mappe heraus und warf sie auf den Tisch.

»Unsere Aussichten, diesen Fall zu gewinnen, sind vor einer halben Stunde, als ich die DNA-Ergebnisse aus den Kerkertürmen abgeholt habe, zu einer sicheren Sache geworden«, sagte sie. »Lies den Bericht, während du dein Frühstück genießt. Das ist deine Kopie für die Mordakte. Das Messer, das in Holmes Postsack gefunden wurde, weist Blutspuren auf, die Darlene Lewis und Valerie Kramp entsprechen. Holmes’ Blut wurde auch darauf gefunden. Es ist Gewissheit, Teddy: Dein Klient hat beide ermordet.«

Damit packte sie ihre Sachen und marschierte zur Tür. Sie hatte es eilig und war zu wütend, um ihren Mantel anzuziehen, bis sie draußen war.

Teddy schob sein Frühstück weg und beobachtete sie durch das Fenster. Als sie die Straße hinunter verschwand, bat er die Bedienung um die Rechnung.