DREIUNDSIEBZIG

Er blickte auf die Nachricht, die seine Mutter auf der Küchentheke bei der Kaffeekanne hinterlassen hatte. Offensichtlich kamen seit letztem Abend viele Anrufe im Haus an. So viele, dass sie beschlossen hatte, die Anrufweiterschaltung zu aktivieren, damit sie direkt auf Teddys Handy gingen; sie wusste nicht, dass das am Grund des Sees lag.

Als er sich eine Tasse Kaffee einschenkte, warf Teddy einen Blick auf die Einfahrt und sah, dass das Auto seiner Mutter weg war. Es war nach neun Uhr und er hatte es geschafft, zu schlafen. Er setzte sich an den Tisch, nahm den Telefonhörer auf und wählte seine Handynummer. Dann gab er seinen Code ein und wartete, bis die digitale Stimme seine Nachrichten aufzählte und sie zurückholte. Es waren siebenundfünfzig. Offensichtlich hatte auch die digitale Stimme nicht gewusst, dass das Telefon untergegangen war.

Teddy lehnte sich zurück, nahm Notizblock und Stift von der Theke, nippte an seinem heißen Kaffee und ging die Nachrichten durch, ohne länger als eine oder zwei Sekunden hineinzuhören. Die meisten Anrufe waren von Leuten, die er nicht kannte. Reporter, die Informationen wollten und um Interviews baten. Jill hatte vom Büro angerufen und zwei Nachrichten hinterlassen, einmal gestern Nachmittag und noch einmal heute früh. Barnett hatte sogar angerufen und seine Entlassung aus dem Krankenhaus gemeldet. Seine Stimme hatte etwas Aufmunterndes an sich. Eine künstliche Vitalität, die Teddy so irritierend fand, dass er zur nächsten Nachricht weitersprang.

Es war der letzte Anruf, der ihn schließlich aufrüttelte. Er spähte durch seine beschlagene Uhr, kämpfte gegen die Erinnerung am See, die sich unter dem Glas festgesetzt hatte und erkannte, dass die Nachricht erst vor zwanzig Minuten hinterlassen worden war. Alan Andrews hatte angerufen. Er wollte sich so bald wie möglich mit ihm treffen und sagte, sie müssten reden. Er würde im Curran-Fromhold festgehalten und nahm an, Teddy wüsste, wo das Gefängnis war.

Teddy dachte darüber nach, während er durch den Eingang zum Gewächshaus, das sein Vater gebaut hatte, starrte. Die Anbauten zum Haus waren mit Präzision durchgeführt worden und makellos. Sein Vater war in seinem besten Alter, als er von einem Mann wie Alan Andrews schachmatt gesetzt wurde.

Teddy nahm den Hörer auf und tippte die Festnetznummer zu seinem Schreibtisch im Büro ein. Zu seiner Überraschung wurde die Verbindung nicht umgeleitet und Jill nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Was ist los?«, fragte er.

»Sie haben den ganzen Vormittag damit verbracht, dein Büro auseinanderzunehmen«, sagte sie.

»Was suchen sie?«

»Das Kündigungsschreiben an dich. Zuerst Stokes, dann Barnett auf Krücken. Sie suchen den Umschlag. Stokes hatte ihn auf deinen Schreibtisch gelegt und jetzt ist er weg. Sie wirkten aufgeregt, sogar verzweifelt.«

Teddy entdeckte eine gewisse Freude in ihrer Stimme, kam aber nicht ganz mit. »Erzähl von Anfang an, Jill.«

»Hast du heute Morgen die Zeitungen gelesen?«

»Nein. Noch nicht.«

»Du bist auf der Titelseite«, sagte sie. »Sie sagen, dass du den Fall gelöst hast. Du hast das Leben des Mädchens gerettet. Du bist der Grund dafür, dass der E.-T.-Killer tot ist und ein Unschuldiger freigelassen wurde.«

»Wer sind sie

»Nash, Carolyn Powell, die Polizei und das FBI – alle.«

Teddy nahm noch einen Schluck Kaffee, ohne etwas zu sagen.

»Barnett und Stokes suchen das Entlassungsschreiben, weil sie es zerreißen wollen. Es macht keinen guten Eindruck, dass sie dich gefeuert haben. Verstehst du nicht, Teddy? Du und Holmes, ihr seid jetzt berühmt.«

Er dachte an das Geschäftsangebot an Holmes. Eine Restaurantkette mit dem Namen Veggie-Metzger sollte in der Stadt eröffnet werden. Der Zirkus hatte begonnen, Amerikas Einfallsreichtum lief zu Höchstform auf. »Ich war nicht dort«, sagte er. »Ich habe den Brief nicht.«

»Natürlich nicht. Stokes hat ja die Schlösser ausgetauscht. Jetzt hat er sie wieder zurückgewechselt, damit du es nicht merkst.«

Er schüttelte den Kopf. Stokes war unglaublich. »Wo ist das Schreiben dann?«, fragte er.

»In meiner Handtasche«, sagte sie. »Ich habe es an jenem Tag, als Stokes es auf deinen Schreibtisch gelegt hat, für dich eingesteckt.

Er lächelte, als er ihr Lachen hörte. Sie hatte die letzten paar Stunden damit verbracht, Barnett und Stokes zu beobachten, wie sie sich wanden, und genoss wahrscheinlich jede Minute davon. Barnett und Stokes hatten es verdient, dass sie sich winden mussten und noch mehr. Viel mehr. Und Jill war eine gute Freundin.

»Ich treffe dich in einer Stunde«, sagte er.

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Er ging durch die Garage und betrat den Aufzug mit zwei Kisten, die er auf dem Weg in die Stadt aus der Weinhandlung mitgebracht hatte. Die Rechtsanwaltsfirma belegte das sechzehnte und siebzehnte Stockwerk. Er könnte wahrscheinlich seinen Schreibtisch ausräumen und zur Tür hinaus verschwinden, bevor Barnett und Stokes mitbekamen, dass er überhaupt im Gebäude war, indem er einfach das Büro in der unteren Ebene betrat und die Treppe innerhalb der Firma benutzte, um zu vermeiden, an der Rezeption vorbeizugehen. Das würde er tun, wenn es ihm etwas ausmachen würde. Aber es machte ihm nicht wirklich etwas aus.

Der Aufzug hielt in der Eingangshalle und eine Frau trat ein. Er kannte sie als erfahrene Anwältin und Partnerin einer anderen Firma im vierzehnten Stock. In der Vergangenheit hatte sie nie mit ihm geredet. Heute sagte sie Hallo und lächelte sogar, als sie ausstieg. Die Türen schlossen sich wieder und der Aufzug fuhr hoch.

Er konnte den Herzschlag in seiner Brust fühlen und wurde auf sich selbst wütend, da das heftige Pochen seine Nervosität bestätigte. Er konnte nicht für jemanden wir Barnett arbeiten, egal wie seine finanzielle Situation aussah oder die Schwierigkeiten, die er zu erwarten hatte – er konnte es einfach nicht.

Der Aufzug öffnete sich, er ging gelassen durch den Empfangsbereich und ignorierte die Leute, die ihn anstarrten. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Empfangsdame nach dem Telefon griff.

Er ging durch den Flur bis in sein Büro und stellte die Kartons auf seinem Schreibtisch ab. Jill drehte sich vom Computer um, stand auf und umarmte ihn lange. Er fühlte, wie ihre Lippen sich an seine Wange pressten, dann zum Hals wanderten und sich dort vergruben. Er festigte seinen Griff und hielt sie in seinen Armen.

»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, flüsterte sie.

»Es ist vorbei, Jill. Es ist erledigt.«

Sie drückte sich weg und sah auf die Kartons. »Du gehst?«, wollte sie wissen.

Er nickte, ohne etwas zu sagen, und ging dann um seinen Schreibtisch herum. Er fing mit der obersten Schublade an, zog sie ganz heraus und kippte den Inhalt in den ersten Karton. Als er die Schublade wieder in den Schreibtisch schob und die zweite herauszog, spürte er, wie jemand vor der Tür stand und sah hoch.

Jim Barnett stand im Flur. Er trug einen seiner handgemachten Anzüge aus Mailand und stützte sich auf zwei Alu-Gehstützen. Seine Beine waren jetzt in Gipsverbänden. Er sah mitleiderregend aus und Teddy wusste, dass er das benutzen, es aber nichts nützen würde. Teddy leerte den Inhalt der zweiten Schublade aus und griff nach der dritten.

»Sie sind überaus dramatisch«, sagte Barnett. »Wenn Sie eine Gehaltserhöhung wollen, soll es so sein. Wenn es darum geht, was ich über Ihren Vater gesagt habe, dann entschuldige ich mich dafür. Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht gemeint habe.«

Teddy schüttete die dritte Schublade in den Karton und griff nach einem weiteren. »Wer hat etwas von Geld gesagt?«

»Ich erwähne es, weil ich weiß, dass Sie es brauchen. Das tun wir doch alle. Manche mehr als andere.« Barnett humpelte ins Büro und war irritiert, als er Jill im Zimmer bemerkte und ihm klar wurde, dass sie nicht alleine waren.

Teddy machte mit der nächsten Schublade weiter. Leider würde nichts, was Barnett sagen konnte, etwas daran ändern, was der Mann getan hatte. Andererseits hatte Barnett Teddy bis vor zehn Tagen noch wie einen Sohn behandelt. Auch musste man bedenken, was er durchmachen musste, nachdem er von seinem eigenen Auto überrollt worden war. Aber letztendlich hatte Barnett seinen eigenen Schwager betrogen und an den Staatsanwalt verkauft, um seine Verbindung zu ihm zu verbergen. Er hatte Teddy hintergangen, heimlich mit Andrews einen Deal ausgehandelt und Holmes erlaubt ein Verbrechen zu gestehen, bei dem er nur Zeuge war. Als Teddy darüber nachdachte, erkannte er die Lage, in der sich Barnett befand. Holmes war unschuldig. Barnett hatte ein Mitglied seiner eigenen Familie verkauft, um seinen gesellschaftlichen Status zu bewahren. Wenn diese Story in den Zeitungen erschien, könnte keine PR-Firma helfen, den Schaden wieder gutzumachen. Barnett würde nicht mehr für das Philadelphia-Magazin Power der Ausgabe 100, in Betracht kommen. Er würde von der Liste gestrichen, zur Seite geschoben als nichts anderes als ein übereifriger Wurm.

»Um Ihrer Karriere willen«, sagte Barnett, »glaube ich, Sie sollten sich einige Zeit freinehmen und sich das durch den Kopf gehen lassen.«

Ihre Augen trafen sich. Teddy sah, dass der Mann schwitzte. »Von wessen Karriere reden wir denn hier?«, sagte er. »Und ich wurde gefeuert, schon vergessen? Ich habe nicht gespurt. Sie haben es selbst gesagt und Stokes auch. Das tun wir hier. Wir spuren. Irgendwann in der letzten Woche wurde mir klar, dass ich nicht gut darin bin.« Teddy war mit dem Schreibtisch fertig und ging zum Sideboard über, nahm Fotos ab und sammelte den Krimskrams im zweiten Karton.

»Sie wurden nicht gefeuert. Stokes hatte nicht die Ermächtigung dazu. Er ist alt und hat einen Fehler gemacht. Er dachte nur an die Firma.«

Teddy zuckte die Achseln. Er verschloss den zweiten Karton, stellte ihn auf den ersten und dachte an sein Nachmittagstreffen mit dem Teufel. In einer Stunde würde er mit Alan Andrews in einem Besucherraum sitzen. Als er um den Schreibtisch herumtrat, sah er Jill an und nickte.

Barnett verzog das Gesicht. »Ich müsste Ihre Kündigung akzeptieren, das tue ich aber nicht. Sie denken nicht klar. Sie sind nicht bei Verstand.«

»Dann sind wir schon zwei«, sagte Teddy, ging an dem Mann mit den Gehstützen vorbei und ließ ihn stehen.