ZWÖLF
Teddy wunderte sich über den geringen Verkehr, als er den Fahrradweg entlang des Kelly Drive hinunterging. Die Geräusche der Straße waren so schwach wie auf einer Landstraße, der Lärm der Stadt lag hinter ihm. Er konnte den Schuylkill River links durch die Bäume sehen. Obwohl er zugefroren aussah, konnte er hören, wie das Wasser am Hügel unten über den Fairmount-Damm schwappte.
Es war fast so, als ob er seine Sorgen hinter sich gelassen hatte und eine Oase betrat, einen Ort, an dem er sein früheres Leben und die Träume, die er für seine Zukunft hatte, sehen, jedoch nicht berühren konnte. Schließlich war der Versicherungsfall nicht mehr seiner. Was auch immer er von Dawn Bingle erhielt, müsste er an Brooke Jones weitergeben, sobald er ins Büro zurückkehrte.
Wenn er Jones solch ein unglaubliches Geschenk machte, würde es vielleicht ihre Einstellung ändern. Als er darüber nachdachte, hatte er seine Zweifel und lachte. Man kann einen bissigen Hund mit Filetstücken füttern, aber das wird das Tier wahrscheinlich nicht freundlicher machen.
Es war ihm egal.
Als der Fahrradweg gerader wurde, war seine Sicht freier und er erhaschte den ersten flüchtigen Blick auf die Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, die als Boathouse Row bekannt waren. Sie waren aus Stein erbaut mit Zedernholzverkleidung, daher sahen sie eher wie große Häuser aus jener Zeitperiode aus als sonst etwas. Dunst stieg aus dem Schnee am Boden auf. Alle zehn Gebäude lagen direkt am Fluss und waren in einen leichten Nebel gehüllt, der an den Dachtraufen hängen blieb. Als die Nachmittagssonne hinter einer Wolke hervorkam und die feuchte Luft mit warmen Lichtstrahlen erfüllte, kam Teddy nicht umhin zu denken, dass ihm die Bootsklubs nie friedlicher oder majestätischer erschienen waren.
Er erblickte den Nautilus vor sich und spähte zwischen den Gebäuden hindurch, während er weiter den Weg hinunterging. Es sah so aus, als ob der Fluss vor dem plötzlichen Frost der letzten Woche über den Rand der Rückhaltemauer gestiegen wäre. Bis zum Frühling lag der Ruderkurs unter dem Eis verborgen.
Teddy blieb vor dem Klub stehen und sah auf die Uhr. Er war zehn Minuten zu früh. Er griff in seine Tasche, zündete sich eine Zigarette an und sah, wie ein Schneepflug sich einen Weg die Straße hinauf bahnte. Einen Meter hohe, zusammengeschobene Schneehaufen füllten die Parkplätze an der Seite aus. Falls Dawn Bingle nach einem Parkplatz suchte, hätte sie auch nicht mehr Glück als er und würde bis zum Kunstmuseum keinen finden.
Er blickte den Weg hoch und bemerkte eine Frau, die auf ihn zukam. Sie war in einen langen Wollmantel und einen Schal gehüllt. Über ihr rotes Haar hatte sie eine marineblaue Baskenmütze gezogen. Wie Teddy an ihrem Gesicht erkennen konnte, schien sie ungefähr das richtige Alter zu haben. Als sie aber den Nautilus erreichte, ging sie ohne ein Wort zu sagen und ohne ihn anzuschauen an ihm vorbei.
Teddy beobachtete die Frau, bis er sie hinter den Bäumen an der Biegung aus den Augen verlor. Ihm wurde langsam kalt und er dachte, dass er drinnen auf Dawn Bingle warten könnte. Obwohl die Bootssaison gewöhnlich mit der Frostbite Regatta Mitte November endete, wusste er, dass die Klubs den ganzen Winter mehr oder weniger geöffnet waren. Oben gab es Rudermaschinen, Räume fürs Hanteltraining sowie Versammlungsräume und wahrscheinlich eine Küche, in der er eine heiße Tasse Kaffee bekommen konnte.
Er schnippte seine Zigarette in den Schnee, ging den Gehweg hinunter, öffnete das eiserne Tor und überquerte eine kleine Terrasse bis zur Eingangstür. An der Innenseite des Glases hing eine Notiz. Sie war für eine Installationsfirma hinterlassen worden und besagte, dass eine Schlüsselkarte am üblichen Platz deponiert war, falls sie nach der Öffnungszeit Zugang zum Gebäude haben mussten. Teddy vermutete, dass die Dienste des Installateurs benötigt wurden, weil der Fluss über die Rückhaltemauer getreten war. Überschwemmungen kamen für die Bootsklubs in dieser Lage immer wieder vor.
Er drückte die Tür auf, klopfte den Schnee von den Schuhen, streifte sie auf der Matte ab und trat in den Eingang. Die Luft im Innern des Klubs war feucht, der nasskalte Duft des Flusses, der in den Wänden hing, war überwältigend. Während er seinen Mantel aufknöpfte, sah er sich die ausgestellten Bilder an. Der Nautilus Ruderklub war 1854 gegründet worden. Viele Fotos des Klubs und verschiedener Regatten gingen bis auf den Bürgerkrieg zurück. Auf dem Tisch neben einer Lampe sah er einen leeren Umschlag, der zerknüllt neben einer Schlüsselkarte lag. Als er das schwache Geräusch einer Pumpe wahrnahm, die im Hintergrund arbeitete, vermutete er, dass der Installateur bereits da sei.
Er stieg ein paar Stufen hoch und folgte dem Geräusch der Pumpe um die Ecke, bis er vor dem Eingang zum Keller des Gebäudes stand. Die Lichter waren aus und er fragte sich, ob überhaupt jemand hier war. Als sich seine Augen an das trübe Licht, das durch das Fenster drang, angepasst hatten, konnte er in Ständern die Rennruderboote von der Decke herunterhängen sehen. Er rief, aber niemand antwortete.
Er betrat den Raum und schaute an den Booten vorbei zu den vier Schiebetoren, die in die hintere Wand eingelassen waren. Die Tore, die ihm am nächsten waren, waren um ein Viertel in die Wand eingeschoben und standen zum Fluss hin offen. Es sah aus, als ob das Wasser schon halb in den Raum eingedrungen wäre. Mehrere Schläuche gingen unter dem Eis hinaus und pumpten das Wasser aus dem Gebäude so schnell wieder hinaus, wie es hereinkam. Der Wassertümpel auf dem Eis schien beträchtlich und Teddy vermutete, dass der Installateur die Pumpen irgendwann in der Nacht aufgestellt haben musste.
Er sah wieder auf seine Uhr. Dawn Bingle war zu spät. Er ging zum vorderen Fenster und spähte durch die Scheibe nach draußen. Niemand war auf dem Fahrradweg und der Verkehr auf dem Kelly Drive war ungewöhnlich schwach.
Er zog sein Handy heraus, öffnete es und tippte die Nummer der Frau ein. Er ließ es acht Mal klingeln, sie ging nicht ran. Als er das Handy wieder in seine Tasche schob beschloss er, dass er ihr noch fünfzehn Minuten geben würde, bevor er anfing sich Sorgen zu machen. Die Straßen waren schlecht, die Temperatur fiel – sie konnte leicht im Verkehr feststecken.
Plötzlich hörte er ein Knacken und drehte sich um. Er durchquerte den Raum und beäugte die Boote, bis er zum Rand kam, wo der Fluss bis zum Boden reichte. Es war nicht das Wasser, das dem Gebäude zusetzte: es war das Eis, das in die unteren Paneele der Tore zum Fluss drückte. Er konnte hören, wie das Holz splitterte und aufbrach. Es sah aus, als ob ein Baum, der im Eis fest hing, sich durch die Tore am hinteren Ende gedrückt hätte. Wasser sprudelte durch das Loch und ergoss sich über den Stamm in den Raum.
Er schaute auf die Wurzeln und versuchte sich zu konzentrieren. Er wünschte, er könnte den Lichtschalter finden, denn etwas an diesem Bild stimmte nicht. Einen Augenblick später spürte er, wie das Adrenalin heiß durch seine Brust schoss und hörte sich keuchen. In den Wurzeln des Baumes hing der Arm von jemandem!
Teddy rannte ins Wasser und stürmte durch den Raum. Die Tore waren in der Mitte verriegelt. Er öffnete hektisch das Schloss, packte einen der Torflügel und schob ihn mit einem Ruck in die Wand zurück.
Ihr Körper war nackt, nur ein schwarzes Bustier klebte um ihre Rippen. Sie lag ausgestreckt auf der Rampe unter einem halben Meter Wasser, ihr blondes Haar war von einer dünnen Schicht von trübem Eis und verfärbtem Schnee überzogen. Teddy trat die Kruste mit seinem Absatz durch und packte sie an den Schultern. Mit aller Gewalt zog er ihren Körper durch das Eis und in seine Arme. Während er nach drinnen hetzte, schüttelte er sie, als ob er sie irgendwie wieder zum Leben erwecken könnte. Auf dem trockenen Beton legte er sie auf den Rücken und bekam fast keine Luft mehr.
Ein Seil war um ihre Knöchel gebunden, das lose Ende war ausgefranst. Ihre blasse, graue Haut war extrem runzelig und übersät mit dunklen Flecken. Und sie war mitten durch die Brust aufgeschnitten. Er hob das Bustier an und folgte dem Verlauf der Wunde bis nach unten. Er wusste, dass sie mit einem Messer aufgeschlitzt worden war. Er sah auf ihr geschwollenes Gesicht. Ihre Augen waren offen, aber fehlten. Das war der Moment, als er schrie.