DREIUNDDREISSIG

Er eilte aus dem Polizeigebäude, das sich im Museumsbezirk befand, hetzte zu seinem Auto und tippte Carolyn Powells Nummer in sein Handy. Als ihre Assistentin sich weigerte ihn durchzustellen, war Teddy klar, dass Powell immer noch wütend auf ihn war. Er sagte der Assistentin, dass er nochmals einen Blick in Lewis’ Haus in Chestnut Hill werfen wollte, erwartete aber, dass Powell es schwierig für ihn machen würde. Als ihre Assistentin wieder in der Leitung war, sagte sie, eine Begleitperson würde ihn in einer Stunde mit den Schlüsseln beim Haus erwarten. Sein vertrauter Begleiter. Michael Jackson. Vielleicht jener Mann, der ihn bewusstlos geschlagen hatte.

Teddy steckte das Telefon in seine Tasche und war etwas überrascht, dass es so einfach war. Er tat es mit einem Achselzucken ab, fuhr zur Ecke hinunter, kam auf die Schnellstraße und machte sich auf den Weg, sich nochmals das Todeshaus in Chestnut Hill anzusehen.

Er hatte nichts erreicht bei dem Detective, der mit Rosemary Gibbs Verschwinden betraut war. Vielleicht nichts. Obwohl Detective Ferarro ihm keine Kopie der Vermisstenanzeige zeigen wollte, mit der Behauptung, sie sei vertraulich, schien er doch bereitwillig alle Fragen zu beantworten. Ursprünglich war Rosemary Gibb aus Baltimore und erst vor einem Jahr in die Stadt gezogen. Sie war Studentin an der Drexel University, hatte nicht viele Freunde und rief regelmäßig zu Hause an, um sich zu melden. Ihre Mutter hatte die Zeitungen gelesen und wusste vom Mord an Darlene Lewis. Als sie ihre Tochter nicht erreichen konnte, wurde sie panisch und rief die Polizei an. Detective Ferarro schien ein besonderes Interesse daran zu haben, Rosemary zu finden, vielleicht, weil Valerie Kramps Leiche gerade gefunden worden war. Rosemary wohnte innerhalb einer Meile der Boathouse Row und nur vier Blocks von Ferarros Büro entfernt. Eine Durchsuchung ihres Apartments enthüllte nichts Außergewöhnliches. – Außer ihrem Bild. Die Ähnlichkeit. Ferarro gab Teddy gegenüber zu, dass ihm die Ähnlichkeit zwischen Rosemary, Valerie Kramp und zehn anderen jungen Frauen, die er das letzte Jahr über zu finden versucht hatte, auffiel. Er verstärkte seine Untersuchung. Mithilfe eines Partners und zehn Polizisten in Uniform durchkämmten sie die Nachbarschaft. Da die Universitäten Drexel und Penn nebeneinanderlagen, durchsuchten sie beide Gelände mit Hilfe von Freiwilligen der Polizeiakademie. Letztendlich hatten sie ihre Suche auf einen Fitnessklub direkt an der Walnut Street in der Stadtmitte eingegrenzt. Eine Studienkollegin, auch eine junge Frau, die im Fitnessraum trainierte, erinnerte sich daran, Rosemary an diesem Abend auf dem Stepper gesehen zu haben. Sie fragten in jedem Geschäft um den Klub herum nach, einschließlich im Café, das direkt auf der Straße gegenüberlag, aber es kam nichts dabei heraus. Rosemarys Studienkollegin war die letzte Person die sich daran erinnerte sie gesehen zu haben, bevor sie verschwand. Am folgenden Tag hatte Ferarro gleich eine Vorwarnung bezüglich der DNA-Ergebnisse bekommen, die Holmes mit den Morden an Darlene Lewis und Valerie Kramp in Verbindung brachten. Die Detectives Vega und Ellwood wollten seine Akten und alle verwandten Fälle, die auf die Zeit vor Holmes’ Verhaftung fielen. Das ließ Rosemary außen vor, wie Nash erwartet hatte. Ferarro suchte nach ihr genauso wie er nach dreißig weiteren Personen aus allen Gesellschaftsschichten suchte. Aber er hatte keine weiteren Hinweise und Teddy wusste, dass Rosemary damit quasi in der Luft hing.

Teddy fuhr rechts in die Scottsboro Road ein, sah keine Autos oder Nachrichtenwagen vor Lewis’ Haus und hielt am Straßenrand an. Er zog den Deckel eines Kaffees zum Mitnehmen ab, nahm einen Schluck und zündete sich seine zweite Zigarette des Tages an, während er auf seine Begleitung wartete. Als eine Nachbarin in einem Lincoln Navigator vorbeifuhr, eine Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Rücksitz, fing er den Ausdruck von Furcht und Misstrauen in ihren Augen auf. Der Mord an Darlene Lewis – dieses ominöse Gefühl des Todes – durchdrang mehr als nur das Haus der Lewis’: Es war jetzt Teil der Nachbarschaft.

Teddy wandte sich wieder dem Haus zu. Er war nicht am Esszimmer oder an der Installation interessiert. Vor drei Tagen war er durch das Haus gegangen und hatte gedacht, Holmes sei auf frischer Tat ertappt worden. Er wollte ein Gefühl für das Haus bekommen, ohne den ganzen Ballast. Er wollte eine neue, eine klare Sicht auf den Tatort.

Ein Auto hupte. Teddy sah den DeVille vorbeifahren und kurz vor ihm anhalten. Michael Jackson stieg aus, nicht der Tänzer, sondern der Detective mit müden Beinen und einer alten Waffe, der schon von Anfang an mit Staatsanwalt Andrews arbeitete. Er hatte einen Manila-Umschlag in den Händen. Als er sich näherte, versuchte sich Teddy an die Gestalt zu erinnern, die im Dunkeln stand und ihm über den Kopf geschlagen hatte. Seine Erinnerung war nicht klar genug, um einen Vergleich zu ziehen, aber Jackson hatte ein breites Lächeln aufgesetzt und Teddy fragte sich, ob der Detective der Täter war und gerade überkompensierte.

»Ich bringe Geschenke mit«, sagte Jackson, wobei ihm eine Zigarette aus dem Mund hing. »Wie der Weihnachtsmann.«

Teddy nahm den Umschlag, riss ihn auf und spähte hinein. Fotografien des Tatortes und der Autopsie.

»Sie führen ein Album, stimmt’s?«, sagte Jackson. »Eine Mordakte? Powell bat mich, Ihnen das zu geben. Sie sagte, sie wolle Sie auf dem Laufenden halten.«

»Hat sie sonst noch etwas gesagt?«

»Jawohl, Junge. Man könne Ihnen nicht vertrauen. Ich soll dicht an Ihnen dranbleiben.«

Teddy warf den Umschlag auf den Vordersitz und sie gingen ins Haus. Als Jackson die Schlüssel herauszog, warf Teddy einen Blick auf den Briefkasten an der Wand, dann wandte er sich wieder der Tür zu. Der Vorhang auf der anderen Seite des Glases war undurchsichtig. Er hörte das Klicken des Schlosses und sah, wie Jackson die Tür aufschwang.

»Warten Sie einen Moment«, sagte Teddy, bevor der Detective hineinging. »Ich will zuerst etwas sehen.«

»Was wollen Sie denn sehen, Junge?«

»Stellen Sie sich einen Moment hier draußen hin.« Teddy ging hinein und wollte gerade die Tür zumachen.

»Hey, hey, hey!«, rief Jackson. »Sie haben gehört, was die Lady sagte. Wir sollen zusammenbleiben.«

»Ich gehe nirgendwo hin. Ich will nur durch den Vorhang schauen.«

»Okay, aber keine Tricks. Ich mag keine Tricks, Junge. Das mochte ich noch nie.«

Teddy schloss die Tür, trat einen Schritt zurück und sah durch den Vorhang. Er konnte Jacksons Gestalt sehen, aber jegliche Details waren durch den Stoff verborgen. Darlene Lewis könnte die Tür für den Mörder geöffnet haben, im Glauben, es wäre jemand anders. Sie könnte den Mann hereingelassen haben.

»Sie machen mich fertig, Junge«, bellte der Detective durch die Tür. »Haben Sie es jetzt gesehen, oder was?«

Teddy öffnete die Tür. Jackson sah ihn böse an und trat ein.

Die nächste Stunde lief genauso ab wie in Holmes’ Apartment. Teddy ging durch die Zimmer und Jackson verzichtete darauf zu rauchen, da die Bewohner des Hauses – im Gegensatz zu Holmes – wiederkommen würden. Der Verzicht machte ihm wohl etwas zu schaffen, aber er ließ Teddy dennoch für keine noch so kurze Zigarettenpause vor der Tür aus den Augen.

Als er nach draußen ging, um sich den Pool und den hinteren Garten anzusehen, fiel Teddy das Bierfässchen auf. Er ging hinüber und rüttelte im Schnee daran. Zu seiner Überraschung war das Fässchen nicht leer, sondern voll. Darlene Lewis hatte vor ihrem Tod eine Party geplant.

Teddy ging zurück ins Esszimmer. Der Ort war noch nicht gereinigt worden. Er besah sich die Blutspritzer an den Wänden, während er durch das Zimmer in Richtung Treppe ging. Es beunruhigte ihn immer noch, aber nicht so wie zuvor. Er konnte Jackson hinter sich im Flur hören, der versuchte, in seiner Nähe zu bleiben, ihm aber auch nicht im Weg sein wollte. Teddy ging ins Schlafzimmer des Mädchens und hielt inne. Seine Augen wanderten direkt zum Computer. Ihm fiel ein Foto auf dem Tisch auf; Darlene mit jemandem, der vermutlich ihr Freund war. Er schaltete den Computer ein. Als das Gerät hochfuhr, hörte er die Worte: Sie haben Post.

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Teddy sah ihn mit hängendem Kopf aus der Bibliothek kommen. Langes, braunes Haar, mittlere Größe, mit einem Rucksack über die Schulter geworfen und dünn wie eine Bohnenstange. Teddy schaute auf den Schnappschuss, den er aus Darlene Lewis Zimmer mitgenommen hatte, als Jackson gerade damit beschäftigt, wegen einer Fehlzündung auf der Straße abgelenkt war. Das war er: Der Junge, der aus der Bibliothek kam, war Russell Moss – Darlene Lewis’ Klassenkamerad an der Friends School und der Freund, der ihr die E-Mail geschickt hatte.

Er schob das Foto in sein Handschuhfach und beobachtete, wie Moss ziellos vom Gebäude weglief. Der Campus machte den Eindruck eines kleinen Colleges und Teddy vermutete, dass der Unterricht in der Privatschule auch dieses Niveau hatte.

Als Moss den Gehsteig erreichte und auf die Germantown Avenue zulief, stieg Teddy aus dem Wagen und trat an ihn heran.

Moss sah vom Boden hoch. Teddys Anzug irritierte ihn ein wenig, aber Moss war achtzehn und der Altersunterschied nicht so groß.

»Ich muss mit dir sprechen, Russell.«

»Worüber?«

»Darlene Lewis.«

Der Blick des Jungen heftete sich auf den Boden. »Wer sind Sie?«

»Ein Rechtsanwalt. Jemand, der versucht zu helfen.«

Der Junge war nervös, verlagerte das Gewicht und rückte seinen Bücherrucksack über seiner linken Schulter zurecht, dann wechselte er ihn auf die rechte. »Ich werde meinen Bus verpassen«, sagte er.

»Deine Freundin ist tot und du machst dir Sorgen den Bus zu erreichen?«

Der Junge sah ihm in die Augen. Seine Nervosität kam nicht von Furcht, sondern von Traurigkeit. Vielleicht gab er sich sogar ein wenig selber die Schuld. »Fahren Sie mich nach Hause«, sagte er. »Was Sie wollen, befindet sich dort.«

Sie stiegen ins Auto und machten die kurze Fahrt zum Haus des Teenagers. Russell Moss war ein Schlüsselkind. Wenn er von der Schule nach Hause kam, war niemand da. Das bescheidene Haus stand auf einem stark bewaldeten Grund von zweitausend Quadratmetern, drei Blocks südlich der Germantown Avenue, eine Meile oder so westlich der Schule. Als sie im Haus waren, bemerkte Teddy die frisch bemalten Wände, die polierten Hartholz-Böden, die gemütliche Einrichtung. Er warf einen Blick auf die Bücherschränke in einem kleinen Zimmer bei der Treppe, als sie zum Zimmer des Jungen hochgingen. Moss kam aus einer Familie von Lesern.

»Was machen deine Eltern?«, wollte Teddy wissen.

»Mein Vater ist Rechtsanwalt und hätte wahrscheinlich einen Scheißanfall, wenn er wüsste, dass Sie hier sind. Meine Mutter lehrt an der Temple University

Sie betraten das Zimmer. Der Junge räumte einen Joystick von seinem Schreibtisch und machte den Computer an.

Als das Gerät hochgefahren war, ging er ins Internet und klickte auf ein Bookmark. »Ich hätte es Ihnen in der Schule nicht zeigen können«, sagte Moss. »Aber hier kann ich es Ihnen zeigen.«

Teddy beugte sich über die Schulter des Jungen, um es besser sehen zu können. Er sah ein Bild von Darlene Lewis, nahm das schläfrige Lächeln wahr und sah auf ihren Körper: Es war eine Pornoseite – sie hatte keine Kleider an.

»Wir haben die Seite zusammen aufgebaut«, sagte Moss. »Ich hätte nicht gedacht, dass etwas passieren würde, aber dann war es doch so.« Moss verließ seinen Sessel, ging zum Bett und setzte sich vors Fenster.

Teddy nahm die Maus und klickte sich durch die Bilder. Darlene Lewis in BH und Slip posierend, auf den Knien, die Brüste mit den Händen bedeckend, auf dem Rücken mit gespreizten Beinen. Die Aufnahmen waren primitiv und ließen nicht viel Raum für Fantasie.

»Sie hat ihre Brüste vergrößern lassen«, sagte der Junge. »Sie liebte es, sie herzuzeigen.«

Teddy hörte nicht wirklich zu. Er war zu sehr damit beschäftigt, durch die Bilder zu klicken. Gegen Ende kamen die harten Sachen. Darlene holte einem Kerl ohne Gesicht einen runter, blies ihm dann einen und vögelte ihn.

Moss sah zum Monitor und schien zu schrumpfen.

Es gab fünfzig Vorschaubilder und Teddy klickte jedes einzelne an. Er konnte spüren, wie das Herz in seiner Brust klopfte. »Sind die echt?«, fragte er den Jungen.

»Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass sie ihre Brüste vergrößern ließ.«

»Ich meine nicht ihre Titten«, sagte er. »Die Tattoos. Man sieht sie auf jedem Bild. Sind die echt?«

Der Junge nickte, verwirrt durch Teddys Heftigkeit.

Teddy blätterte zu den ersten Fotos von Darlene zurück und vergrößerte eine Aufnahme, wo das Mädchen auf einer Couch mit gespreizten Beinen masturbierte. Der laszive Ausdruck in ihren Augen und das träge Lächeln auf ihrem Gesicht waren unvergesslich, die Pose umso verstörender, denn sie brachte die Erinnerungen daran zurück, wie Darlene tot auf dem Esszimmertisch lag und wie er ihre Leiche auf der Rollbahre im Leichenschauhaus liegen sah.

Teddy zuckte zusammen, als er ihren nackten Körper studierte. Die Tattoos waren auf ihrer Wade, direkt über der Vagina und auf der Unterseite ihrer aufgeblasenen Brüste. Er versuchte gelassen zu bleiben. Versuchte nicht darüber nachzudenken, warum ein Mädchen, das aus einer vermögenden Familie kam, so etwas tat. Das hatte alles mit dem Mord zu tun, sagte er sich. Der Mann, der Darlene Lewis ermordete, hatte ihre Haut weggeschnitten. Aber seine Annäherung war nicht zufällig. Die Tat wurde mit Absicht begangen. Aus einem entsetzlichen Grund.