FÜNF
Teddy fuhr bei offenen Fenstern und ausgeschalteter Heizung in die Stadt zurück. Die digitale Temperaturanzeige auf dem Armaturenbrett attestierte der Nachtluft knackige zwei Grad. Es mochte kalt sein, aber Teddy konnte es nicht fühlen.
Er fand einen freien Platz in der Garage von One Liberty Place, schaltete die Zündung aus und blieb einen Moment sitzen, um durch die Windschutzscheibe auf die Betonwand zu blicken. Er horchte auf die Stille, die Ruhe, das Geräusch seiner Atmung.
Nach einer Weile warf er einen Blick auf seine Uhr. Es war nach sieben und er dachte, er werde das Abendessen heute ausfallen lassen. Er war benommen, aber auch wütend.
Das war mehr als ein Gefallen für Barnett. Mehr als eine Scheißpflicht.
Teddy prüfte sein Handy und merkte, dass es tot war. Er durchwühlte seine Aktentasche, fand einen frischen Akku und legte ihn ein. Als er seine Nachrichten abrief, gab es nur zwei.
Die erste war von Jill Sykes, seiner Freundin in der Kanzlei, die ihn bezüglich Brooke Jones’ Gerichtstermin am Nachmittag auf dem Laufenden hielt. Richter Brey war durch Teddys Abwesenheit enttäuscht, aber es sah so aus, dass die Entscheidung positiv für sie ausfiel. Capital Insurance Life hatte sich jedoch noch nicht zu einem Vergleich entschlossen, wahrscheinlich durch den Wechsel der Rechtsanwälte. Der Fall sollte in zwei Wochen vor Gericht kommen. Zumindest nach dem jetzigen Stand.
Die zweite Nachricht war von Jim Barnett, eine Stunde alt. Barnett war auf dem Heimweg und wiederholte, dass sie sich später am Abend noch unterhalten und gleich am Morgen treffen sollten. Barnett musste irgendwann mit dem Staatsanwalt gesprochen haben, denn er stimmte zu, dass Teddy Holmes ins Gefängnis folgen sollte, aber nicht aus denselben Gründen, die Staatsanwalt Andrews genannt hatte. Anscheinend kooperierte Holmes nicht mit Barnett. Anstatt über eine mögliche Verfahrensabsprache mit Andrews zu verhandeln, was auch die Möglichkeit beinhaltete, die Todesstrafe zu umgehen, wollte Oscar Holmes auf nicht schuldig plädieren und seine Chancen vor Gericht wahrnehmen. Barnett sagte, er wolle, dass Teddy Holmes am Abend noch träfe und versuchen solle, ihm ins Gewissen zu reden …
Teddy schaltete das Handy aus und schob es in seine Tasche. Er wusste, wenn er Barnett jetzt sofort zurückrief und seine Meinung sagte, wäre er gefeuert. »Rede ihm ins Gewissen«, sagte er laut. »In welcher Sprache?«
Teddy schüttelte das ab und stieg mit seiner Aktentasche aus dem Auto. Er nahm den Aufzug bis zur Straßenebene hoch, trat dann hinaus und ging Richtung Wawa-Minimarkt, der sich einen Block in südlicher Richtung befand.
Als er durch die frische Luft ging, dachte er über Barnetts Nachricht nach und wie lächerlich sie klang. Es bestand nicht die geringste Aussicht, dass Staatsanwalt Alan Andrews sich bei diesem Fall auf einen Deal einlassen würde. Andrews hatte an diesem Morgen von der Presse kräftig Prügel einstecken müssen. Jemand, den er wegen Mordes angeklagt hatte und der später durch die Todesspritze starb, hatte sich als unschuldig erwiesen. Der Fall Holmes würde wieder reinen Tisch machen. Dieses Verbrechen war schrecklich genug, um die Schlagzeilen zu ändern – und Alan Andrews brauchte eine neue Reihe von Schlagzeilen. So groß und dick, wie es nur ging, und so lange, wie er sie aufrechterhalten konnte.
Teddy betrat den Supermarkt und goss sich eine große Tasse Kaffee ein. An der Kasse zögerte er einen Augenblick, bevor er sich eine Packung Zigaretten kaufte. Dann ging er hinaus in Richtung Criminal Justice Center, dem Gerichtsgebäude an der Ecke Dreizehnte und Filbert, mit einer Packung Marlboros in seiner Tasche.
Das Hochhaus war ziemlich neu und in der Vergangenheit hatte es Teddy architektonisch immer beeindruckend gefunden. Es sah nicht wie ein typisches Regierungsgebäude aus und hatte auch nicht diese Atmosphäre. Stattdessen besaß es eine gewisse Eleganz, fast so, als ob es das Aushängeschild einer großen Firma oder sogar eines Viersternehotels wäre. Da Zivilfälle ins Rathaus verwiesen wurden, hatte Teddy keine Gelegenheit, viel Zeit in dem Gebäude zu verbringen. Dennoch wusste er, dass vorläufige Anklageerhebungen in einem Hightech-Gerichtssaal irgendwo im unteren Bereich abgehalten wurden.
Er verzichtete an diesem Abend auf die Aussicht, durchquerte die Eingangshalle und trat an einen Schalter auf der anderen Seite der Rezeption. Ein alter Mann in Uniform saß auf einem Hocker und gab Tickets für Handys aus, als ob er Hüte oder Mäntel in einem Nachtklub zur Aufbewahrung entgegennehmen würde. Hinter ihm gab es Hunderte von nummerierten Fächern, in denen die jeweiligen Handys verwahrt wurden. Der Mann schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln, nahm Teddys Handy und gab ihm einen Aufbewahrungsschein mit der Nummer 407. Teddy warf einen Blick auf die Nummer und steckte sie dann auf dem Weg um die Ecke zu den Metalldetektoren und Durchleuchtungsgeräten in seine Tasche. Als er die Sicherheitskontrollen passiert hatte, sammelte er seine Sachen ein und folgte den Schildern das breite Treppenhaus hinunter. Er war überrascht, dass man seinen Kaffee nicht bemerkt hatte und war dafür mehr als dankbar.
Vorläufige Anklageerhebungen wurden vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche durchgeführt und nur für einen Schichtwechsel der Richter unterbrochen oder wenn eine Pause notwendig war. Das Gericht arbeitete wie ein Feinkostgeschäft. Man nahm sich eine Nummer und wartete, bis man an der Reihe war. Teddy vermutete, dass es eine Weile dauerte, bis Holmes’ Nummer erschien, aber es machte ihm nichts aus. Er wollte die Fälle beobachten, die vor ihrem dran waren, während er sich überlegte, was er tun sollte. Nicht im rechtlichen Sinn. Er wusste, dass eine vorläufige Anklageerhebung nicht viel mehr als eine Formalität war, besonders in einem Mordfall, weil sich dort die Frage nach einer Kaution nicht stellte. Teddys Sorgen waren verfahrenstechnischer Natur. Außerdem war er immer noch durcheinander, immer noch völlig erschüttert und er brauchte Zeit, um sich zu beruhigen.
Der Gerichtssaal lag direkt den Gang hinunter. Teddy trat ein und setzte sich auf eine Bank in der hinteren Reihe. Aber er saß nicht direkt im Gerichtssaal. Es war eher ein Beobachtungsraum, der ganz von Glas umhüllt war. Lautsprecher befanden sich in den Wänden, damit die Öffentlichkeit das Verfahren verfolgen konnte. Teddy hatte über diesen Gerichtssaal in der Zeitung gelesen, als das Gebäude damals eröffnet wurde. Es gab zwei Tische für die Rechtsanwälte und die Richterbank, alles war mit Freisprechanlagen ausgestattet. Neben dem Richter befand sich ein Podium für den Zeugenstand und ein 36-Zoll-Bildschirm ersetzte den Angeklagten. Das ganze Verfahren fand via TV-Kamera über eine Telefonkonferenzschaltung statt. Die Angeklagten sprachen aus einem Haftraum im Untergeschoss der Kerkertürme, sichere fünf Blocks entfernt – die Zelle war ebenfalls mit einer Kamera und einem Telefon ausgestattet. Wirtschaftliche Belange und Sicherheitsprobleme, die mit dem Transport von Gefangenen einhergingen, waren für die Steuerzahler kein relevantes Thema mehr.
Teddy blickte sich um und bemerkte, dass er der Einzige im Beobachtungsraum war. Er schaute durch die Glasscheibe und sah, wie der Richter mit einem Angeklagten sprach. Er hörte ihre Konversation über die Lautsprecher. Während der Richter sich auf die Freisprechanlage verließ, bemerkte er, dass die Anwälte ihre Hörer ans Ohr hielten. Der Prozess schien unkompliziert zu sein. Als der Ankläger anfing, zum Richter zu sprechen, öffnete Teddy seinen Kaffeebecher, beugte sich nach unten, damit er von der Bank aus nicht gesehen wurde, und nahm kleine Schlucke durch den Dampf. Er versuchte, die Erinnerung an den Anblick Darlene Lewis’ verstümmelten Körper, der an den Esstisch gebunden war, zu unterdrücken, schaffte es aber nicht. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ermordet wurde, war in sein Gedächtnis eingebrannt. Und der Schock wandelte sich allmählich in Furcht. Irgendwann heute Abend würde er Oscar Holmes ohne die Hilfe oder die Distanz eines Bildschirmes begegnen müssen. Er musste persönlich mit ihm sprechen. Vielleicht musste er dem Wahnsinnigen sogar die Hand schütteln.
Jemand betrat hinter seinem Rücken den Raum und er wandte sich um. Es war die stellvertretende Staatsanwältin Carolyn Powell. »Sie haben uns vorgezogen«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Wenn der Richter keine Pause macht, sind wir die Nächsten. Andrews will, dass Holmes so schnell wie möglich aus den Kerkertürmen in eine Zelle verbracht wird, zu seiner und aller Sicherheit.«
»Wo bringen sie ihn hin?«
»Curran-Fromhold«, sagte sie. »Die wissen, dass Sie kommen. Alles ist arrangiert.«
Teddy nickte. »Wurde das Haus freigegeben?«
»Der Leichnam ist draußen, aber Vega meint, wir sollten den Ort versiegelt lassen. Ich stimme dem zu. Es gibt vielleicht einen Grund, nochmals zurückzugehen, wenn die Laborergebnisse da sind.«
»Was ist mit der Familie?«, wollte Teddy wissen.
»Sie sind nicht in der Verfassung, ihre Feiertage im Haus in Chestnut Hill zu verbringen. Außerdem werden sich die Beisetzungsvorbereitungen wegen der Autopsie verzögern. Nachdem sie die Leiche identifiziert haben, fahren sie wieder in die Berge zurück. Es ist nur etwa eine Stunde Fahrt entfernt.«
Die Anwälte im Gerichtsaal hinter der Glasscheibe erhoben sich.
»Kommen Sie«, sagte Powell und winkte ihn zur Tür. »Der Eingang ist am anderen Ende des Flurs.«
Teddy stürzte hastig den letzten Rest seines Kaffees hinunter, warf den leeren Becher in den Mülleimer und folgte ihr aus dem Raum.
Als er sich an den Tisch im Gerichtsaal setzte, hatte ihn der Koffeinschock des heißen Kaffees wachgerüttelt. Richter Vandergast erklärte, wie man die Telefone benutzte. Teddy nahm seinen Hörer auf, drückte wie angewiesen den entsprechenden Knopf und drehte sich zum Bildschirm. Die Kamera im Haftraum war auf einen leeren Stahlstuhl gerichtet. Über das Telefon konnte Teddy das Geräusch von rasselnden Ketten im Hintergrund hören. Es wurde lauter und kam näher. Dann kamen die Rücken von zwei Polizisten in Uniform ins Bild, die der Aufnahme im Weg standen, während sie den Gefangenen an den Stuhl fesselten. Nach einer Weile verschwanden die Polizisten aus dem Bild und jeder im Gericht konnte den ersten Blick auf Oscar Holmes werfen.
Das Licht war schlecht, aber Teddy konnte sehen, wie sich der vierzigjährige Mann im Stuhl wand und an den Handschellen und Fußfesseln zog. Oscar Holmes war ein Riese – zwei Meter groß, hundertdreißig Kilo schwer. Sein Körper war schlaff und rund, sein kurz geschorenes Haar war von einem stumpfen Braun. Die Ringe unter seinen Augen schienen tiefschwarz, seine Haut war so unnatürlich blass, wie es Teddy noch nie gesehen hatte. Wie auch immer der Standard sein mochte, Holmes war in jedem Fall ein seltsam aussehender Mann. Ein Nachtmensch wie aus dem Bilderbuch. Jener Typ Mensch, der versucht, seine Gelüste geheim zu halten, und zu viel Zeit damit verbringt, im Dunkeln Löcher auszuheben, um sie zu vergraben.
Jemand in der Zelle sagte zu Holmes, er solle sich setzen und gab ihm ein Telefon. Die Fesseln waren zu eng, sodass er den Hörer nicht bis ans Ohr führen konnte. Deshalb beugte sich der große Mann nach vorne. Dabei blockierte seine Stirn das Licht der Kamera und seine farblosen Augen verschwanden in einem tiefen Schatten. Die Wirkung war erschreckend.
Richter Vandergast blinzelte nicht einmal mit den Augen, als er Holmes erklärte, was heute Abend vollzogen werden würde, und fragte den Mann, ob er die Regeln verstand.
Holmes nickte und stöhnte, wobei er wieder an den Ketten zog.
Dann wandte sich der Richter an Powell. Die Anklage wurde verlesen. Holmes war vorgeladen wegen Folter und Mord an Darlene Lewis, achtzehn Jahre alt, aus Chestnut Hill. Obwohl die Details der Verhaftung und des Tatortes größtenteils ausgelassen wurden, damit die entsprechenden Gesetzesvorschriften nüchtern vorgetragen werden konnten, nahm das Grauen schon genügend Gestalt an, um sich einfach durch die Hintertür hereinzuschleichen. Teddy war sogar dankbar, dass das Wort Kannibalismus nicht erwähnt wurde, denn er wusste genau, dass dies nächste Woche in der Voruntersuchung zur Sprache kommen würde. Das wäre der Zeitpunkt, an dem die Staatsanwaltschaft genügend Beweise vorlegen müsste, um den Fall vor Gericht zu bringen. Drei Wochen danach, wenn der Richter zustimmte – und Teddy war sicher, dass er es tat – würde Holmes offiziell vor Gericht gestellt werden.
Richter Vandergast wandte sich wieder dem Bildschirm zu und fragte Holmes nochmals, ob er alles verstanden hatte. Holmes nickte ein zweites Mal. »Ja, ich habe es verstanden«, sagte er, seine Worte klangen durch eine raue Stimme, gemischt mit Hoffnungslosigkeit, undeutlich.
Der Richter machte eine Pause, als ob das Gewicht der Anklage einwirken müsse. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm die Lesebrille ab. Teddy konnte über das Telefon Holmes’ Atem hören und dachte, dass sein Klient vielleicht sogar weinte. Niemand sagte etwas, als der Richter mit einem Taschentuch seine Brille putzte, sie wieder aufsetzte und nach seinem Kalender griff. Das war die Welt, in der Richter Vandergast acht Stunden am Tag lebte.
Teddy versuchte, sich die Anzahl der Fälle auszurechnen, die sich der Mann in einer Woche anhören musste. Es mussten Hunderte sein, bei denen der Richter Gnade und Professionalität im Saal walten ließ, aber froh um die Wochenenden und Feiertage war und um jeden Tag, den er freinehmen konnte.
»Kaution kommt nicht infrage«, sagte der Richter und blätterte durch seinen Kalender. »Wie wär’s mit nächstem Dienstag? Wir setzen die Voruntersuchung auf zehn Uhr vormittags an. Richter Reis wird zur Verfügung stehen. Ich glaube, wir werden ihm diesen Fall übergeben.«
Der Richter wandte sich mit routinierter Ruhe an Teddy. Heute Abend waren sie im Auge des Orkans und kämpften nicht gegen die starken Winde und die aufgewühlte See, die vor ihnen lag. Teddy fragte sich unwillkürlich, was Richter Reis wohl angestellt hatte, um diesen Fall zu verdienen.
»Danke, Euer Ehren«, sagte Teddy, »aber ich hoffte auf einen Aufschub von ein oder zwei Wochen, um die geistige Zurechnungsfähigkeit meines Klienten beurteilen zu können. Unter den gegebenen Umständen scheint das eine relevante Frage zu sein.«
»Das mag sein«, sagte der Richter mit einem Augenzwinkern, »aber heute Abend ist das kein Thema.«
Teddy räusperte sich. »Danke, Euer Ehren.« Er warf einen Blick zu Powell hinüber, da sie dem Termin zugestimmt hatte und jeder notierte ihn sich. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie nicht erwartet hatte, dass Teddy überhaupt etwas sagen würde. Aufgrund der Schwere des Verbrechens und seiner mangelnden Erfahrung schien sie über seinen versuchten Aufschub überrascht zu sein.
Powell erhob sich von ihrem Stuhl, immer noch den Blick auf Teddy gerichtet, als sie ihre Unterlagen einsammelte. Dann schaltete Richter Vandergast den Fernseher ab. Erst als der Bildschirm dunkel war, das Bild von Holmes in der Nacht verschwand und sie sicher waren, erhob sich der Richter von seiner Bank und verkündete, dass er und das Gericht eine kurze Pause von einer halben Stunde einlegen würden.