SECHSUNDDREISSIG
Michael Jackson schaffte es die Stufen zu Holmes’ Penthouse-Apartment im dritten Stock hoch. Als die Husterei aufhörte, zündete er sich noch eine Zigarette an und schloss die Tür auf. Die Jacke war offen und Teddy konnte wieder die Waffe sehen, die am Gürtel des Detectives hing. Er meinte, sie hätte eine Geschichte und fragte sich, ob es nicht eine Waffe zum Verschleiern von Beweisen war. Teddy hatte gelesen, dass einige Polizisten, die linken sowieso, bekannt dafür waren, dass sie zwei Waffen trugen. Die erste Waffe war bei der Abteilung registriert. Die zweite konnte auf niemanden zurückgeführt werden und diente eher schmutzigen Methoden.
Jackson bemerkte Teddys Blick auf die Waffe und lächelte, während er die Tür aufschwang. »Zwei Mal an einem Tag«, sagte er. »Wir müssen aufhören, uns so zu treffen, Junge. Die Leute könnten es missverstehen.«
»Das hier wird nicht lange dauern«, sagte Teddy.
»Ich hoffe nicht. Ich habe schon vor einer halben Stunde Feierabend gemacht. Ich könnte das berechnen, aber es liegt auf dem Weg zu meiner Lieblingskneipe.«
Teddy betrat das Apartment und ging gleich in Holmes’ Atelier. Er wusste, er würde heute Nacht nicht schlafen angesichts der Möglichkeit, dass sie auf der falschen Spur waren. Er musste die Arbeit des Mannes sehen und ein Gefühl dafür bekommen. Er musste wissen, ob Holmes irgendeinen Grund hatte, die menschliche Anatomie in einer psychotischen Fehldeutung von Michelangelos Leichenkammer aus erster Hand zu studieren.
Er schob den Riegel zurück und riss die Tür auf. Als er das Licht angemacht hatte, schlug er die Abdeckung zurück, um einen Blick auf Holmes’ Werk zu werfen. Es war eine Landschaft ohne Leute. Es war aber auch noch nicht fertig.
Er sah sich um und entdeckte die Leinwände, die an der Wand lehnten. Es gab fünf Stapel mit jeweils zehn bis zwölf Gemälden. Teddy ging die Bilder so schnell er konnte durch. Es war schwer, denn er erkannte, dass Holmes’ Talent echt war. Holmes hatte eine Art mit Farben zu spielen, die die Emotionen des Betrachters hervorholte. Ein Berg konnte schwarz sein, der Himmel rot. Es war eine eigene Sichtweise auf die Welt. Eine einzigartige Vision. Es gab eine gewisse Gewalt in der Arbeit, aber das schien Teil von Holmes’ natürlichem Stil zu sein. Und es gab auch Leute, aber sie waren nicht im Detail. Sie sahen wie Schatten aus, Silhouetten – fast, als ob man eine abstrakte Fotografie einer fremden Landschaft mit der Sonne im Rücken machen und den eigenen Schatten über den Vordergrund auf ein Feld von tiefblauem Gras werfen würde.
Die Kunstwerke waren bemerkenswert. Plötzlich fiel ihm ein, dass kein einziges Gemälde von Holmes im Haus seiner Schwester hing. Sally und Jim Barnett hatten Teddy die Restaurierung ihres Hauses bis ins Detail gezeigt und er war durch jedes Zimmer gegangen. Er hätte sich an den Stil erinnert, wenn er ihn zuvor schon gesehen hätte. Als er darüber nachdachte, fielen ihm die Worte wieder ein, die die Barnetts benutzt hatten, um Oscar Holmes zu beschreiben: Eigenartig und anders. Holmes schien sich nie anzupassen und hatte immer seinen eigenen Kopf.
Teddy sah wieder auf die Bilder. Kein Wunder, dass Holmes Probleme mit einer Depression hatte. Er war kein Briefträger, der nebenbei malte. Holmes war ein Künstler, der gezwungen war die Post auszutragen, um seinen Unterhalt zu verdienen. Er war nicht eigenartig, sondern speziell. Während van Gogh seinen Bruder Theo hinter sich hatte, hatte Holmes nur Sally und Jim Barnett. Zwei Leute, die ihm hätten helfen können, es aber nicht verstanden und von der Idee besessen zu sein schienen, ihn anzupassen. Zwei Leute, die am Tag seiner Verhaftung nicht einmal seinen Anruf entgegennahmen. Teddy hatte Mitleid mit ihnen, mit allen Beteiligten, ob Holmes nun der Morde schuldig war oder nicht.
Er schaute hoch und sah Jackson mit einem offenen Flachmann in der Tür stehen.
»Sind wir heute Abend hergekommen, um Malereien anzusehen?«, fragte der Detective.
Teddy erhob sich, den Blick auf dem Flachmann. »Trinken Sie im Dienst, Jackson?«
Der Detective lächelte. »Ich habe schon gesagt, dass ich Feierabend habe. Es war ein langer Tag, Junge. Wollen Sie einen Schluck, oder was?«
Der Flachmann steckte in einer Lederhülle. Innerhalb der Schlaufe war ein Schnapsglas, das den Hals und den Verschluss des Flachmanns abdeckte.
»Nein, danke«, sagte Teddy.
»Ganz wie Sie wollen. Aber ein Schluck oder zwei halten einen warm. Es fühlt sich an, als ob sie hier die Heizung abgedreht hätten. Weil jeder außer Ihnen weiß, dass der Bursche nicht zurückkommt.«
Der Flachmann war nicht aus Sterlingsilber. Teddys Blick wanderte zum Gesicht des Detectives, auf sein Schlimmer-Finger-Lächeln. Er fragte sich, ob Jackson nicht ein Spiel mit ihm trieb, ihn verhöhnte.
Teddy ging zum Arbeitstisch und blätterte schnell einen Stapel von Skizzenbüchern durch. Wenn Jackson der Mann war, der ihm auf den Kopf geschlagen hatte und der Barnett über die Beine gefahren war, dann wüsste er, dass Teddy das Schnapsglas, das er im Schnee fand, gesehen hatte, die großen Schiffe und Wale, die in das Silber eingraviert waren. Jackson war schlau genug, um die Flasche auszutauschen. Die Tatsache, dass er trank und davon sprach, sich in einer kalten Nacht warmzuhalten, machte aber den Eindruck eines Spiels. Irgendeine Art von Warnung ohne Details hing über der Nacht wie Holmes’ Schatten, der über ein Feld in Blau fiel.