DREIZEHN

Diesen Körper würde man nicht unter ein Zelt legen. Man würde den Leichnam nicht in einem Sack mit verdampftem Sekundenkleber einnebeln. Was das Flusswasser nicht vom Körper des Mädchens wegwaschen konnte, hatten die Zeit und die Fischschwärme erledigt…

Teddy stand an die Wand des Bootshauses gelehnt. Die stellvertretende Staatsanwältin Carolyn Powell stand vor ihm, immer noch fassungslos und voller Misstrauen; sie hielt ein Flugblatt mit dem Bild des Opfers in der Hand. Anscheinend war der Name des Mädchens Valerie Kramp und sie war seit Mitte Oktober vermisst worden.

Powell kniff die Augen zusammen und wollte, dass er es wiederholte. Teddy hatte ihr gezeigt, wo er die Leiche gefunden hatte und in den letzten drei Stunden die Geschichte sechs oder sieben Mal erzählt. Jedes Mal, nachdem Powell telefoniert hatte, wollte sie mehr wissen.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte er. »Bis gestern habe ich an einem Schadensfall gearbeitet. Ich hatte eine Verabredung mit jemandem. Ich kam hierher, aber die Frau ist nicht erschienen.«

»Und was?«, schoss Powell zurück. »Sie sind in das Bootshaus marschiert und fanden eine andere Leiche. Valerie Kramps. Einfach so.«

Teddy sah sie an und wusste, dass seine Geschichte absurd klang. »Einfach so«, sagte er.

Drei Meter entfernt und in Hörweite untersuchte der Gerichtsmediziner den Leichnam. »Wir wissen noch nicht, wer das ist«, sagte er.

Powell ignorierte ihn, ihre Augen durchbohrten immer noch Teddy. Jeder im Raum schien zu wissen, wer es war.

»Die Abteilung für vermisste Personen sucht Valerie Kramps schon seit sechs Wochen«, sagte Powell. »Und Sie haben sie in – was – in einer halben Stunde gefunden?«

Teddy blieb ruhig, sein Blick ging wieder zum Leichnam zurück. Es kam ihm komisch vor, dass Valerie Kramps Darlene Lewis sehr ähnlich sah. Sie waren ungefähr im selben Alter. Sie hatten in etwa dieselbe Haarfarbe und waren sich stilmäßig ähnlich. Es schien ein verhängnisvoller Zusammenhang zu bestehen.

Powell erhob sich und klemmte das Handy an ihrem Gürtel fest. »Der Schatzmeister des Bootsclubs ist Fred Bingle«, sagte sie. »Aber seine Frau arbeitet nicht für eine Versicherungsgesellschaft und er weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ihr Name ist nicht Dawn, sondern Doris, und sie ist Hausfrau. Capital Insurance Life kennt auch keine Angestellte mit diesem Namen. Die Telefonnummer, die Sie uns gegeben haben, gehört nicht einmal zum Mobilfunknetz. Sie gehört zu einer Internetfirma, die vor zwei Monaten den Bach runterging.«

Teddy sagte nichts. Er wusste in dem Moment, als er die Leiche fand, dass ihm jemand etwas anhängen wollte. Er wusste, dass er hierher gelotst worden war, um sie zu finden, und dass der Fall Holmes nicht mehr das war, wonach er aussah.

»Das ist Quatsch«, sagte Powell. »Sie müssen sich eine bessere Story zurechtlegen, Teddy.«

Staatsanwalt Alan Andrews stand bei Detective Vega und seinem Partner, Nathan Ellwood. Sie sahen zu, wie der Gerichtsmediziner das Bustier von Valerie Kramps Körper mit einer Schere aufschnitt. Der Staatsanwalt trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

Als Teddy sich wieder gefasst hatte, hatte er Powell über sein Handy angerufen. Sie hatte Vega und Ellwood benachrichtigt, aber ein Anrufvermittler hatte den Fehler gemacht, den Funk zu benutzen, anstatt das Festnetz, um den Gerichtsmediziner zu erreichen. Die Presse hatte das Gespräch mitgehört und wartete draußen mit einem riesigen Aufgebot auf Andrews.

Der war immer noch wütend darüber und machte einen gereizten Eindruck. »Vergiss den Kleinen«, sagte er zu Powell. »Er hat einen Fehler gemacht. Einen großen. Er versucht seine Spur zu verwischen und das funktioniert nicht sehr gut.«

»Wovon reden Sie?«, wollte sie wissen.

Andrews drehte sich um. Er hatte jetzt ein Lächeln aufgesetzt und wirkte etwas boshaft, als er Teddy fixierte. »Es gibt nur eine Möglichkeit, wie er die Leiche gefunden haben kann«, sagte er. »Holmes hat ihm erzählt, wo er sie hinterlassen hat. Saubere Arbeit, Teddy Mack. Sie wollen einen Job beim Ermittlungsteam, geben Sie es einfach zu. Ihr Klient ist auf jeden Fall ein toter Mann.«

Powell kam näher. »Stimmt das, Teddy? Hat Oscar Holmes Ihnen gesagt, wo die Leiche ist?«

Teddy senkte seine Augen und versuchte, seinen Zorn und seine Überraschung zu verbergen. Die Situation entwickelte ein Eigenleben und er verlor die Kontrolle. Er hatte nicht an den nächsten Schritt gedacht, hatte sich nicht überlegt, wie die Sache für andere aussehen mochte, als er um Hilfe rief. Er hörte Andrews’ Gekicher und sah, wie der Mann wieder zur Leiche zurückkehrte.

Der Gerichtsmediziner hatte das Kleidungsstück entfernt und untersuchte die Wunde an der Brust des Mädchens. Sie war lang und tief, ganz durchgezogen, aber irgendwie immer noch gefroren. Anders als bei Darlene Lewis schien keine Haut bei ihr zu fehlen.

»Eines ist sicher«, sagte der Gerichtsmediziner. »Sie müssen ihre Zeitangabe berichtigen.«

»Warum?«, fragte Andrews.

»Falls das hier Valerie Kramp ist, dann wird sie seit Oktober vermisst.«

»Es ist Valerie Kramp«, sagte Andrews. »Ihr Gesicht stimmt mit dem Bild überein. Sie wurde zuletzt joggend auf dem Fahrradweg gesehen. Was soll das also?«

»Dieses Mädchen ist erst eine Woche oder zwei tot.«

Andrews straffte sich, dann kniete er sich nieder, um den Körper genauer zu betrachten.

»Im Oktober ist das Wasser noch ziemlich warm gewesen«, sagte der Gerichtsmediziner. »Von dem Moment an, wo sie im Fluss lag, war sie Teil der Nahrungskette – Fische und Schildkröten, Sie wissen schon. Und sie ist aufgequollen, aber nicht aufgedunsen. Fast alles Haar ist noch intakt. Ihr Fleisch sitzt noch fest an den Knochen. Wenn sie zwei Monate lang im Wasser gelegen hätte, würde sie nicht mehr so aussehen. Bei Weitem nicht. Das, was von ihr übrig wäre, würde eher wie Wackelpudding aussehen und sich auch so anfühlen.« Der Mediziner kniff in die Haut des Mädchens, um zu zeigen, was er meinte.

Teddy drehte sich weg und warf einen Blick auf die Kriminaltechniker, die im Gebäude herumgingen, während er sich das durch den Kopf gehen ließ. Nicht viele Frauen joggten in einem Bustier. Und wenn er sich auf das verlassen konnte, was er gerade gehört hatte, dann war Valerie Kramp wahrscheinlich nicht hier oder irgendwo in der Nähe der Bootshäuser ermordet worden. Der Mörder hatte sie irgendwo entlang des Fahrradweges aufgelesen. Er hatte sie mitgenommen und sie über einen Monat festgehalten. Dann, als er mit ihr fertig war, warf er sie in den Fluss. Wenn das Seil, mit dem der Körper am Grund befestigt war, gehalten hätte, hätte sie nie jemand gefunden. Aber das schien im Moment nicht sehr wichtig zu sein. Was für Teddy bedeutungsvoll war, war die Zeit, die der Mörder mit dem Mädchen verbracht hatte. Der Ort, an dem er es festgehalten hatte. Er hatte Angst, dass Holmes noch für den Tod einer zweiten jungen Frau verantwortlich sein könnte.

»Ich werde eine doppelte Autopsie einplanen«, sagte der Gerichtsmediziner. »Sie und Darlene Lewis.«

»Wann?«, fragte Andrews sarkastisch. »Nächste Woche?«

»Morgen«, sagte der Gerichtsmediziner. Er ignorierte die Spitze und wandte sich seinem Assistenten zu. »Stecken wir sie in einen Sack und bringen sie hier weg.«

Teddy kam auf die Beine und streckte sich. Durch das Fenster konnte er sehen, wie sich draußen die Presse hinter der Tatortabsperrung, die entlang der Bäume am Kelly Drive angebracht war, drängte.

Als Powell nicht mehr bei Andrews war, zog er sie beiseite: »Ich will die Schlüssel zu Holmes Apartment«, sagte er.

Sie sah ihn misstrauisch an. »Warum?«

»Weil er mein Klient ist.«

»Es ist immer noch versiegelt«, sagte sie und drehte sich weg, als ob sie etwas Wichtigeres zu tun hätte.

»Ich habe ein Recht dazu«, sagte er. »Ich will die Schlüssel.«

Sie wandte sich ihm wieder zu, studierte sein Gesicht und dachte darüber nach. Teddy hielt dem Blick stand.

»Sie brauchen eine Begleitung«, sagte sie nach einer Weile. »Jemand von der Staatsanwaltschaft. Die Schlüssel sind in meinem Schreibtisch. Ich rufe Sie morgen früh an.«

»Ich will heute Abend noch hin«, sagte er. »Jetzt.«

Sie musterte ihn wieder. »Was haben Sie vor, Teddy? Was verschweigen Sie uns?«

»Nichts«, sagte er. »Ich will das Apartment meines Klienten sehen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass sich dort in zwanzig Minuten jemand mit Ihnen trifft.«

Sie ging. Teddy sah, wie Andrews vor einem Spiegel im Flur stand. Der Mann flüsterte etwas zu sich selbst. Einen Augenblick später probierte Andrews verschiedene Arten zu lächeln aus und verschiedene Arten Mitgefühl zu zeigen, als ob er alleine wäre. Als er den richtigen Gesichtsausdruck fand, verschwand der Staatsanwalt durch die Eingangshalle und zur Tür hinaus, bereit, vor die Presse zu treten. Teddy wartete einen Moment, bevor er ihm nach draußen folgte.

Die Abendluft war schneidend. Der Nachmittagsdunst hatte sich zu einem dichten, feuchten Nebel entwickelt. Teddy sah, wie Andrews mit den Händen winkte, als sich die Presse versammelt hatte und die Kameralichter angingen. Teddy ging den Fahrradweg hoch, hielt dann inne und drehte sich um, als er im Schatten war und beobachtete. Er bemerkte, dass die Bootshäuser beleuchtet waren. Die kleinen, weißen Lichter, die die Gebäude hervorhoben, waren Teil der festlichen Natur der Stadt und brannten das ganze Jahr über jede Nacht. Sie sahen wie Weihnachtsbäume aus. Nur der heutige Abend schien nicht besonders festlich zu sein und man hatte eher das Gefühl, dass die Feiertage vielleicht verschoben werden sollten.

»Ich habe eine kurze Erklärung abzugeben«, sagte Andrews. »Dann werde ich Ihre Fragen beantworten.« Er hielt kurz inne und wartete, bis sich alle beruhigt hatten, schwieg dann noch eine Weile, als ob er die Schwere der Situation und seine Wichtigkeit in der Angelegenheit unterstreichen wollte. »Um vierzehn Uhr dreißig wurde die Leiche einer jungen Frau am Ufer des Schuylkill bei den Bootshäusern gefunden. Das Opfer konnte noch nicht identifiziert werden. Die Detectives Dennis Vega und Nathan Ellwood vom Morddezernat leiten die Untersuchung. Morgen wird eine Autopsie durchgeführt werden, um die Ursache des Todes zu bestimmen. Leidersind das im Moment die einzigen Fakten, die ich habe.«

»Wie sieht es mit der Zeit aus?«, rief ein Reporter. »Wie lange lag die Leiche schon im Wasser?«

Andrews blickte auf ein Blatt Papier und tat so, als ob er eine Notiz dazu lesen müsste. »Unsere Voruntersuchung der Leiche ergab, dass das Opfer vor einiger Zeit starb.«

»Stunden, Tage oder Wochen?«, rief ein anderer Reporter. »Wochen«, sagte Andrews. »Nach der Autopsie werden wir mehr wissen.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Die Leiche wurde im Verlaufe unserer erweiterten Untersuchung im Mordfall Darlene Lewis gefunden. Wir arbeiten rund um die Uhr an dem Fall.«

»Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen den beiden?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, meinte Andrews.

»Zwei Leichen in zwei Tagen«, sagte ein Reporter. »Stimmt es, dass Oscar Holmes früher Metzger war?«

»Ja.«

»War die Leiche, die Sie heute gefunden haben, aufgeschnitten?«

»Ja«, sagte Andrews mit einer Andeutung von einem Lächeln. »Und ich will allen, die heute Abend hier sind oder das im Fernsehen verfolgen, versichern, dass Oscar Holmes gestern verhaftet wurde und in sicherem Gewahrsam ist.«

Er hat es geschafft, dachte Teddy. Andrews hat den Mord erfolgreich mit Holmes in Verbindung gebracht, während er es gleichzeitig dementierte. Teddy spähte durch die Menge und sah, wie Carolyn Powell ihn anstarrte. Sie sah wieder zu Andrews, aber Teddy konnte aus ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie ebenfalls genau wusste, was Andrews getan hatte.

Er hörte, wie der Staatsanwalt noch ein paar weitere Fragen beantwortete und so viel wie möglich seinem Verdienst zuschrieb, wie er nur konnte. Da niemand nach Nashs gestriger Pressekonferenz fragte und nach der Rolle, die der Staatsanwalt dabei spielte, als ein Unschuldiger in den Tod geschickt worden war, ging Teddy den Fahrradweg weiter bis zu seinem Auto. In nur einem Tag hatte Andrews seine Weste weißgewaschen. Dafür waren die grausigen Morde an zwei jungen Frauen nötig gewesen, aber es war geschafft. Die Stadt wurde angegriffen. Da Andrews den Eindruck vermittelte, eine Hauptrolle darin zu spielen, war er frei von aller Kritik, fast wie ein Präsident, der sein Land in einen Krieg führt. Teddy dachte darüber nach, als er sein Auto erblickte. Um heutzutage ein Politiker zu werden, musste man einer bestimmten Persönlichkeit entsprechen. Und Alan Andrews schien für die Aufgabe besonders gut geeignet zu sein.