DREIUNDSECHZIG

Eine Panikwelle überkam ihn, als Teddy die Maut bezahlte und über die Route 100 in Richtung des Parks fuhr. Er hatte wieder dieses gewisse Gefühl im Bauch. Etwas, das ihm sagte, dass etwas Schreckliches passieren würde oder bereits passiert war. Er musste weiter. Er konnte es nicht abschütteln.

Er sah die Kurve weiter vorne und bog links in die Lakeview Road ab. Als er die Privatstraße entdeckte, fuhr er an den Straßenrand und warf einen Blick auf das Straßenschild. Dann schaute er nochmals auf die Karte in der Broschüre, die er eingesteckt hatte, bevor er aus dem Trisco-Gebäude hinausgeworfen worden war. Es musste die Shoreside Lane sein. Er konnte den zugefrorenen See sehen, der sich am Fuße des Hügels über das Land erstreckte. Ein großes Haus und eine Scheune waren auf halber Höhe zwischen den Bäumen eingebettet.

Er fuhr langsam die Straße entlang, erreichte eine Lücke am Rand und hielt an. Die Zufahrt zum Haus war schneebedeckt. Es gab nur eine doppelte Reihe von Reifenspuren.

Er zündete sich eine Zigarette an, stieg aus dem Auto und untersuchte die Spuren genau. Sie sahen frisch aus, waren aber in der Nachmittagssonne geschmolzen. Ein Wagen war zu irgendeinem Zeitpunkt des Tages zum Grundstück hin- und wieder weggefahren. Niemand sonst hatte die Straße seit dem letzten Sturm vor ein paar Tagen benutzt.

Das schloss Trisco aus. Er lebte nicht hier. Teddy atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen, als ihm das klar wurde. Er hatte nicht erwartet, Trisco hier zu finden. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass der Irre in der Stadt lebte. Teddy hatte die vierzigminütige Fahrt unternommen, weil er das Gefühl hatte, dass etwas fehlte und er musste sicher sein. Zumindest sagte er das immer wieder zu sich selbst. Als er aber aus der Entfernung auf das Haus starrte, wusste er, dass es mehr als das war. Es hatte etwas mit dem See zu tun. Dem Wasser. Damit, dass er Valerie Kramps Leiche im Fluss beim Bootshaus gefunden hatte. Das unheilvolle Gefühl, das er bekam, als er auf die Karte in der Broschüre schaute und erfuhr, dass die Triscos ein Haus am Ufer hatten.

Er stieg wieder in den Corolla. Er bog in die Zufahrt ein und fuhr langsam den Hügel hinunter, indem er den Reifenspuren des Wagens folgte, der schon vor ihm da gewesen war. Obwohl der Schnee zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter tief war, konnte er den Kies unter den Spuren sehen und hatte genug Bodenhaftung.

Das Haus kam zwischen den Bäumen in Sicht. Es war ein Bauernhaus, nicht viel anders als sein eigenes. Die Zufahrt schien zu einem Parkplatz hinter dem Haus zu führen. Als er um das Haus herumfuhr und keine Autos sah, atmete er auf und parkte.

Die Aussicht durch die Windschutzscheibe war großartig, die Ausdehnung des Sees am Fuße des steilen Hügels inspirierend. Mehrere Fischerzelte waren auf dem Eis errichtet. Er sah einen Mann mit Rute und Angelrolle, der zu Fuß den See zur anderen Seite überquerte. In der Entfernung waren Häuser im Wald verstreut zu sehen, die entlang der Straße zum Park einen halben Kilometer weiter unten erbaut worden waren. Teddys Blick folgte dem Fischer auf der anderen Seite des Sees, bis dieser einen Pick-up erreichte und scheinbar lautlos davonfuhr. Das Geräusch des Motors war zu weit entfernt, um es zu hören.

Teddy stieg aus dem Corolla und blickte auf das Trisco-Haus. Er vermutete, dass es in den 1820er-Jahren erbaut wurde. Obwohl die Mauern aus weiß getünchtem Stein waren, wurden in den letzten zwanzig Jahren oder so Veränderungen vorgenommen, um die offene Sicht auszunutzen. Ganz offensichtlich war Geld bei der Renovierung kein Thema gewesen. Das Gebäude war kein echtes Bauernhaus mehr.

Er überquerte die Zufahrt und bemerkte, dass die Reifenspuren des Wagens, der früher am Tag gekommen und weggefahren war, zusehends wegschmolzen. Es sah aus, als ob der Fahrer bis auf den Parkplatz und dann rückwärts zur Veranda gefahren wäre. Er konnte Fußspuren auf dem Weg sehen, der Schnee war niedergetreten, als ob jemand mehr als nur einmal in das Haus gegangen wäre.

Er prüfte die Tür und fand sie verschlossen. Dann ging er zum Fenster hinüber, warf seine Kippe weg und legte die Hände seitlich um die Augen. Es war ein Wohnzimmer. Leicht und luftig und etwa so weit vom Trisco-Museum in Radnor entfernt, wie ein Trip durch das Universum. Er hielt nach irgendwelchen Anzeichen Ausschau, dass jemand vielleicht hier wohnte. Ein aufgeschlagenes Buch oder eine Zeitung, ein Paar Schuhe, die bei einem Stuhl standen oder sogar eine Schale mit frischen Früchten. Die Sonne schien durch ein Fenster auf der linken Seite in den Raum. Er folgte dem Lichtstrahl zu einem Beistelltisch und bemerkte die Staubschicht. Jemand mochte heute etwas hier abgeladen haben, aber seit Monaten hatte sich niemand hier aufgehalten.

Er trat von der Veranda hinunter, sah zu den Hügeln, die sich bis zum Horizont erstreckten, und versuchte sich einen Countryclub und ein Hotel in der Landschaft vorzustellen, nachdem sie abrasiert und weggekarrt worden war. Für alles gab es einen Platz, dachte er sich. Nur war dieser hier nicht der richtige dafür.

Er schritt durch den Schnee zur Scheune hinüber. Die Tore waren mit einer Kette verschlossen, aber das Gebäude war alt und verwittert und erfreulich verfallen. Er drückte die Scheunentore auseinander, schob sich durch die Öffnung und schlüpfte hinein. Es war hier drinnen kälter, der Raum war mit gesprenkeltem Licht erfüllt. Eine Brise pfiff durch die Dachsparren. Er schüttelte den Schnee von den Schuhen und klopfte die Ledersohlen trocken, um nicht auszurutschen, als er einen neuen Ford Explorer erblickte. Der Wagen war sauber, aber staubig. An den Kotflügeln konnte man keine Rückstände von Winterfahrten erkennen. Er öffnete die Tür und bemerkte die Innenbeleuchtung. Als er das Handschuhfach prüfte, fand er nichts. Dann sah er eine Ausgabe des Time Magazins auf dem Boden hinter dem Fahrersitz. Er griff nach hinten und hob es auf. Sein Blick fiel direkt auf den Adressaufkleber: Mr und Mrs Edward Trisco, jr. Er prüfte das Datum: der sechste September, das war vor mehr als drei Monaten.

Teddy warf das Magazin in das Auto und schlug die Tür zu. Als er tiefer in die Scheune eindrang, bemerkte er ein kleines Boot auf einem Anhänger neben einem Stapel von Schlackensteinen und Gartenutensilien. An der Seite daneben stand ein Traktor, der dazu benutzt wurde, um im Herbst das Gras auf dem Feld zu mähen. Er dachte, er hätte etwas gehört und drehte sich um. Da entdeckte er die Tür zu einem kleinen Raum hinter sich.

Ein Vogel flog zur Tür hinaus, landete auf dem Dachsparren und fing an, von oben zu ihm hinunter zu gurren. Es war eine Trauertaube, die melancholisch und einsam wirkte. Teddy versuchte seine Nerven in den Griff zu bekommen und schritt zur Tür.

Der Raum dahinter war dunkel. Er betrat den Ort langsam und vorsichtig. Eine Glühbirne hing von der Decke. Er sah den Schalter an der Wand und drehte das Licht an. Der Raum wirkte eigentlich harmlos. Angelruten hingen zusammen mit aufgerollten Nylonschnüren an der Wand. Eine Werkzeugkiste stand auf einer Werkbank vor einem Fenster, das mit einem Brett zugenagelt war. In der Ecke bemerkte er eine große Holzkiste, die wahrscheinlich, als der Bauernhof noch in Betrieb war, dazu benutzt wurde, um Futter zu lagern. Teddy klappte den schweren Deckel hoch und lehnte ihn nach hinten gegen die Wand, dann sah er nach draußen. Auf der rechten Seite war ein Haufen von Fischernetzen. Auf der linken befanden sich ein Taucheranzug, eine Schwimmbrille, Flossen und Sauerstoffflaschen. Teddy dachte an seine Begegnung mit Mr und Mrs Edward Trisco jr. Sie machten auf ihn nicht den Eindruck, als ob sie irgendein Interesse am Sporttauchen hätten…

Es drehte sich alles um den See, vergegenwärtigte er sich. Er klappte den Deckel zu und verließ den Raum, drückte die Scheunentore auseinander und schlüpfte ins Tageslicht hinaus. Das Seil, die Schlackensteine, sogar die Tauchausrüstung – alles, was Trisco brauchte, um Menschen verschwinden zu lassen, war hier vorhanden.

Er sah auf die Uhr und dachte, dass er lieber in die Stadt zurückfahren sollte.

Der Corolla sprang beim ersten Versuch an; Teddy zog sein Mobiltelefon heraus und suchte in der Anrufliste nach Powells Nummer. Als er die Kupplung trat und in den Rückwärtsgang schaltete, rutschte sein Fuß vom Pedal. Der Wagen sprang in den Gang und wurde abgewürgt, dann fing er an, nach vorne zu rollen. Teddy fühlte, wie sein Puls schneller wurde, als er durch die Windschutzscheibe auf den Hügel schaute. Er warf das Telefon auf den Beifahrersitz und trat mit dem Fuß heftig auf die Bremse. Der Wagen wurde etwas langsamer, aber dann gab das Bremspedal nach und versank im Boden, als ob es gebrochen wäre. Er drehte den Schlüssel um, hörte, wie der Motor zündete und ließ die Kupplung langsam wieder kommen. Der Wagen schüttelte sich und vibrierte, sprang über den unebenen Grund und rutschte mit großer Geschwindigkeit in Richtung des Sees. Er sah in den Rückspiegel: die Scheune verschwand in der Ferne. Dann sah er wieder in den Spiegel und versuchte zu entschlüsseln, was er durch den wirren Schleier sah: Da war ein Mann in dunkler Kleidung, der sich hinter dem Haus versteckte. Eine Gestalt. Ein Schatten. Jemand der beobachtete, wie er den Hügel in die Vergessenheit hinunterstürzte…

Teddy umklammerte das Lenkrad fester; der See kam schnell auf ihn zu, während er instinktiv den Fuß in die Stelle bohrte, wo das Bremspedal sein sollte. Am Fuße des Hügels befand sich eine Bootsrampe. Der Wagen sprang in die Luft, schlug dann auf dem Eis auf und rutschte über den See. Wasser spritzte an der Windschutzscheibe hoch und er dachte an die warme Sonne, aber nur kurz, bis er ein lautes Knacken hörte. Das Eis brach und der Wagen stürzte ins Wasser.

Er schaute zum Haus zurück, hörte den Platscher und spürte, wie die Todesangst in seiner Brust anschwoll. Der Wagen schaukelte vor und zurück und Teddy zuckte beim ersten Kontakt mit dem eiskalten Wasser zusammen, das sich durch die Schuhe bis zu den Füßen durchbiss. Sein Blick fiel auf den unteren Türrahmen und er sah das Wasser hereinströmen. Der Motor starb ab, die elektrischen Fenster versagten. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Motorhaube und sah, wie sie unter das Eis sank. Wasser spritzte aus den Luftschächten, aus den Fugen der Türen und Fenster.

Teddy packte den Türgriff, riss daran und drückte seine Schulter dagegen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Das Eis an der Oberfläche verschwand langsam, das Gewicht des Motors neigte den Wagen nach unten. Er starrte durch die Windschutzscheibe, versuchte klar zu denken, wollte aufhören zu zittern und nicht in Panik geraten. Was am Grund des Sees lag, schien erst nicht real zu sein: Er entdeckte einen Kamin, dann eine Dachlinie, dann zwei weitere Häuser, die sich unheimlich auf der anderen Seite einer Unterwasserstraße befanden. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er nicht halluzinierte oder auf dem Weg durch die Hölle war: Der See war Menschenwerk. Das Tal war vor vielen Jahren aufgrund eines Staudammes geflutet worden.

Seine Augen flogen zu seinen Beinen hinunter, prüften den Wasserstand im Wagen und wie viel Luft er noch hatte. Das Wasser stieg über seine Knie und floss schnell höher. Er schaute erneut durch die Windschutzscheibe. Als der Wagen am ersten Haus vorbei glitt, beäugte Teddy die Gebäude, die mit hellgrünen Algen überzogen waren. Die Mauern waren aus Ziegeln und Stein gemacht und nicht eingestürzt. Eine dicke Schlammschicht hatte sich über einen Großteil der Straßen gelegt. Trümmerteile hatten die meisten Fenster eingeschlagen.

Er reckte seinen Hals, um zu beobachten, wie die Fischschwärme hinein schwammen. Genau in dem Moment sah er die Gesichter, die ihn anstarrten. Er erschauerte, seine Nerven lagen bloß. In den Fenstern befanden sich Gesichter. Grauenhafte Gesichter, die in Fischernetzen eingehüllt und in den Räumen mit Seilen und Schlackensteinen verankert waren. Trotz des kalten Wassers waren viele der Gestalten aufgedunsen und ohne Haare. Andere sahen aus, als ob sie schon vor langer Zeit Teil der Nahrungskette wurden. Dennoch erkannte Teddy zwei der Frauen von den Bildern, die er an Nashs Wand gesehen hatte. Sie behielten ihn im Auge, beobachteten sein Eintreten in ihren versteckten Teil der Unterwelt.

Der Wagen rollte plötzlich herum und er schrie auf. Unmengen Wasser vom Boden folgten der Umdrehung, spülten über die innere Türverkleidung und schwappten über seinen Kopf. Alles war jetzt verkehrt herum. Er spürte, wie der Wagen an etwas abprallte und dann auf dem Boden zu liegen kam.

Das Wasser stieg ihm bis zur Brust, die Kälte schmerzte. Er bekam nicht mehr genug Luft, konnte seine Lungen nicht mehr ausdehnen. Als er gegen die Fenster trat, passierte nichts. Er rüttelte wieder an der Tür, während das Wasser schon seinen Hals erreichte. Er tastete mit den Fingern nach dem Türgriff, konnte ihn aber nicht finden. Er nahm einen Atemzug und tauchte unter, öffnete die Augen und ließ den eisigen Schmerz bis in seinen Hinterkopf durch sie durchschießen. Der Türgriff war da, wo der Boden sein sollte. Er packte ihn, zog daran, schlug mit dem Knie gegen die Tür, konnte sie aber immer noch nicht bewegen. Er tauchte auf und schnappte panisch nach Luft. Noch fünfzehn Zentimeter Luft. Fünfzehn Zentimeter bis zum Tod.

Er hatte gesehen, dass sich jemand hinter dem verdammten Haus versteckte!

Er sah hoch und entdeckte den Kofferraumriegel im Boden über seinem Kopf. Er zog fest daran und dachte, er hätte etwas klicken hören. Er kletterte über die Decke nach hinten, tauchte seine Hände tiefer ins Wasser und drückte den Rücksitz aus dem Weg. Er ging mit den Füßen vorsichtig zurück, versuchte seine Verwirrung zu überwinden und daran zu denken, dass alles verkehrt herum war. Als seine Schuhe auf den Metalldeckel des Kofferraums rutschten fühlte er, wie er aufschwang. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und tat einen letzten Atemzug.