VIERZEHN
Ein älteres Modell eines Cadillac DeVille wartete in der Dunkelheit mit laufendem Motor quer über zwei Parkplätze an der Pine Street. Teddy eilte den Gehsteig hinunter und hielt den Blick auf den sonderbar aussehenden Typ hinter dem Lenkrad gerichtet. Der Mann erwiderte seinen Blick, während er eine Zigarette rauchte und bei geschlossenen Fenstern einen alten Frank-Sinatra-Song hörte. Als Teddy vor Holmes Apartment anhielt und sich in der Straße nach seiner Begleitung umsah, drehte der Mann die Zündung ab und stieg ächzend aus dem DeVille aus.
»Sind Sie der Anwalt?«, fragte der Mann in einem verärgerten Ton.
Teddy nickte langsam.
»Ich bin Michael Jackson«, sagte der Mann. »Nicht der Tänzer, sondern der Beamte von der Staatsanwaltschaft. Ich arbeite schon von Anfang an für Andrews.« Er klimperte mit einem zweiten Schlüsselbund in der Luft und ging dann schwerfällig die Stufen zum Gebäudeeingang hoch, als ob er einen vollen Bauch hätte.
Teddy zögerte und sah dem gut und gerne sechzigjährigen Mann zu. Er hatte Schlupflider, seine Haut war pockennarbig und er trug ein billiges, schwarzes Toupet, das Teddy schon bemerkt hatte, bevor er aus dem Wagen stieg.
Jackson schloss die Haustüre auf und drehte sich um, wobei er seine Zigarette auf den Gehsteig neben Teddys Füße schnippte. »Kommen Sie oder was, junger Mann?«
Teddy eilte die Stufen hoch und folgte dem Beamten ins Haus.
»Das nächste Mal, wenn Sie etwas sehen müssen«, sagte Jackson, »dann tun Sie mir den Gefallen und wählen Sie verdammt noch mal eine bessere Zeit.« Er Mann stieß einen Seufzer aus und zeigte auf die Treppe. »Es ist das Penthouse im dritten Stock«, sagte er. »Sie sind immer im dritten Stock.«
Als Jackson seinen Mantel öffnete und die Treppe hochgehen wollte, erhaschte Teddy einen Blick auf die Waffe, die am Gürtel des Beamten hing. Es war eine alte 38er. Teddy war mit Waffen aufgewachsen und mit ihnen vertraut. Dennoch war da etwas an diesem verschlissenen Aussehen, das ihm ein ungutes Gefühl gab. Als er darüber nachdachte, war er nicht sicher, ob das Düstere von der Waffe ausging oder von dem Mann, der sie trug. So oder so – beide sahen gebraucht und gefährlich aus.
Er schüttelte den Gedanken ab und folgte Michael Jacksons müden Beinen die Treppe hoch. Auf der Fahrt hierher hatte er die Gelegenheit, über das Gespräch mit der mysteriösen Dawn Bingle nachzudenken. Sie wusste, dass die Leiche im Bootshaus lag und hatte ihn da hingeleitet, so viel stand für ihn fest. Aber sie hatte sich auch die Zeit genommen herauszufinden, wer Teddy war. Sie wusste, wo er arbeitete und schien über seine Fälle Bescheid zu wissen. Der Köder, den sie benutzte, um ihn ins Bootshaus zu locken, war perfekt. Ein netter Versuch, der ihm unter die Haut ging.
Sie erreichten schließlich den dritten Stock. Jackson war ganz außer Atem und fing an zu husten. Als sich der trockene Husten wieder legte, zündete er sich eine weitere Zigarette an, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. »Hier ist es«, sagte Jackson und wedelte den Rauch vor seinen blutunterlaufenen Augen weg. »Das verlorene Paradies. Wenn Sie etwas anfassen wollen, ist das okay für mich. Wenn Sie etwas mitnehmen wollen, dann ist das gar nicht gut. Sehen Sie sich jetzt um, junger Mann. Ich will nicht die ganze Nacht hier verbringen. Es ist erst unser erstes Rendezvous.«
Teddy trat durch die Tür. Er suchte nach nichts Bestimmtem. Er wollte nur den Ort sehen und ein Gefühl dafür bekommen. Was Holmes Darlene Lewis angetan hatte, war schrecklich. Was mit Valerie Kramp passiert war, schien indiskutabel. Obwohl es noch keine Beweise dafür gab und immer noch die Möglichkeit bestand, dass die beiden Morde nichts miteinander zu tun hatten, sagte ihm dieses Gefühl im Bauch, dass es doch so war. Teddy musste verstehen, wie Holmes lebte. War es ein Apartment oder ein Gefängnis? Ein Refugium oder ein Versteck? Falls Holmes Valerie Kramp hier über einen Monat festgehalten hatte, musste Teddy sehen, wie das funktionierte.
Das Erste, was ihm auffiel, war die offensichtliche Sauberkeit. Das Wohnzimmer war spärlich möbliert mit einem Couchtisch vor einem billigen Sofa. Ein Sessel mit einem Schonbezug stand in der Ecke mit Blickrichtung zum Fernseher. Teddy war nicht sicher, warum der Ort so seltsam schien, bis sein Blick auf die Beistelltische fiel und er bemerkte, dass es im Zimmer sonst nichts gab. Keine Familienschnappschüsse, kein Krimskrams – nicht einmal ein Magazin oder eine Zeitung neben dem Sessel. Er prüfte die Wände und sah, dass sie kahl waren. Im Zimmer war nichts Menschliches, nichts, was der kleine Holmes vielleicht besessen hätte. Es sah wie in einem heruntergekommenen Wohnzimmer eines verwohnten Motels aus.
Er spürte, wie Jackson ihn von hinten beobachtete, und ging in die Küche. Der Müllzerkleinerer aus der Spüle stand auf der Theke. Teddy erinnerte sich, dass im Haus der Lewis in Chestnut Hill die Installation auch zerlegt worden war. Die Polizei hatte nach der Haut des Mädchens gesucht.
Er ging zum Kühlschrank, riss ihn auf und sah, dass er voller Lebensmittel war. Holmes aß offensichtlich zu Hause und das überraschte ihn. Merkwürdigerweise standen im untersten Fach lauter kleine Gläser, die mit tropischen Fruchtgetränken gefüllt waren, von denen Teddy dachte, dass sie für Kinder wären.
Er spürte wieder Jacksons Gegenwart in der Tür. Den Mann ignorierend, fing Teddy an, die Schränke durchzugehen. Wie er aus der Vielfalt an Gewürzen schließen konnte, kochte Holmes offenbar ganz gut. Nur ein Schrank war mit Schnellgerichten gefüllt. Teddy prüfte rasch die Inhalte der Schubladen und hielt inne, als er zu den Messern kam. Es waren Importe aus Deutschland und sie sahen teurer als alles andere aus, das er im ganzen Apartment gesehen hatte.
Als er eines herauszog, um die Schärfe zu testen, sah ihn Jackson belustigt an und zwinkerte. »Totschläger«, sagte der Beamte. »Ein Metzgerwerkzeug. Scharf wie die Zähne eines tollwütigen Hundes. Ich habe sie gestern ausprobiert, Junge. Der Mann hat ein Faible für Messer. Er mag es, Dinge zu schneiden.«
Teddy fühlte die rasiermesserscharfe Klinge und legte sie wieder in die Schublade zurück. Jackson hatte offensichtlich gestern zusammen mit Nathan Ellwood das Apartment durchsucht. »Wo haben Sie seine Uniform gefunden?«, fragte er. »Die mit dem Blut drauf.«
»Dort drinnen«, sagte Jackson und zeigte auf den Schrank unter dem Waschtisch.
Teddy öffnete ihn und warf einen schnellen Blick auf den Mülleimer. Dann ging er hinaus, den Flur entlang ins Schlafzimmer. Als er es betrat, fielen ihm wieder die Sauberkeit und die fehlenden persönlichen Dinge auf: Eine Lampe stand auf der Kommode und ein Radiowecker auf dem Tisch neben dem Bett, aber das war schon alles. Er strich mit den Fingern über den Tisch und suchte die Oberfläche nach Staub ab. Er roch den leichten Duft von Möbelpolitur. Als Jackson das Zimmer betrat und sich auf das Bett setzte, ging Teddy zur Kommode und inspizierte die Schubladen gründlich. Holmes’ schien großen Wert darauf zu legen, seine Kleidung nach Farben zu sortieren und alles sauber gefaltet zu halten. Der Mann war so akribisch, dass Teddy vermutete, er würde sogar seine Boxershorts bügeln. Das passte nicht zu Holmes’ hünenhaftem, ja sogar schlampigen Erscheinungsbild von gestern Abend.
Teddy dachte darüber nach, als er den Schrank öffnete und sah, wie die Briefträgeruniformen sauber und glatt auf Kleiderbügeln hingen. Holmes hatte kein Leben. Sein Besitz hätte in ein paar Koffer gepasst. Jeden Tag verteilte er die Post an einige der wohlhabendsten Leute, die in Chestnut Hill wohnten, und kehrte dann zu den kahlen Wänden seiner eigenen eintönigen Welt zurück. Nach dem, was Teddy heute Abend sehen konnte, hatte Holmes kein Hobby oder irgendwelche anderen Interessen außer Essen. Das Einzige, was auffiel, war seine Sammlung von importierten Küchenmessern. Teddy stellte sich vor, dass Darlene Lewis wahrscheinlich mit einem Blick gesehen hatte, dass der Mann lächerlich oder sogar dumm war. Aus irgendeinem Grund hatte sie angefangen Holmes zu provozieren und ihm ihren blühenden Körper zu zeigen. Sie konnte nicht ahnen, was das bei ihm auslösen würde – bis gestern, als Holmes schließlich ausrastete.
Teddy schloss die Schranktür und wandte sich wieder den Möbeln zu. Holmes besaß nicht viel, aber er schien mit dem Wenigen, das er hatte, außergewöhnlich sorgsam umzugehen.
»Sie haben etwas übersehen«, sagte Jackson, der auf dem Bett lag und gähnte.
»Was übersehen?«
»Einen Raum. Zwischen dem Wohnzimmer und der Küche gibt es eine Tür.«
Teddy ging hinaus und sah sie hinter der Ecke. Wegen des Schließriegels dachte er, die Tür würde zu einem Hinterausgang führen. Als er das Schloss umdrehte und den Türgriff packte, stellte er fest, dass die verzogene Tür im Rahmen klemmte. Er musste einige Kraft aufwenden, aber er gab ihr einen heftigen Ruck und stieß sie auf. Als sich die Tür öffnete, strömte ihm kühlere Luft aus der Dunkelheit entgegen, und er roch einen vertrauten öligen Duft, als er das Licht anmachte: Holmes war ein Künstler. Ein Maler. Teddy erstarrte, seine Augen verschlangen die umgebaute Sonnenveranda gierig. Da waren ein Zweiersofa, ein Arbeitstisch und mehrere Stapel von jeweils zehn Leinwänden, die mit der Vorderseite an den Glaswänden lehnten. Er sah eine Stereoanlage in der Ecke und griff sich eine Handvoll CDs: Beethoven und Mozart, Coltrane und Coryell. Das passte alles nicht zusammen und ergab überhaupt keinen Sinn.
Er ging zur Staffelei und starrte auf das Staubtuch, das über einer unfertigen Arbeit hing. Er hob das Tuch hoch und sah auf die Leinwand, in der Erwartung, einen Blick auf Holmes dunkle Seiten werfen zu können. Es war eine Landschaft. Und der gewalttätige Mann, den er letzten Abend im Stadtgefängnis getroffen hatte, war mehr als ein Freizeitmaler. Holmes hatte ein gutes Auge und Talent. Er hatte doch ein Leben – alles in diesen einen Raum gepackt.
Jackson klopfte an die Tür. Als Teddy sich umdrehte, sah er den Beamten mitten im Wohnzimmer. Ein kleines Mädchen im Pyjama stand in der Tür und hielt einen Stoffbären in der Hand. Ihr hellbraunes Haar war zu Zöpfen geflochten, ihre goldbraunen Augen starrten ihn an und glänzten wie im Sonnenlicht. Sie konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre sein.
»Kann ich meine Zeichnungen haben, Mister?«, fragte sie. »Die gehören mir, weil ich die gemacht habe.«
Jackson zuckte die Achseln, als ob es okay wäre. Teddy nickte ihr zu und war aufgrund ihrer Arglosigkeit nicht in der Lage zu sprechen.
Sie lächelte begeistert. »Danke«, sagte sie und flitzte durch den Raum. Er sah, wie sie auf einen Stuhl am Arbeitstisch kletterte.
Als sie begann, die Stapel von Bildern aus Wasserfarben durchzugehen, versuchte Teddy, seine Emotionen in den Griff zu bekommen. »Bist du oft hier?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Mr Holmes bringt mir das Malen bei«, sagte sie.
»Wo sind deine Mutter und dein Vater?«
»Ich habe keinen Daddy und Mami ist noch nicht von der Arbeit zurück. Mr Holmes hat mich oft von der Schule abgeholt und dann haben wir zusammen gemalt. Wenn Mami heimkam, hat er uns Abendessen gemacht. Mami sagt, Mr Holmes ist immer noch unser Freund und ich soll nicht auf die Leute hören, die schlecht über ihn reden. Manchmal machen sogar nette Leute wie die Polizei Fehler. Mami sagt, manchmal haben gute Leute unrecht.«
Es traf Teddy mitten ins Herz. Er sah sie an, sah, wie sie Vertrauen hatte. Er nahm alles in sich auf. Holmes Leben ging über diese Sonnenveranda hinaus.
Das Mädchen kletterte wieder auf den Boden hinunter und flitzte mit den Bildern und dem Bären durch das Studio. Sie raste in die Küche und Teddy hörte, wie die Kühlschranktür geöffnete wurde. Nach einer Weile rannte sie mit einem Fruchtsaft zur Wohnungstür hinaus. Jetzt wusste er, wofür die Säfte im unteren Fach waren. Er hörte, wie die Tür auf der anderen Seite des Treppenhauses geöffnet und wieder zugestoßen wurde. Als er die Türverriegelung hörte, schaute er wieder zu Jackson, der ihn wie der Sensenmann aus der Hölle anstarrte.
»Kinder«, sagte der Beamte. »Sie hatte Glück, dass Holmes sie nicht zum Mittagessen vernascht hatte.«
Teddys Beine fühlten sich schwach an und sein Kopf begann sich zu drehen. Er setzte sich an den Tisch und spürte, wie tief in seinem Innern etwas nach oben drang. Es drückte sich an die Oberfläche und ruderte aus den Schatten wie wild ans Licht: Oscar Holmes war unschuldig.
Selbst der Gedanke daran nahm ihn ziemlich mit. Unschuldig.
Trotz der Beweise – der Fingerabdrücke, der Lippenspuren, einem starken Motiv und einer Augenzeugin. Da war sie nun in seinem Bauchgefühl: Die Möglichkeit, wenn auch nur schwach, dass jeder auf die Details fixiert war und das Gesamtbild übersah. Es gab eine Chance, dass jemand irgendwo vom Offensichtlichen abgelenkt wurde und einen fürchterlichen Fehler machte. Genau so, wie sie sich bei seinem eigenen Vater geirrt hatten.
Teddy sah auf seine Hand und bemerkte, dass sie zitterte. Er war auch ein Teil davon. Teil des Pöbels. Teil des Mobs, der sich alles ausrechnete, als ob es eine einfache Rechenaufgabe wäre. Nur ergab sie keinen Sinn, weil jeder, der damit zu tun hatte, von dem Verbrechen angewidert war, aber sich entweder etwas davon versprach oder wie Teddy aus der Sache heraus wollte.
Jackson kam zur Tür herein. »Alles okay mit Ihnen, Junge? Sie sehen etwas blass aus. Sie kippen mir doch nicht um, oder?«
Teddy antwortete nicht. Er konnte nicht. Er zog sein Handy heraus und tippte die Nummer ein, die Barnett ihm von Nash gegeben hatte. Als er Nashs Anrufbeantworter hörte, unterbrach er den Anruf, schaute auf seine Uhr und wählte seine eigene Nummer im Büro. Es war bereits nach neunzehn Uhr. Trotz der späten Stunde nahm Jill beim zweiten Klingeln ab.
»Du musst unbedingt Nash finden«, flüsterte er. »Ruf mich dann zurück.«
»Was ist los?«, fragte sie. »Stimmt etwas nicht?« Er bemerkte die Panik in ihrer Stimme. Sie musste auch seine erkannt haben.
»Ich erkläre es dir später«, sagte er atemlos. »Es ist egal, was irgendjemand anders dir aufträgt. Finde einfach nur Nash und ruf mich an.«
»Wird erledigt«, sagte sie.
Teddy starrte auf das Telefon. Nach einer Weile stand er auf, schaltete die Lichter aus und schloss die Tür. Jackson schien froh, dass die Nachtschicht vorbei war, schloss das Apartment ab und ging die Treppe nach unten voran.
Als sie den Gehsteig erreichten, dankte Teddy dem Beamten für sein Kommen. Er hörte, wie der Cadillac anfuhr, den gedämpften Klang von Frank Sinatras Gesang, der durch die Fensterscheibe drang, drehte sich um und beobachtete, wie Jackson wie ein verrückter Hund, der immer noch stinksauer war, über die Straße raste.
Er hörte sein Handy klingeln, fühlte, wie es in seiner Tasche vibrierte. Als er es ans Ohr hielt, hörte er Jills vertraute Stimme in der kalten Nachtluft: »Er ist im Skyline-Klub«, sagte sie aufgeregt. »Es ist ein Nachtklub. Nash wird den ganzen Abend dort sein.«
Er konnte spüren, wie er sich wieder fing. Sie hatte ihn gefunden. »Ich weiß, wo das ist«, sagte er. »Es ist privat.«
»Das stimmt. Was ist mit deiner Stimme los?«
Er räusperte sich. »Nichts.«
»Barnett sucht dich«, sagte sie. »Er hat deine Handynummer verloren.«
»Gib sie ihm nicht, okay? Sag ihm nichts.«
»Das hab ich nicht. Ich habe die Nachrichten im Fernsehen gesehen. Sie haben noch eine Leiche gefunden.«
»Ja«, sagte er. »Das stimmt. Wir reden morgen früh darüber.«
»Pass auf dich auf, Teddy.«
Er legte auf, ging um die Ecke und fand seinen Corolla in der Mitte des Häuserblocks. Sein Schwindelgefühl war verflogen und er ließ den Wagen an. Zuerst fuhr er nur langsam, dann immer schneller.