SIEBENUNDFÜNFZIG
Teddy stand über dem Geschworenentisch, seine Hände um eine Kaffeetasse geschlossen, und saugte die Wärme in sich auf. Nash war an seinem Schreibtisch, am Telefon mit einem Agenten der FBI-Außenstelle der Innenstadt. Er gab dem Agenten Triscos Autokennzeichen durch und versuchte ihm zu erklären, warum Teddy Blut- und Samenproben auf eigene Faust eingesammelt und den Tatort versaut hatte – es hörte sich nicht so gut an. Nash schlürfte unverdrossen an seinem Getränk. Es war nicht sein gewöhnlicher Kaffee, sondern ein Glas Sky Vodka auf Eis.
Teddy zitterte. Er konnte immer noch Triscos Lachen hören, konnte ihn immer noch im Schnee kichern sehen, mit dem Messer, das in seinem Bein steckte wie ein Blitzableiter. Seine Entscheidung, das Beweismaterial zu berühren, war in der Hitze des Gefechts gefallen, nachdem er mit einem Gewehr auf einen anderen Menschen geschossen hatte. Er war besorgt um seine Mutter, seine eigene Familie und ihre Vergangenheit.
Er tat es ab. Wichtig war, dass er und Nash nicht mehr alleine waren. Sie arbeiteten wieder mit dem FBI zusammen, und zwar seit dem Zeitpunkt, als sie an diesem Nachmittag von ihrem Treffen mit Triscos Psychiater zurückgekehrt waren. Sie hatten Nashs Freund in Washington angerufen und Dr. Westbrook einen vollständigen Bericht gegeben. Die Außenstelle wurde mobilisiert und das FBI führte jetzt seine eigene heimliche Untersuchung durch, trotz Holmes’ falschem Geständnis gegenüber dem Staatsanwalt.
Teddy fixierte den Stapel von Faxen auf dem Geschworenentisch, die schon die ganze Nacht über von der Außenstelle hereinkamen. Vor seiner Verhaftung vor fünf Jahren war Edward Trisco III ein Erfolg versprechender Künstler mit ziemlichem Talent. Sein Name wurde in mehreren Kunstjournalen erwähnt und die Rezensionen waren meistens besser als gut. Als jedoch seine Geisteskrankheit aufkeimte, schien Trisco seine Bestform zu verlieren. Seine letzte Ausstellung war eine Katastrophe und die Artikel wurden weniger. Als er das Modell kidnappte, hörten sie ganz auf und seine Karriere war vorbei.
Sie hatten eine Kopie der ursprünglichen Aussage des Modells vorliegen. Jene, die sie gemacht hatte, bevor Triscos Eltern sie mit einer Handvoll Barem mundtot machten. Teddy nahm die Kopie in die Hand und begann zu lesen. Wenn Trisco das Mädchen nicht malte, hielt er sie in seinem Schlafzimmerschrank gefesselt und geknebelt gefangen. Er hatte ihr drei Finger gebrochen und das Handgelenk verstaucht. Bissmale waren an ihrem Körper sichtbar und von einem Polizeifotografen nach ihrer Flucht fotografiert worden. Als Teddy die Fotos studierte, hatte er nicht den Eindruck, als ob sie und Trisco sich auf einer Party getroffen und sich dann gestritten hätten.
Er drehte sich um und sah aus dem Fenster. Die Straßen waren leer, es war schon sehr spät. Er konnte das Bild von Triscos Gesicht nicht abschütteln. Jenes, das Holmes’ in seinen Träumen verfolgte. Da war etwas Vertrautes darin. Er hatte ihn zuvor schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht entsinnen wo. Dieser exzentrische Ausdruck in seinen Augen – sein Wahnsinn in voller Blüte. Teddy konnte nicht glauben, dass Andrews vor fünf Jahren nichts von Triscos Geisteskrankheit bemerkt hatte. Selbst wenn er so blind gewesen wäre, fragte sich Teddy, wie Andrews Trisco davonkommen lassen konnte, nachdem er die Aussage des Opfers gelesen hatte. Und was war mit Triscos Familie? Was sagten sie zu Andrews, als sie ihm einen mit Blut geschriebenen Scheck für seine Kampagne überreichten?
Edward ist im Grunde seines Herzens ein guter Junge. Er war in das Mädchen verliebt. Er wollte ihr nicht das Handgelenk verstauchen, nicht ihre Finger brechen und sie beißen. Er hätte sie wieder losgebunden und gehen lassen. Edward ist ein guter Junge und hätte sie laufen lassen…
Nash legte den Hörer auf und nippte an seinem Drink. Er sah blass und bedrückt aus, viel besorgter als Teddy ihn je gesehen hatte. »Sie wollen die DNA«, sagte er.
»Sind sie sauer?«
»Sie wollen sie eben. Belassen wir es dabei. Zwei Agenten in Zivil kommen hierher. Sie schauen sich das an und behalten die Dinge im Auge.«
»Was ist mit dem Autokennzeichen?«
»Sie arbeiten daran«, sagte Nash. »Aber die Ergebnisse vom frühen Abend sind da und die sind nicht gut. Sie ließen Trisco durch ihre Computer in Washington laufen. Sie haben Telefonaufzeichnungen überprüft und nach einer Adresse gesucht. Trisco hat kein Bankkonto und keine einzige Kreditkarte, die auf seinen Namen ausgestellt ist. Er lebt ohne Krankenversicherung und hat auch keine Autoversicherung. Gemäß Finanzamt hat er seit fünf Jahren keine Steuererklärung mehr abgegeben. Nach seiner Entlassung aus Haverhills verschwand Edward Trisco von der Bildfläche.«
»Was haben sie gesagt?«
»Dass er ins Profil passt. Und er lebt unter einem anderen Namen.«
Teddy fühlte, wie in ihm der Zorn hochstieg. Wenn Andrews vor fünf Jahren seinen Job gemacht hätte, wäre das alles nicht passiert. Als Teddy bemerkte, dass seine Hand zitterte, nahm er sie auf den Rücken und lehnte sich gegen die Wand. Er dachte daran, dass Trisco Socken über den Schuhen trug, um seine Fußabdrücke im Schnee zu maskieren. Triscos Hirnschaden mochte messbar sein, aber auf welcher Skala? Teddy nahm an, dass das Kennzeichen, das er hinten an Triscos Auto gesehen hatte, nichts anderes als eine weitere Sackgasse war.
»Was ist mit den Krankenhäusern?«, wollte er wissen. »Er ist verwundet.«
»Jeder Agent ist auf der Straße.«
Auf dem Schreibtisch lag eine Videokassette, die Dr. Westbrook ihnen aus Washington geschickt hatte. Als Nash die Kassette in den Videorekorder schob lehnte sich Teddy gegen den Geschworenentisch und sah sich das Bild an, das auf dem Bildschirm erschien: Ein zwanzigjähriger Junge lag vor einem Nachtklub mit einer Überdosis Ecstasy auf einer Trage. Nash wirkte tief besorgt, als er das sah, und das aus gutem Grund. Der Körper des Jungen zitterte und verbog sich dann wie ein Fisch, der aus dem kühlen Meer gezogen und in eine heiße Bratpfanne geworfen wurde. Er wand sich von Seite zu Seite, bog den Rücken durch, fiel in sich zusammen und schnellte erneut in einer quälend beugenden Bewegung hoch, die er nicht kontrollieren konnte. Anstatt ruhig dahinzuscheiden, verlor der Junge über viele schmerzhafte Stunden immer wieder das Bewusstsein.
»Er verbrennt von innen heraus, als ob ihn jemand in einer Mikrowelle grillen würde«, sagte Nash mit ernster Stimme. »Er hat es nicht bis zum Krankenhaus geschafft, Teddy. Acht Stunden nach seinem Tod war seine Körpertemperatur immer noch über einundvierzig Grad.«
Teddy wandte sich ab und konnte nicht mehr hinsehen.
Nach einer Weile machte Nash den Fernseher aus und Teddy hörte das Eis klirren, als er sein Glas nahm. »Was glauben Sie, warum Trisco heute Nacht in Erscheinung trat?«, fragte Nash.
Es war die richtige Frage. Diejenige, die alles veränderte.
Er fing an frustriert auf und ab zu gehen. »Er weiß, dass wir hinter ihm her sind.«
»Dem stimme ich zu«, sagt Nash. »Aber ich finde es beunruhigend. Besonders wenn man bedenkt, was in einer dieser Plastiktüten ist.«
Teddy folgte Nashs Blick zu der Samenprobe auf dem Geschworenentisch. Er wusste, worauf Nash hinauswollte. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen – die Möglichkeit, dass Trisco Rosemary nach nur fünf Tagen satthatte.
»Wir brauchen noch mehr Hilfe, nicht wahr?«, sagte Teddy.
»Das glaube ich auch.«
»Aber was ist mit Andrews?«
Nash stellte seinen Drink ab und schob ihn zur Seite. »Ich meinte damit nicht, dass wir uns an den Staatsanwalt wenden sollten«, sagte er. »Ich dachte dabei an die stellvertretende Staatsanwältin Powell. Ich glaube, Sie werden sehen, dass sie jetzt bereit ist Ihnen zuzuhören.«
Ihre Augen trafen sich. Als Teddy seine Jacke anzog konnte er nicht anders, als dem zuzustimmen.