ACHTUNDFÜNFZIG

Es war halb vier Uhr morgens. Teddy warf seine Aktentasche ins Auto, ließ den Motor an und schaltete die Heizung ein. Er hatte Powells Festnetznummer nicht, wusste aber, dass sie ein Mobiltelefon bei sich trug. Falls sie sich nicht meldete, hatte er ihre Adresse.

Er klappte das Handy auf und bemerkte, dass es ausgeschaltet war. Als er es anmachte, sah er das Symbol für eine neue Mitteilung auf dem Display blinken und gab den Code ein. Es gab nur einen Anruf, der von Powell um zweiundzwanzig Uhr dreißig kam. Nachdem die Suche nach Harris Carmichael in die Wege geleitet worden war, hatte die Vermissteneinheit herausgefunden, dass Teddy mit einem Foto von jemandem zu Bennys Café Blue zurückgekehrt war. Powell wollte den Namen und klang verärgert.

Da sind wir schon zwei, dachte Teddy. Er tippte ihre Nummer ins Telefon. Powell nahm nach dem fünften Klingeln ab. Sie klang müde.

»Wir müssen reden«, sagte er.

»Ja, das müssen wir.«

»Ich habe den Mann getroffen, der Rosemary aus dem Café hinaus gefolgt ist.«

»Wo?«, fragte sie. Ihre Stimme wurde hektisch.

»Bei meinem Haus«, sagte er. »Er weiß, wo ich wohne.«

Es verging eine Weile. Es folgte eine lange Stille, die vom Geräusch einer Polizeisirene im Hintergrund begleitet wurde. Teddy fragte sich, ob sie sogar im Winter bei offenen Fenstern schlief.

»Wo bist du?«, fragte sie.

»In der Stadt. Vor Nashs Büro.«

»Ich arbeite, Teddy. Ich bin nicht zu Hause.«

Er zündete sich eine Zigarette an, das schwache Bild von Powell im Bett fiel wie durch einen Windstoß auf der leeren Straße in sich zusammen.

»Ist Andrews bei dir?«

»Nein«, sagte sie. »Ich bin bei den Detectives Vega und Ellwood. Wir haben Harris Carmichael gefunden.«

»Was sagt er?«

»Nicht viel.«

Das stand nun im Raum. Teddy riss das Fenster auf. Ihm wurde klar, dass Carmichael tot war. Nash hatte Recht. Powell wäre endlich bereit zuzuhören. »Wo bist du?«, fragte er.

»Am westlichen Ende der Spruce Street. Da gibt es einen Park beim Fluss.«

»Ich werde in fünf Minuten da sein.«

Er schob das Handy in seine Tasche und beschleunigte trotz der roten Ampel über die Kreuzung. Edward Trisco hatte Harris Carmichael umgebracht. Er musste sie letzte Nacht im Café zusammen gesehen haben. Sie saßen am Tisch beim Fenster. Derselbe Tisch, den Trisco benutzt hatte, um dort zu sitzen und Rosemary bei ihrem Training zu beobachten. Ein Bild kam hoch, zusammen mit einem Schaudern, und Teddy erinnerte sich plötzlich, wo er Trisco zuvor schon gesehen hatte: auf der Straße, als er und Powell das Café verlassen hatten. Als sie an der Ecke angehalten hatten, stand Trisco nur ein paar Meter hinter ihnen. Er hatte einen Schal über seinem Mund, aber der Zombie-Ausdruck in seinen Augen war derselbe. Trisco war ihnen an dem Abend zu seinem Büro gefolgt und hatte herausgefunden, wer er war.

Teddy verzog das Gesicht, als er an die Gesetzesübertretungen dachte, an Triscos Eindringen in seinen Besitz und sein Leben; daran, dass Teddy selbst oder sogar seine Mutter wie Carmichael der nächste Meilenstein in der verpfuschten Untersuchung von Darlene Lewis’ Mord hätte sein können – markiert, verpackt und ins Leichenschauhaus abtransportiert. Wenn er Powell traf, müsste er seine Ungeduld kontrollieren, seinen Ärger ein paar Stufen zurückschrauben, einen Weg finden, seine Verfassung einzuordnen und durchhalten.

Er blickte auf den Tacho und ging vom Gas, wobei er auf eisige Stellen achtete. Er hörte, wie das Steinsalz gegen die Unterseite des Wagens schlug. Als er nach rechts in die Spruce Street abbog, sah er drei Häuserblocks weiter die Lichter: Polizeiwagen, Tatorttechniker, der Van des Gerichtsmediziners – es würde unmöglich sein, einen Platz zum Parken zu finden.

Als er eine Lücke zwischen den Autos fand und den Feuerhydranten sah, fuhr er an die Seite, schnappte seinen Aktentasche und eilte zu Fuß weiter.

Die Presse wurde zur Fünfundzwanzigsten Straße zurückgedrängt, der Park war von einem hellgelben Tatortband umgeben. Teddy konnte Powell bei Vega und Ellwood stehen sehen, die zusahen, wie der Gerichtsmediziner die Leiche in den Sack packte. Als Teddy unter dem Absperrband durch wollte und ein Polizist protestierte, sah Powell hoch und gab ihr Okay. Sie trug einen Skianorak über einem schwarzen Rock und einer Strumpfhose. Ihr blondes Haar und ihre blaugrauen Augen waren hell, strahlend und lebendiger als der Mond. Aber ihr Gesichtsausdruck passte zu dem der Detectives. Es war nicht leicht; einfach nur grauenvoll und schwer.

Teddys Blick wanderte zum Leichensack, der bereits auf der Bahre lag. Vega zog den Reißverschluss auf und drückte das Plastik auseinander. Als Ellwood mit einer starken Taschenlampe über die Leiche ging, versuchte Teddy nicht zu zucken.

Harris Carmichael war verstümmelt worden. Sein gefrorener Körper war übersät mit Stichwunden. Seine Augen waren geöffnet, aber milchig und sahen aus, als ob sie aus seinem Kopf herausgesprungen wären. Sein Mund und die Nasenlöcher waren zugepresst und unnatürlich schief.

»Was ist mit seinem Mund und seiner Nase los?«, fragte Teddy.

»Sie wurden zugeklebt«, sagte Vega. »Der Rest wurde einfach so für den Nervenkitzel gemacht.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Ein Hund aus der Nachbarschaft«, sagte Powell. »Carmichael war im Schnee vergraben. Lass uns jetzt reden.«

Er folgte ihnen zu einem Zivilfahrzeug, das mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Vega und Powell nahmen mit selbstsicherer Haltung vorne Platz. Teddy stieg mit Ellwood hinten ein, öffnete seine Aktentasche und zog das Foto heraus, das Jill aus dem Internet ausgedruckt hatte.

»Sein Name ist Edward Trisco und er kommt aus einer reichen Familie. Er hatte schon einmal mit dem Staatsanwalt zu tun. Das Geständnis von Holmes und die Beweise, die ihr in Darlene Lewis’ Haus gesammelt habt, sind Quatsch. Trisco ist der, den ihr sucht.«

Sie tauschten Blicke aus, wie Teddy erwartet hatte, die er aber ignorierte.

»Auf Ihrer Jacke ist Blut«, sagte Ellwood, und musterte ihn sorgfältig. Der Detective schaltete seine Taschenlampe ein, folgte dem Spritzer auf der Vorderseite von Teddys Mantel nach unten, bis er zum Riss direkt über der Tasche kam. Er steckte den Finger durch das Loch und untersuchte die Form des Schnittes, während Powell und Vega zusahen. Der Stoff war aufgeschlitzt und zerrissen worden. Triscos Messer war scharf.

In der nächsten halben Stunde erzählte ihnen Teddy alles, was er über Edward Trisco III wusste. Dass er ihn an jenem Abend auf der Straße gesehen hatte, nachdem er und Powell mit Carmichael im Café gesprochen hatten. Dass die stellvertretende Managerin ihn auf dem Foto identifiziert hatte. Triscos Geschichte mit dem Modell vor fünf Jahren und eine vertrauliche Zusammenfassung dessen, was Teddy und Nash vom Psychiater erfahren hatten. Vega verbrachte die meiste Zeit damit, Kaffee aus einem Styroporbecher zu trinken und den Kopf zu schütteln. Ellwood blieb still, lehnte sich gegen die Tür, um Abstand zu haben, und studierte Teddys Verhalten. Powell wollte den Beweis sehen, dass Andrews Geld von der Trisco-Familie erhalten hatte. Als er ihr die Unterlagen zeigte und auf das Datum hinwies, wurden ihre Augen schärfer und sie reichte die Papiere an Ellwood weiter, der seine Taschenlampe wieder anmachte.

Es war das erste Mal, dass Teddy von Anfang bis Ende den Fall durchging. Vega und Ellwood waren besonders an Holmes’ Albträumen interessiert. Beide Detectives waren anwesend, als Holmes das Geständnis gegenüber Andrews ablegte, und hatten gehört, wie Holmes detailliert über seine Träume gesprochen hatte. Was Teddy ihnen gerade erzählte, widerlegte nicht die physischen Beweise gegen Holmes oder gar sein Geständnis, das er Darlene Lewis, Valerie Kramp und zehn andere ermordet hatte. Aber Teddy konnte die besorgten Blicke in ihren Gesichtern sehen, die Enttäuschung und Beunruhigung. Es bestand die Möglichkeit, dass sie einen Fehler gemacht hatten; Der Schleier lüftete sich plötzlich. Jeder wusste, dass mit genügend Arbeit Geständnisse erwirkt werden konnten, ob sie stimmten oder nicht. Teddy war sicher, dass er zumindest ihre Aufmerksamkeit hatte.

Als er fertig war, griff er nochmals in seine Aktentasche und übergab Vega die Todesdrohung, die er mit der Post bekommen hatte, verschlossen in einer Plastiktüte.

Der Gerichtsmediziner klopfte an das Fenster auf der Fahrerseite. Vega drehte sich um und ließ das Fenster herunter.

»Irgendein Arschloch hat auf dem Dach eine Kamera aufgestellt«, sagte der Mediziner. »Ich will die Leiche hier wegbringen. Haben Sie ein Problem damit?«

Sie schauten durch die Windschutzscheibe, suchten die Dachlinien ab und entdeckten die Videokamera oben auf einem Stadthaus an der Ecke. Einer der lokalen Fernsehsender musste dem Besitzer trotz der ungewöhnlichen Stunde etwas bezahlt haben. Der Kameramann konnte den gesamten Tatort von dort oben aus überblicken.

Vega nickte dem Mediziner zu, drehte das Fenster leicht hoch und zündete sich eine Zigarette an. Er lehnte sich gegen die Tür und untersuchte den Brief und den Umschlag, den Teddy von Colt 45 in der Somebody Street erhalten hatte. Nach einer Weile gab er ihn an Powell weiter, ohne irgendeine Emotion zu zeigen. Er dachte über das Ganze nach, das Flackern in seinen Augen bewegte sich wie die Positionslichter eines Flugzeugs, das über den Mitternachtshimmel zieht.

Teddys Handy klingelte. Es war Nash, der aus seinem Büro anrief und Neuigkeiten vom FBI hatte. Als Teddy auflegte, schob er seine Aktentasche zur Seite und lehnte sich im Sitz zurück. »Das Kennzeichen an Triscos Auto wurde auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen gestohlen.«

»Und was gibt es sonst noch Neues?«, wollte Ellwood wissen.

»Das Auto, das sie auf dem Parkplatz daneben gefunden haben«, sagte er. »Es gehört Rosemary Gibb.«