ACHT

Teddy goss sich eine Tasse Kaffee ein und lief den Flur hinunter zu seinem Büro. Bevor er noch seinen Schreibtisch erreichte, hatte Brooke Jones ihn schon gewittert und überfiel ihn.

»Warum haben Sie mich gestern Abend nicht zurückgerufen?«, fragte sie. »Wir arbeiten hier professionell. Wenn jemand eine Nachricht hinterlässt, wird von Ihnen erwartet, dass Sie zurückrufen. Und sagen Sie mir nicht, dass Sie die Nachricht nicht bekommen haben.«

Er setzte sich und ließ ihre Standpauke über sich ergehen, während er den heißen Kaffee schlürfte und aus dem Fenster starrte. Es war halb neun und es war bereits seine dritte Tasse. Der Wodka hatte nicht geholfen. Es war eine unruhige Nacht geworden. Er hatte gegen seine Dämonen und Albträume angekämpft und war jede Stunde in kalten Schweiß gebadet aufgewacht. Um fünf Uhr morgens waren die Bettlaken bis auf die Matratze durchnässt und das war genug. Er hatte beschlossen, den Tag früh zu starten, sich angezogen und war in die Stadt gefahren. Es war ein warmer, sonniger Tag – das Wetter war ebenso verrückt wie Brooke Jones.

»Sie hören mir nicht zu?«, fragte sie. »In zwei Wochen ist der Prozess und Sie haben immer noch die Antragsunterlagen. Ich will Ihre Akten. Ich will alle, sofort.«

Er drehte sich vom Fenster weg und sah sie endlich an. Sie war schon wieder in Eile. Sie regte sich ganz umsonst auf und warf ihm Befehle an den Kopf.

»Wer sagt, dass es Ihr Fall ist, Brooke?«, fragte er ruhig.

»Ich war gestern im Gericht«, keifte sie zurück. »Es ist mein Fall. Barnett hat es gesagt.«

»Das war gestern und ich schätze sehr, was Sie für mich getan haben.«

»Wovon reden Sie? Ich habe gestern Abend mit Barnett gesprochen. Er sagte, es sei mein Fall, bis Sie mit dem fertig sind, was Sie gerade für ihn tun. Er entzieht Ihnen alle Fälle.«

Teddy wartete schon seit über einer Stunde auf Barnett. Als er versucht hatte, ihn über das Telefon zu erreichen, war wieder nur der Anrufbeantworter rangegangen, genau wie letzte Nacht. Teddys Wut hatte nachgelassen und war einer aufkommenden Sorge um den Mann gewichen. Jetzt kam die Wut wieder zurück, zusammen mit dem Gefühl, dass er ausgenutzt wurde. »Um wie viel Uhr haben Sie gestern Abend mit ihm gesprochen?«, fragte er.

»Nach elf. Nachdem Sie mich nicht zurückgerufen haben. Wo sind also die Akten?« Sie schob seine Post beiseite und fing an seinen Schreibtisch durchzugehen, als wäre es ihr eigener.

»Hören Sie bitte auf damit«, sagte er.

Sie nahm eine andere Akte auf und öffnete sie. Anscheinend hatte Sie ihn nicht verstanden. Teddy stand auf und trat zwischen den Schreibtisch und sie. »Raus«, sagte er.

Sie hielt inne und schaute ihn an. Ihre Augen verengten sich. »Das ist ein Gefallen«, sagte sie. »Wer will sich schon mit einem Schadensfall herumschlagen? Es ist mir völlig egal.«

»Wenn es Ihnen egal ist, dann hören Sie auf zu jammern und verschwinden Sie.«

»Ich bin schon länger hier als Sie. Ich habe mehr Erfahrung. Warum bittet Barnett immer Sie um Hilfe, anstatt zu mir zu kommen?«

»Ich weiß es nicht, Brooke. Ich bin kein Hellseher. Ich will nur, dass Sie jetzt gehen.« Er hielt ihrem Blick stand und wusste, dass sie vor Wut kochte.

Als sie sich schließlich umdrehte und abdampfte, lehnte er sich zurück und seufzte hinter ihr her. In seinem Kopf hämmerte es – hinter seinen Augen und direkt unter seiner linken Schläfe. Er öffnete seine Aktentasche, holte ein Glas Aspirin heraus und zog den Deckel ab. Während er die Pillen mit noch mehr heißem Kaffee hinunterspülte, drehte er sich von der Tür weg und besah sich sein Büro. Obwohl es nur halb so groß war wie das Büro eines Partners, war er dankbar für das Fenster und für die zumindest teilweise Sicht auf die Stadt. Er schob das Aspiringlas in seine Jackentasche, lehnte sich wieder im Stuhl zurück und starrte auf das Gebäude auf der Straße gegenüber. Er würde Jones die Akten geben, beschloss er, aber nur, wenn er musste. Und erst, nachdem er mit Barnett gesprochen hatte. Es bestand immer noch eine Chance, dass Barnett Oscar Holmes ab jetzt selbst übernahm. Es gab noch eine Chance, dass Teddy wieder zurück in sein altes Leben finden würde, das er hatte, bevor er das Todeshaus in der Scottsboro Road betreten hatte.

Jill Sykes klopfte an die Tür und warf ihm einen besorgten Blick zu. »Er ist hier«, sagte sie. »Er will dich sehen.«

Teddy folgte ihr in den Flur und ignorierte wie immer ihre natürliche Anziehungskraft auf ihn. Als er aber an ihr vorbei glitt, konnte er das Shampoo in ihrem hellbraunen Haar riechen, den zarten Duft ihres Parfums. Er bemerkte das Funkeln in ihren Augen und ihr kantiges Gesicht. Sie sah frisch aus, als ob sie die ganze Nacht durchgeschlafen hätte.

Sie lächelte ihn an und wünschte ihm dann Glück. Er nickte zurück und ging den Gang hinunter auf die andere Seite des Stockwerks. Als er um die Ecke ging, sah er, wie Brooke Jones ganz zerknirscht aus Barnetts Büro herauskam. Teddy steckte den bösen Blick weg, als sie sich begegneten, und ging weiter. Er fand Barnett am Schreibtisch sitzend, wie er einen Ordner durchging. Teddy trat näher, setzte sich aber nicht.

»Ich dachte, wir wollten letzte Nacht reden«, sagte Teddy in ausgeglichenem Ton.

Barnetts Blick blieb auf den Ordner gerichtet, er überflog schnell eine Seite und blätterte weiter. »Tut mir Leid, Teddy. Ich hatte viel zu tun. Wie schlimm war es?«

»Etwa so, wie Sie es erwartet haben«, sagte er, »wie man es bei Kannibalismus erwarten würde. Wollen Sie mir sagen, was los ist, oder soll ich raten?«

Endlich sah Barnett auf. Aber nicht zu Teddy, sondern zu Larry Stokes, dem Mitbegründer des Büros, der offensichtlich besorgt zur Tür hereinspähte. Stokes war zehn Jahre älter als Barnett und sein Haar bereits so weiß wie die Wolken. Und er war gesellschaftlich angesehen, was hieß, er verbrachte mehr Zeit damit Klienten zu gewinnen und die politischen Kontakte des Büros aufrechtzuerhalten, als mit Rechtsfällen. Larry Stokes war nie so sehr Rechtsanwalt gewesen, aber er spielte seine Rolle gut und das Arrangement erwies sich seit fünfundzwanzig Jahren als erfolgreich. Stokes brachte die Klienten. Barnett erledigte das Juristische, nachdem sie eine Vereinbarung unterschrieben hatten, und die Buchhaltung der Kanzlei erhielt ihren Anwaltsvorschuss.

»Ich wollte nicht lauschen«, sagte Stokes zu Barnett. »Gibt es ein Problem?«

»Nein, Larry. Alles ist gut. Treffen wir uns zum Mittagessen?«

»Ich hoffe.«

»Gut. Ich sehe dich dann.« Barnett täuschte ein Lächeln vor, schloss die Tür und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Teddy behielt ihn im Auge. Barnett sah blass und erschöpft aus. Teddy nahm an, dass der Mann, genauso wie er, die ganze Nacht aufgeblieben war.

»Ich habe Larry von diesen Neuigkeiten noch nichts gesagt«, meinte Barnett. »Holmes hat eine Vorgeschichte … er ist geisteskrank. Er hätte schon in Gewahrsam genommen werden sollen, bevor es so weit kam, bevor er irgendjemanden verletzte.

Teddy warf einen Blick auf den Ordner, den Barnett vor der Brust hielt.

»Es ist ein Exemplar der Mordakte«, sagte Barnett, klappte den Ordner zu und überreichte ihn Teddy. »Zumindest der Anfang davon. Es gehört ganz Ihnen. Ich möchte, dass Sie heute Nachmittag das Büro des Staatsanwaltes anrufen und sicherstellen, dass sie auf dem neuesten Stand gehalten wird.«

Es gab zwei Stühle vor Barnetts Schreibtisch. Teddy schob einen weg und setzte sich, ohne den Ordner aufzuschlagen.

»Sie arbeiten schnell«, sagte Barnett. »Sie haben einen Zeugen und die Fingerabdrücke passen zu denen auf dem Körper und auf der Mordwaffe. Dasselbe gilt für die Abdrücke der Lippen. Wenn es noch Zweifel daran gab, ob es Oscar Holmes war, dann sind die jetzt ausgeräumt. Ich war letzten Abend bei seiner Familie. Alles, was sie wollen ist, dass er die Hilfe bekommt, die er braucht. Eher eine Anstalt als ein Gefängnis. Ein Leben ohne die Möglichkeit der bedingten Haftentlassung statt einer Spritze in den Arm.«

»Der Staatsanwalt wird auf gar keinen Fall einen Deal machen«, sagte Teddy. »Nicht mit dem Treffer, den er gestern gelandet hat. Nicht, wenn er der nächste Bürgermeister der Stadt werden will.«

»Sie glauben es nicht?«

Es war zwar eine Frage, aber für Teddy war klar, dass Barnett die Situation genauso gut verstand wie er. Staatsanwalt Alan Andrews hatte keinen Grund, einen Deal einzugehen.

»Wir müssen das Richtige tun«, sagte Teddy. »Wir müssen das einem Anwalt für Strafrecht übergeben. Jemand, der mehr Erfahrung damit hat als wir.

»Ich wünschte, wir könnten, glauben Sie mir.«

»Warum können wir das nicht?«

Barnett seufzte, lockerte die Krawatte und knöpfte seinen Kragen auf. »Es ist kein Gefallen für einen Klienten, Teddy, sondern für einen Freund. Einer meiner ältesten Freunde. Ich kenne die Familie schon, seit ich so alt war wie Sie. Sogar noch jünger als Sie. Wenn ihr Name herauskäme, ginge er durch die Presse. Fernsehkameras wären überall in ihrem Vorgarten. Ihr Ruf in dieser Stadt wäre zerstört. Ich will nicht, dass sie das durchmachen müssen. Es ist schwer genug für sie, dass es Holmes ist.«

»Wenn sie versuchen, Schlagzeilen zu vermeiden, sagen Sie ihnen, dass sie es vergessen können. Ich sah, wie das Mädchen zugerichtet war, was er ihr angetan hat. Vergessen Sie die Zeitungen. Vergessen Sie die Fernsehnachrichten. Das wird in Kürze übers Kabelfernsehen gehen.«

Er sah Barnetts Anspannung, sah die Angst in seinen Augen. »Glauben Sie wirklich?«

Teddy nickte und hoffte, dass er ihn nicht verletzt hatte. Die Realität schien offensichtlich zu sein. Darlene Lewis war ein hübsches junges Mädchen in einem Alter, wo ihre Hormone heiß waren. Sie hatte Holmes seit mindestens sechs Monaten mit ihrem Körper verhöhnt, vielleicht sogar schon länger. Holmes ertrug es, bis seine Sicherungen durchbrannten, und dann schlug er zu wie ein Tier von einem anderen Planeten. Sobald die Details bekannt würden, war jede Hoffnung, die Medien fernzuhalten, absurd.

»Wir haben das jetzt nun mal am Hals«, sagte Barnett. »Wir werden das Beste, was wir können, tun.«

Teddy ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder und dachte, dass er es auch am Hals hatte, ob er wollte oder nicht.

Barnett beugte sich über seinen Schreibtisch. »Als Sie Holmes letzte Nacht trafen, hat er da immer noch auf einem Gerichtsverfahren bestanden?«

Teddy nickte.

Barnett runzelte die Stirn und dachte darüber nach. »Wir haben genügend Zeit, mit ihm zu sprechen, bevor wir irgendwelche Entscheidungen treffen«, sagte er. »Falls wir Hilfe brauchen, werden wir sie bekommen.«

»Von wem?«

»Ich habe letzte Nacht mit William Nash gesprochen, aber er hat abgelehnt. Ich hatte gehofft, Sie würden es heute Morgen nochmals bei ihm versuchen. Sie waren auf der Penn State. Er mag ja nicht mehr als Rechtsanwalt tätig sein, aber er ist immer noch der beste Verteidiger der Stadt. Ich glaube, es ist einen Versuch wert.«

Teddy dachte darüber nach. William S. Nash und sein Rechts-Workshop an der juristischen Fakultät von Penn State waren für den Beweis verantwortlich, dass Staatsanwalt Alan Andrews einen Unschuldigen strafrechtlich verfolgt und in den Tod geschickt hatte. Man konnte darauf wetten, dass Andrews Nash dafür hasste. Falls Nash bereit war zu helfen, bestand eine Chance, dass der Staatsanwalt sich auf einen Deal einlassen würde, um Nash loszuwerden. Der Staatsanwalt würde ein oder zwei Wochen unnachgiebig sein und den Mord von Darlene Lewis bearbeiten, bis sich die Schlagzeilen zu seinen Gunsten geändert hatten und sein Fehler eine alte Geschichte geworden war. Dann könnte er dem Druck nachgeben und für einen Deal bereit sein… Andrews könnte die schnelle Verhaftung von Holmes als Erfolg verbuchen und den Mann für immer wegsperren. Und Holmes würde der Todesstrafe entgehen und die psychiatrische Behandlung erhalten, die sich seine Familie erhoffte. Barnetts Idee, Nash ins Spiel zu bringen, war eigentlich brillant und wahrscheinlich das Ergebnis einer durchwachten Nacht, in der er den Fall in allen Einzelheiten durchgegangen war. In aller Ruhe, wie sich Teddy vorstellte, mit abgestellten Telefonen und einem Drink in der Hand.

Teddy sah hoch und erwischte Barnett, wie er ihn anstarrte. Er hatte ihn beobachtet, wie er es durchdachte, als ob er mit einem guten Blatt in der Hand am Pokertisch sitzen würde.

»Verstehen Sie unsere Strategie?«, fragte Barnett.

Teddy nickte und lächelte sogar. Barnett hatte einen schnellen Ausweg für alle Betroffenen gefunden. Wenn Nash einmal mit dabei war, war vermutlich der einzige Beteiligte, der nicht mitspielen würde, Oscar Holmes. Aber Barnett hatte wahrscheinlich auch in dieser Hinsicht Recht. Sie hatten noch viel Zeit, um mit Holmes zu arbeiten. Je länger er in einer Zelle saß, desto gefügiger würde er sein.