EINUNDVIERZIG
Als Teddy das Büro betrat, war Nash nicht da. Stattdessen saß da jemand, den er nicht kannte, am Geschworenentisch mit der Mordakte und einer Kopie ihres anfänglichen Profils. Der Mann sah ihn an und lächelte. Teddy vermutete, dass er um die fünfzig war. Sein hellbraunes Haar war mit Grau durchzogen, seine dunklen Augen funkelten vergnügt.
»Sie müssen Teddy sein«, sagte er und reichte ihm die Hand. »Nash ist bei einer Prüfung. Er wird in ein paar Minuten wieder da sein. Ich habe den Vormittag damit verbracht, das alles durchzulesen und versuche, das Ganze aufzuarbeiten.«
Der Mann stellte sich als Dr. Stanley Westbrook vor, ein Kriminalpsychologe von der Verhaltensforschungsabteilung des FBI, der die Reise mit dem Metroliner von Washington her gemacht hat, als Gefallen für seinen Freund. Er sagte, er wäre die meiste Zeit seiner Laufbahn ein Student für kriminelles Verhalten gewesen und hätte in der Vergangenheit oft mit Nash gearbeitet. Als er einige der Fälle erwähnte, mit denen er in den letzten zehn Jahren zu tun hatte, erkannte Teddy die meisten von ihnen und wusste, dass Westbrook echt war.
Auf dem Tisch lag eine Ausgabe der Daily News. Als Teddy einen Blick darauf warf, versuchte er, aus der Anwesenheit des Psychiaters etwas Zuversicht zu schöpfen, konnte es aber nicht. Es fühlte sich an, als ob sie sich zu langsam bewegten, als ob ihre Füße in Haufen von trockenem Sand steckten.
»Es gab eine undichte Stelle«, sagte er.
»Nash hat mir davon erzählt«, meinte Westbrook und blickte auf die Zeitung. »Er bewundert Sie übrigens. Er vertraut Ihnen. Er wünschte, Sie wären sein Student gewesen und glaubt, dass wir Sie anwerben sollten.«
Teddy nahm am Geschworenentisch Platz und reichte ihm den Bericht des Gerichtsmediziners, den Powell ihm gegeben hatte. Als Westbrook die Akte öffnete und die Autopsie-Ergebnisse überflog, musste Teddy unweigerlich an das denken, was er vor gerade einer halben Stunde zu Powell gesagt hatte. Obwohl ein Leben auf dem Spiel stand, hatte er sich schlecht benommen und war nicht sehr stolz darauf.
Westbrook blätterte den Bericht durch, bis er zu den toxikologischen Ergebnissen kam und den Kopf schüttelte. Teddy bemerkte die Kaffeetasse auf dem Tisch neben dem Aschenbecher.
»Das ist beunruhigend«, sagte der Psychiater und sah immer noch auf den Bericht.
Die Tür ging auf, Nash kam mit einem Bündel Papiere herein und ließ es auf den Schreibtisch fallen. »Tut mir leid, ich bin zu spät«, sagte er. »Hattet ihr beide Gelegenheit euch kennenzulernen?«
Westbrook sah vom Bericht auf und nickte.
»Gut«, sagte Nash, nahm sich eine frische Zigarre und gesellte sich zu ihnen an den Tisch. »So, wo stehen wir?«
»Ich glaube, du hast Recht«, sagte Westbrook. »Ihr sucht nach einem Mann um die zwanzig oder dreißig mit einer schweren psychischen Erkrankungsvorgeschichte. Er wurde als Kind missbraucht oder erlitt in seiner Kindheit eine große emotionale Krise. Wenn wir einen Blick auf seine Kindheit zurückwerfen könnten, bin ich mir sicher, dass wir auch zahlreiche Vorkommnisse von Tierquälerei finden würden.«
»Wie stehen die Chancen, dass er ein Künstler ist?«, fragte Teddy. »Oder sogar ein Rechtsanwalt? Haben Sie an die Tattoos gedacht oder ist das zu weit hergeholt?«
»Ich glaube überhaupt nicht, dass das zu weit hergeholt ist.«
Teddy rief sich den Tatort im Lewis-Haus ins Gedächtnis. Das Wohnzimmer auf der anderen Seite des Flurs mit den großartigen Gemälden von Seurat, Gauguin und Cezanne, die an der Wand hingen. Er hatte zuvor nicht daran gedacht. Er hatte sie gesehen, aber nicht deren Bedeutung registriert. »Ein Sessel war in Richtung der Gemälde gedreht«, sagte er. »Jemand hat den Sessel so gedreht, dass er auf die Kunstwerke sehen konnte. Damals dachte ich, es sei der Eigentümer gewesen.«
Nash und Westbrook tauschten Blicke aus und nickten, als ob diese Erkenntnis sie beeindrucken würde. Für Teddy war diese neue Beobachtung wie jede andere. Sie bewies gar nichts, aber es war ein weiteres Zeichen.
Westbrook zündete sich eine Zigarette an. »Nash hat mir von Ihrer Theorie erzählt und ich stimme ihr zu. Darlene wurde wegen der Tattoos auf ihrer Haut abgelehnt. Da es gut möglich ist, dass ihr es mit einem Künstler zu tun habt, kommt hier ein gewisser Sinn für Reinheit ins Spiel. Valerie Kramp ist eine andere Geschichte. Sie hat Zeit mit dem Mörder verbracht. Sie hat für ihn Modell gesessen. Als sie aufgebraucht war, hat er sie entsorgt. Aber denkt daran: Valerie Kramp war da schon Teil seines Werks, wie etwas Heiliges, deshalb wurde sie dort, wo er sie gefunden hatte, ins Wasser gelegt und gereinigt.«
»Was ist mit Holmes?«, fragte Nash.
»Aufgrund deines Profils würde ich sagen, dass er nicht ins Muster oder ins Gebiet der Untersuchungen passt. Natürlich habe ich nie mit dem Mann gesprochen und es besteht immer die Möglichkeit, dass ich mich irre. Was mich am meisten interessiert, ist der Zustand der Leiche, die im Fluss gefunden wurde.«
»Der Schnitt von der Brustmitte nach unten«, sagte Teddy.
Der Psychiater nickte und wandte sich an Nash: »Teddy hat den toxikologischen Bericht mitgebracht«, sagte er. »Das Aufschneiden des Opfers könnte eine größere Bedeutung haben, als es scheint. Der Gerichtsmediziner hat Drogen in ihrem Organismus gefunden. Man kann sicher davon ausgehen, dass sie auch in seinem Organismus zu finden sind. Ihr sucht nach einem Drogenkonsumenten und euer Profil sollte entsprechend erweitert werden. Valerie Kramp ist vielleicht durch Strangulation ums Leben gekommen, aber sie war auch am Rande einer Überdosierung von Ecstasy.«
Das war neu. Teddy hatte nicht auf den toxikologischen Bericht geschaut, den Powell ihm vorher gegeben hatte. Er war zu sauer auf sie, zu sauer auf sich selbst, weil er sie so behandelt hatte; außerdem war er spät dran. Aber Teddy wusste etwas über Ecstasy. Es war unter seinen Klassenkameraden in der Schule meist die Droge der Wahl. Er hatte sie ein paar Mal selbst benutzt, aber damit aufgehört, als er eines Morgens völlig deprimiert aufgewacht war. Er kannte jedoch die Auswirkungen der Droge. Er kannte ihre Macht und was eine einzige Dosis anrichten konnte.
»Er benutzt Ecstasy als Kontrolle seiner Opfer«, sagte Teddy. »Er benutzt die Droge, um sie gefügiger zu machen.«
Westbrook sah wieder zu Nash, dann drehte er sich zurück. »Aber Ecstasy hat einen gefährlichen Nebeneffekt. Über die Auswirkung eines chronischen Missbrauchs auf das Gehirn hinaus, bewirkt die Droge einen beträchtlichen Anstieg der Körpertemperatur. In einer Überdosis wie dieser kochte Valerie buchstäblich innerlich.«
»Dann könnte das eine weitere Erklärung dafür sein, dass er ihre Leiche ins Wasser geworfen hat«, sagte Nash.
Westbrook lehnte sich im Stuhl zurück. »Und dafür, dass er sie aufgeschnitten hat. Dampf wäre aus ihrem Körper ausgetreten. Ihre inneren Organe wären zu heiß gewesen, um sie zu berühren. Nicht zu vergessen die sexuellen Implikationen des Messers.«
Teddy verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als sich das Entsetzen in ihm ausbreitete. Wie krank das war! Die Vorstellung, dass die Morde ein Resultat der verdrehten sexuellen Fantasien des Killers waren.
Als Westbrook Nash den toxikologischen Bericht zeigte und mit ihm die Ergebnisse besprach, sah sich Teddy noch mal die Fotografien an, die an der Wand hingen – die Gesichter der Mädchen, die sie von der anderen Seite beobachteten. Sie schienen so vertraut, so unschuldig. Ihnen lief die Zeit weg.
Er wandte sich wieder dem Psychiater zu: »Sagen Sie uns, wen wir suchen. Geben Sie uns einen guten Tipp.«
Westbrook legte den toxikologischen Bericht nieder und faltete seine Hände auf dem Geschworenentisch. »Ihr sucht nach einem Killer, der wie ein tollwütiger Hund ist«, sagte der Psychiater. »Ein richtiger Scheißkerl mit Größenwahn. Jemand, dessen Paranoia jenseits von Gut und Böse ist. Jemand, der an Halluzinationen leidet, nicht unbedingt von den Drogen, die er nimmt, sondern durch seine Krankheit und aufgrund dessen, wie er als Kind misshandelt wurde. Wenn Sie dieses Individuum je treffen würden, wüssten Sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Wenn Sie dieses Individuum je treffen würden, sollten Sie wissen, wie man mit einer Waffe umgeht. Sie halten nicht nach einem menschlichen Wesen Ausschau, Teddy. Er ist darüber hinaus. Sie suchen nach einem Tier.«
Dieses Mal waren es Nash und Teddy, die Blicke tauschten. Unheilvolle und ernüchternde Blicke. Die Situation erschien so grauenvoll, dass Teddy es in seinem Mund schmecken konnte.