VIERUNDZWANZIG

Jim Barnett legte den Hörer auf und ging nochmals die vorgemerkten Änderungen durch, die Nash verlangte. Vor ihrem Gespräch dachte er, dass die Pressemitteilung perfekt wäre. Aber jetzt, da er sie ein zweites Mal las, schien der Text noch perfekter zu sein. Nashs Vorschläge waren subtil, aber notwendig, wie er merkte. Ein Wort hier und ein anderes Wort dort. Es waren die Beobachtungen eines wahren juristischen Genies und Barnett lachte. Er bewunderte Nash und freute sich darauf, mit ihm zu arbeiten. Als er darüber nachdachte, schüttelte er den Kopf und erhob sich von seinem Schreibtisch. Er war mehr als dankbar, dass Teddy zu ihm durchgedrungen war.

Es war nach zwanzig Uhr. Seine Assistentin Jackie war vor zwei Stunden nach Hause gegangen, hatte aber die Pressemitteilung vorbereitet und den Computer angelassen. Barnett musste nur noch die Änderungen einfügen und auf Senden klicken. Jackies Computer würde sich um den Rest kümmern.

Er setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete die Schreibtischlampe ein. Wegen der Energiekrise waren die Deckenlichter im Flur um neunzehn Uhr abgeschaltet worden. Barnett konnte gut tippen und das Ganze dauerte nur zehn Minuten. Er suchte den Bildschirm sorgfältig nach irgendwelchen Fehlern ab. Er nahm die Maus in die Hand und bewegte den Cursor zum Icon Senden. Als die Übertragung begann, ging er in sein Büro, um seinen Mantel und die Aktentasche zu holen, schluckte noch eine Pille und machte die Lichter aus.

Es war spät und er wollte nach Hause. Die Meteorologen hatte seit gestern Abend einen weiteren Sturm angekündigt. Er machte sich keine Sorgen. Er hatte seinen Mercedes in der Garage gelassen und sich für alle Fälle für den Grand Cherokee entschieden.

Als er aus der Garage fuhr, merkte er, dass der Schnee schon die Straßen bedeckte und schaltete auf den Allradantrieb um. Er stellte die Heizung ein und machte sich auf den Heimweg. Es gab nicht viel Verkehr. Trotz des Sturms schätzte er, dass die Fahrt von der Stadt nach Villinova nicht mehr als dreißig Minuten dauern würde.

Er schob eine CD in das Abspielgerät – eine neue Filmmusik, die ihm seine Frau Sally beim Frühstück gegeben hatte – und drehte die Lautstärke auf. Als er die Schnellstraße dahinfuhr, versuchte er sich zu vergegenwärtigen, was er an diesem Tag erreicht hatte. Nicht viel, wie ihm bewusst wurde. Er hatte die ganze Woche Beruhigungsmittel wie Süßigkeiten geschluckt und den Tag wie im Nebel verbracht. Er musste die Dinge wieder in den Griff bekommen; sich wieder unter Kontrolle bringen, aber es stand so viel auf dem Spiel – alles, wofür er gearbeitet hatte. Der Gedanke, das zu verlieren, was er hatte, jagte ihm einen fürchterlichen Schauer über den Rücken und ihm brach kalter Schweiß aus. Nash hatte ihn gewarnt, dass, je nach Stimmung der Stadt, ihre Pressemitteilung auf taube Ohren stoßen und sein Plan, Andrew zu einem Rückzieher zu zwingen, vielleicht nicht funktionieren würde. Die Zahl der Leichen stieg, der Fall war drauf und dran außer Kontrolle zu geraten.

Er schaute wieder auf die Straße und versuchte durch den ganzen Schnee hindurch seine Fahrbahn zu finden. Als er einen Wagen vor sich entdeckte, ging er vom Gaspedal und fuhr auf die rechte Fahrspur. Er würde dem verdammten Kerl folgen, die Rücklichter im Auge behalten und ihn die Schwerarbeit machen lassen.

Seine Gedanken wanderten wieder ab. Inzwischen würde Jackies Computer seine korrigierte Pressemitteilung an alle Zeitungen und Nachrichtenstationen in der Stadt verschickt haben. Er hatte Jackie sogar gebeten, Andrews private Fax-Nummer einzufügen, im Bewusstsein, dass dies den Typen wirklich auf die Palme bringen würde. Das war mehr als nur eine Pressemitteilung, die verkündet, dass William S. Nash dem Anwalts-Team beigetreten war, das Oscar Holmes im Mordfall Darlene Lewis verteidigen würde – es war ein Warnschuss in Richtung Staatsanwaltschaft. Warum überkamen ihn also plötzlich Zweifel? Warum schwitzte er immer noch?

Barnett drehte die Musik leiser und versuchte, trotz des betäubten Gefühls, das er hatte, nur an das Positive zu denken. Er hatte Alan Andrews Pressekonferenz am Abend in seinem Büro im Fernsehen verfolgt. Andrews war vom Parkplatz des Leichenschauhauses stolziert, als ob er eine Art Superheld wäre. Andrews dachte, er würde ungeschoren davonkommen, nachdem er einen armen Kerl ins Grab geschickt hatte. All das war nun in der Pressemitteilung und würde wieder ans Licht gezerrt werden. Dafür diente Nashs Name. Sein Ansehen und sein Ruf würden wie ein Schraubstock wirken. Barnett fragte sich, wie Andrews wohl reagieren würde und wünschte sich, er könnte sein Gesicht sehen, wenn er die Pressemitteilung las. Andrews mochte sich an diesem Abend als der nächste Retter der Stadt aufspielen, aber morgen würde ein anderer Tag sein. Wenn er eine politische Karriere wollte, würde Andrews gezwungen sein mitzuspielen. Wenn nicht, dann wäre er nur ein weiteres Arschloch. – Falls es funktionierte, dachte Barnett. Nur wenn es funktionierte.

Er trat auf die Bremse und kam ins Rutschen, beinahe hätte er die Ausfahrt Gulf Mills verpasst. Nach der Abfahrt bog er links ab, dann erneut bei der Ampel links auf die Route 320. Es war jetzt nicht mehr weit, er war fast zu Hause.

Der Schnee lag hier höher und die Straße war nicht gepflügt. Trotzdem schaffte es der Grand Cherokee ohne große Mühe die Windungen des Berges hoch. Erstaunt über die reibungslose Fahrt bog er nach links ab, dann rechts in die Berkley Lane und fuhr langsam die Einfahrt hinunter.

Er hatte es geschafft. Er konnte sehen, dass in der Küche Licht brannte. Sally war eifrig dabei, ein spätes Abendessen zuzubereiten. Er hielt vor der Garage an und schaute aus dem Fenster der Fahrerseite auf den Schnee am Boden – mehr als fünfzehn Zentimeter. Er griff hinter seinen Sitz, zog seine Überschuhe aus der Riesentasche und streifte sie über. Er ließ den Motor weiterlaufen und stieg aus, um das Garagentor zu öffnen. Als er durch den Schnee stapfte, dachte er, wie schön es doch wäre, eine Fernbedienung zu haben. Aber sie hatten ein viktorianisches Haus, das er und Sally jahrelang bis ins winzigste Detail renoviert hatten. Die Garage war ein umgebauter Stall. Obwohl das viertausend Quadratmeter große Grundstück bewaldet war, konnte der Stall von der Straße aus gesehen werden. Den Stil der Türen zu verändern, um einen elektrischen Türöffner einbauen zu können, war keine Option und wäre nicht schön gewesen.

Barnett wischte sich den Schnee aus dem Gesicht, gab der schweren Holztür einen kräftigen Stoß zur Seite und hoffte, Sally hatte daran gedacht, das Feuer im Kamin anzumachen. Als er aber von dem betonierten Fußweg in den Schnee trat, verlor er auf dem Eis den Halt und rutschte aus. Es war ein harter Sturz – das grelle Licht der Scheinwerfer blendete ihn, als er flach auf dem Rücken lag und versuchte, sich wieder aufzurichten. Er hatte sich den Kopf angeschlagen, glaubte aber nicht, dass er verletzt war oder sich etwas gebrochen hatte. Er bemerkte, dass die Wagentür auf der Fahrerseite offen stand. Er dachte, er hätte sie zugemacht. Angesichts des Schneefalls hätte er das normalerweise getan. Als er sein rechtes Bein anhob und wieder auf den Rücken rutschte, fragte er sich, ob das letzte Beruhigungsmittel eins zu viel war… vielleicht wurde er auch einfach nur alt. So oder so, er war froh, dass Sally nicht gesehen hat, wie er fiel, denn das wäre ihm peinlich gewesen.

Da hörte er, wie der Wagen anfuhr. Er drehte sich und blinzelte gegen die herannahenden Lichter. Zuerst sah er es ungläubig, ja verwirrt, dann fing sein Herz heftig an zu schlagen und ihm wurde plötzlich bewusst, dass das, was passierte, real war. Seine Augen starrten auf die schweren Räder, die sich auf ihn zubewegten. Er hörte das quietschende, knirschende Geräusch, das Gummireifen machen, wenn sie Schnee niederpressen. Er wollte schreien, konnte aber nicht. Er grub sich mit seinen Fingern durch den Schnee und schabte am Eis, kratzte daran. Als die übergroßen Räder über seine Beine rollten und sein eigenes Blut ihm ins Gesicht spritzte, spähte er unter dem Auto hervor und sah, wie jemand vom Haus angerannt kam. Es war Sally. Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft und schrie, während er wieder auf seine zerquetschten Beine schaute. Seine Arterien mussten durchtrennt worden sein. Blut spritzte auf den Schnee wie aus einem Gartenschlauch. Er versuchte seinen Blick darauf zu halten, griff hinunter, um die Wunden abzudecken, aber alles wurde schwarz.