ZWANZIG

Barnett warf eine Ausgabe der Daily News auf seinen Schreibtisch und bebte vor Zorn. »Das ist Quatsch«, schrie er. »Das ist genau das, was ich nicht wollte. Schauen Sie sich das an. Es ist keine verdammte Schlagzeile, es ist so groß wie ein Schild.«

Teddy las die sieben Zentimeter große Schlagzeile: DER BRIEFTRÄGER KLINGELT IMMER ZWEIMAL. Dann blickte er hinter dem fett gedruckten Text auf das Bild von Holmes in seiner Briefträgeruniform. Das Bild war eine Vergrößerung aus Holmes Personalausweis und füllte die ganze Seite aus. Es war so verzerrt, dass jeder, der es sah, glauben musste, er wäre ein Monster. In drei Kästchen unterhalb des Kinns des Monsters waren Bilder von Darlene Lewis und Valerie Kramp, außerdem eine Aufnahme des Bootshauses mit einem Pfeil, der auf den Ort zeigte, wo Kramps Leiche im Fluss gefunden worden war.

Barnett riss die Schreibtischschublade auf. Als er die Pillenflasche fand, die er suchte, sah Teddy, dass es nicht mehr Paracetamol war, sondern etwas Verschriebenes.

»Ich habe Ihnen eine einfache Aufgabe gegeben«, sagte Barnett, während er eine Pille in seinen Mund warf und sie hinunterschluckte. »Sie wussten, wie wir bei dieser Sache vorgehen wollten. Nash mit ins Boot holen und den Staatsanwalt einschüchtern, dann einen Deal aushandeln. Das ist alles, worum ich Sie gebeten habe. Das ist alles, was Sie tun sollten.«

Teddy machte die Tür zu. »Die Dinge haben sich verändert.«

»Was für eine Veränderung?«, sagte Barnett, er spuckte die Worte förmlich aus.

»Es ist möglich, dass Holmes unschuldig ist.«

Barnett drehte sich herum und starrte Teddy an, als wäre er verrückt. »Unschuldig? Gestern war Oscar Holmes noch ein Bursche mit einer geisteskranken Vergangenheit, der komplett übergeschnappt war und eine einzige Mordanklage am Hals hatte. Heute ist er ein Serienmörder und die ganze verdammte Stadt ist in Aufruhr. Verstehen Sie das nicht? Sehen Sie nicht, was da los ist?«

Teddy schnappte sich die Zeitung und setzte sich auf die Couch. Er war schockiert über Barnetts Einstellung, behielt es aber für sich. Als er die ersten drei Seiten durchblätterte, wurde ihm klar, dass die Schlagzeile vielleicht hätte ironisch gemeint sein können, aber der Artikel war es ganz und gar nicht. Holmes’ Verbindung zu den beiden Morden stand jetzt in der Zeitung. Er warf einen Blick auf Barnett, der sich in seinen Bürostuhl hatte fallen lassen, und fing dann an zu lesen.

Die Verbindung kam nicht durch neue Beweise oder sogar durch eine undichte Stelle zustande. Sie wurde von Andrews bei seiner Pressekonferenz am Abend zuvor angedeutet, genau wie Teddy befürchtet hatte. Beide Frauen waren aufgeschnitten worden. Das, zusammen mit ihrem Alter und Aussehen, war genug, um die beiden Fälle zu verbinden. Es auf Holmes zu schieben, ohne Beweise für die Anschuldigungen zu haben, war sogar noch leicht. Während ein Reporter die Details bekannt gab, die zur Verhaftung Holmes’ für den Mord an Darlene Lewis führten, verbrachte ein anderer Schreiber den gestrigen Nachmittag in Holmes’ früherer Metzgerei und interviewte alte Damen aus der Nachbarschaft, die sich an Holmes erinnerten. Er machte Fotos von ihnen, wie sie Rippchen und Schweinswürste kauften. Die Frauen erzählten Geschichten über Holmes’ Talent, mit einem Messer umzugehen und brachten es bereitwillig mit dem in Zusammenhang, was er mutmaßlich getan hatte. Die meisten Frauen schienen sagen zu wollen, dass sie bei aller Liebe Gottes, als Nächstes hätten dran sein können. Teddy betrachtete ihre Fotos und musste ein Lächeln zurückhalten, als er ihr Alter und ihre übergewichtigen Figuren bemerkte. Keine sah aus wie Darlene Lewis oder Valerie Kramp und er ging davon aus, dass im Moment keine Gefahr für sie bestand.

Er faltete die Zeitung zusammen und beschloss, dass nichts davon real war. Der Staatsanwalt hatte vielleicht die Schlagzeilen bekommen, die er wollte – Oscar Holmes wurde als Serienmörder hingestellt, ohne ihn wirklich beim Namen zu nennen, und der Fall war zum Stadtgespräch geworden. Der Boden für Andeutungen war vorbereitet, aber keine einzige Tatsache war durchgedrungen und das Wort Kannibalismus war noch nicht gedruckt. Sie hatten noch Glück, dachte Teddy. Wenn die Details im Gericht vorgebracht wurden, würden die Schlagzeilen noch weit schlimmer werden.

Barnett drehte seinen Stuhl vom Fenster weg. Die Pille musste ihre Wirkung getan haben, denn seine Wut hatte sich gelegt und wurde durch eine fast unheimliche Ruhe abgelöst: »Verstehen Sie, warum Schlagzeilen nie von Vorteil für uns sind?«, sagte er mit einer ungewöhnlich ruhigen Stimme.

Teddy nickte. »Sie verderben die Auswahl der Geschworenen.«

Barnett verzog das Gesicht und blinzelte, im Versuch, seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. »Nein, verdammt noch mal. Weil jede Schlagzeile Andrews stärker macht und ihn weiter davon entfernt, einen Deal einzugehen. Ich habe mit Nash gesprochen und er sieht das auch so.«

»Wann haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich habe gerade aufgelegt, als Sie hereinkamen.«

»Was hat er gesagt?«

»Genau das, was ich Ihnen sage. In diesem Fall geht es darum, die Presse zu vermeiden und Holmes dazu zu bringen, sich schuldig zu bekennen. In diesem Fall geht es darum sicherzustellen, dass jemand, der ärztliche Behandlung braucht, die psychiatrische Versorgung bekommt, die er ganz offensichtlich nötig hat.«

Auch wenn Barnett vielleicht mit Nash gesprochen hatte, glaubte Teddy nicht, dass Nash dafür war zu kapitulieren. Besonders jetzt, als sie zehn weitere Opfer isoliert hatten und Holmes Schuld in der Luft hing. Das ergab keinen Sinn.

»Was hat Nash gesagt?«, wollte Teddy wissen.

»Zuerst hat er es nicht so gesehen. Aber als ich ihn in die Realität zurückholte, schon.«

»Was ist die Realität?«

Barnett sah ihn an. »Dass wir in einer zivilisierten Welt die psychisch Kranken nicht hinrichten.«

Das musste Teddy Barnett lassen: Der Mann hatte eine unglaubliche Fähigkeit, eine Schlussfolgerung auszugraben und sie gut klingen zu lassen, auch wenn es die falsche war.

Holmes stach hervor. Es war keine Frage, dass er anders war, vielleicht sogar seltsam. Und er war verzweifelt, verwirrt und taumelte am Rande. Aber er hatte ein Recht dazu, dachte Teddy. Seit zwei Tagen wurde ihm gesagt, dass er jemanden ermordet hätte und wie jeder andere schien er nicht zu wissen, was wirklich passiert war. Er stand alleine da. Er hatte nur flüchtige Eindrücke des Tatortes, den toten Körper, das Blut eines jungen Mädchens an seiner Kleidung. Wer hätte da keine Albträume? Unter diesen Umständen, dem ganzen Blut, wer würde da nicht anfangen, an sich selbst zu zweifeln? Der Mann brauchte Hilfe, aber nichts, was Teddy in den zwei Besuchen gesehen hatte, deutete darauf hin, dass er psychisch krank war.

»Wie sind Sie mit Nash verblieben?«, fragte Teddy.

»Was soll diese Fragerei?«

»Wie sind Sie verblieben?«, wiederholte er.

Barnett richtete seinen Manschettenknopf, sein Blick war glasig. »So wie Sie letzten Abend. Er ist immer noch dabei. Was ist mit Ihnen?«

Teddy sagte nichts. Als er Barnett betrachtete, wurde er von Sorge über ihn überwältigt. Er mochte Barnett und bewunderte ihn, aber er verstand seine Logik nicht. Es war ganz offensichtlich, dass Barnett Holmes immer noch unter den Teppich kehren und den Fall so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Die Wahrheit, die dahinterstecken mochte, schien in Barnetts gereiztem emotionalen Zustand nicht zu ihm durchzudringen. Vielleicht ging es ihm darum, Holmes’ Familie zu schützen. Barnett hatte erwähnt, dass sie schon seit langer Zeit Freunde waren. Vielleicht sah Barnett nur, was mit Darlene Lewis geschehen war, und nahm an, dass ein so furchtbares Verbrechen nicht der erste Schritt eines Killer in die Dunkelheit sein konnte. Unter diesen Umständen musste es da mehr geben. Teddy wünschte, er könnte Barnett helfen. Er wünschte, dass er ihn verstehen und etwas für ihn tun könnte.

»Wann ist die Autopsie?«, fragte Barnett.

»In einer Stunde.«

»Können Sie hingehen?«

Trotz seiner Zweifel nickte Teddy. Es wäre ein weiterer Nachmittag, den er mit toten Körpern verbringen müsste. Er war froh, dass Powell Holmes’ Scheckheft mitbringen würde. Er hatte sie auf dem Weg vom Gefängnis in die Stadt angerufen. Obwohl sie immer noch distanziert wirkte, hatte sie bestätigt, dass die Polizei das Scheckheft hatte und sie stimmte zu, es zur Gerichtsmedizin mitzubringen. Jede Ablenkung würde ihm helfen, da durchzukommen.

»Wir müssen dafür sorgen, dass das zu Ende gebracht wird«, sagte Barnett ruhig, »damit wir beide zu unserer Arbeit zurückkehren können. Ich werde es wieder gutmachen. Ich schwöre, das werde ich.«

Teddy legte die Zeitung auf den Schreibtisch.

Barnett warf einen Blick auf Holmes’ Bild, drehte dann die Zeitung um und schüttelte den Kopf. »In einer oder zwei Wochen wird der Beweis da sein«, sagte er. »Bis dann wird es Holmes’ Leid sein, in einer Gefängniszelle zu leben. Wir werden beide hingehen, Teddy. Wir werden ihm zeigen, was sie haben, und mit ihm reden. Ich bin sicher, er wird zustimmen, dass ein Schuldbekenntnis sein einziger Weg hinaus ist.

Teddy sagte nichts. Stattdessen nickte er, wie er dachte, dass es auch Nash tat, und hoffte, Barnett würde zur Vernunft kommen. Aber als er das Büro verließ, dachte er daran, was Holmes gerade vor anderthalb Stunden ihm gegenüber gesagt hatte: dass er nicht wissen wollte, was passiert war, weil er dachte, dass er es gewesen sein könnte. Wenn Barnett wollte, dass sich der Mann schuldig bekannte, war Oscar Holmes fast so weit.