FÜNFUNDFÜNFZIG

Eddie spürte das leichte Stechen in seinem Schwanz und drückte ihn kräftig. Er musste ganz dringend pinkeln. Er setzte in die Gasse zurück, direkt an der Sechzehnten Straße, und machte die Scheinwerfer aus. Er sah durch den Verkehr und die Leute, die auf dem Gehsteig unterwegs waren, auf die Einfahrt zur Tiefgarage von One Liberty Place. Es war kurz nach Mitternacht. Er hatte fast den ganzen Tag im Auto verbracht, aber es ging nicht anders. An diesem Morgen war er mit einer Reihe von Warnsirenen in seinem Kopf aufgewacht, hatte sich die Erstfassung eines weiteren Szenarios ausgedacht und den frühen Nachmittag damit verbracht – nur für den Fall der Fälle – Bennys Café Blue im Auge zu behalten.

Sein Einsatz hatte sich ausgezahlt. Um fünfzehn Uhr dreißig hatte er gesehen, wie der Junge ins Café lief, der hässlichen Frau hinter der Theke ein Bild von jemandem zeigte und dann wie eine menschliche Kanonenkugel in einer Zirkusnummer zur Tür hinausschoss. Es war derselbe Junge, den er letzten Abend mit der Frau von der Staatsanwaltschaft im Café gesehen hatte – der Anwalt, dem er zum One Liberty Place gefolgt war. Der Staatsanwalt hatte diesen dummen Briefträger verhaftet und trotzdem schnüffelte dieser schwungvolle junge Mann mit unvermindertem Elan herum, stellte immer noch Fragen und versuchte, Eddies Leben zu versauen.

Aber Eddie kannte seinen Namen, seine Telefonnummer. Der Manager des Cafés hatte ihm vorige Nacht alles erzählt, was er wissen musste. Auf den Knien und zitternd, bevor er sich in die Hosen schiss. Harris Carmichael war ein echter Schwätzer gewesen, spuckte es in den Schnee aus, während Eddie sich ein Bild machte und darüber nachdachte, was zu tun war. Es war nicht einmal ein Messer nötig gewesen.

Carmichael war wie ein Schwätzer gestorben, mit versiegelten Lippen. Das Crazy Glue war ein guter Einfall gewesen. Aber als es vorbei war, hatte Eddie trotzdem noch das Messer benutzt. Er konnte nicht anders. Er war wütend auf das Ganze. Er hasste es. Immer und immer wieder ging er auf das Ding los, bis er die ersten zwei Wanderratten entdeckte, die vom Fluss herkamen. Und da wurde sein Verstand wieder klar.

Teddy Mack. Er kannte seinen Namen und hatte seine Nummer.

Er war ihm an diesem Nachmittag vom Café zurück zum Büro gefolgt. Er beobachtete, wie er direkt neben dem Penn-Campus das Auto wechselte, als ob er wüsste was er tat und wohin genau er gehen musste. Und es schien, als ob er das wirklich tat. Eddie folgte dem Lexus zum Irrenhaus auf dem Hügel außerhalb der Stadt. Jener Ort, wo sie nachts die Türen verriegeln und einen schreien lassen. Nach ungefähr einer Stunde kam der Lexus wieder den Hügel heruntergeschossen, fuhr durch das Tor und raste zurück in die Stadt.

Eddie war hinter dem hellen, weißen Auto geblieben, als ob es ein warnendes Leuchtsignal wäre, das zum Weg seines Heils führen könnte. Er erhaschte einen Blick auf den schwungvollen jungen Mann, der ein Büro hinten auf dem Campus betrat und fand dann einen Platz zum Parken. Die Zeit verstrich. Er verbrachte Stunden damit, von seinem Auto aus in das Fenster des zweiten Stockwerkes zu schauen. Männer in schwarzen Anzügen kamen an. An den kurz geschnittenen Haaren und den schmalen Krawatten erkannte er sofort, dass sie vom FBI waren. Er konnte sie durch das Fenster wie Ameisen herumwuseln sehen. Eddie wusste, dass er erledigt war. Sie telefonierten und machten sich Notizen. Es sah aus, als ob sie die ganze Nacht durcharbeiten könnten. Dann, genau vor zwanzig Minuten, als er schon abfahren wollte, entdeckte er den schwungvollen jungen Mann, wie er in seinen Corolla stieg und war ihm zurück zu seinem Büro in der Stadtmitte nachgefahren.

Eddie folgte den Konturen des langen Gebäudes bis in den schwarzen Himmel hinein. Er hatte noch keine Zeit gefunden, eine Toilette aufzusuchen und hoffte, dass er seine Hose nicht einnässen würde. Er war in seinem eigenen Auto und wollte die Lederbezüge nicht versauen. Er grub seine Zähne in die Unterlippe und versuchte, sich zu konzentrieren. Er war kein Loser wie Harris Carmichael, entschied er. Er konnte es bis zum Morgengrauen zurückhalten, wenn er musste, genau wie es ihn seine Mutter lehrte, nachdem er als Kind in ihr Bett gemacht hatte.

Er drückte seinen Schwanz nochmals, kräftig, genau wie sie es getan hatte, und wandte sich den Leuten zu, die an seiner Windschutzscheibe vorbeigingen. Er hatte den Augenkontakt vermieden, brauchte aber eine Ablenkung. Sie beobachteten ihn nicht, sondern grinsten ihn höhnisch an.

Eddie versuchte nicht zu schreien, konnte aber einen kurzen Ausbruch oder zwei nicht verhindern. Als die Augen sich abwandten und davoneilten, zitterte er in der kalten Nachtluft und drückte auf die Türverriegelungen. Dann drehte er die Heizung höher und sah wieder auf seine Uhr. Zwei Minuten waren vergangen. Es war okay, sagte er zu sich selbst. Er wusste, er konnte so lange warten, bis der Typ herauskam, weil er es musste.

Scheinwerfer trafen auf die Windschutzscheibe und erfüllten das Auto mit Licht. Er drehte sich zum Gebäude um und sah, wie der Corolla aus der Garage auf die Straße fuhr. Er erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Fahrers – es war der Schwungvolle. Eddie schob den Automatikhebel auf D, ließ zwei Autos passieren und fuhr mit seinem glänzenden schwarzen BMW langsam los. Endlich war er wieder in Bewegung, war einer der Beobachter, anstatt beobachtet zu werden.

Eddie folgte den Rücklichtern den JFK Boulevard hinunter. Als der Corolla am Bahnhof an der Dreizehnten Straße auf eine rote Ampel traf, sah er, wie der Wagen auf einer eisigen Stelle ins Rutschen geriet. Der Corolla rutschte nach vorne und krachte fast in den Verkehrsfluss, der um den Bahnhof kreiste. Warum fuhr der schwungvolle junge Mann so eine Scheißkarre? Wie schlau konnte er da in Wirklichkeit sein? Er hörte, wie die Autos auf die Hupe drückten, als der Corolla schließlich zum Stehen kam. Eddie fuhr langsamer, hielt Abstand und passte sich zeitlich perfekt an. Als die Ampel grün wurde, beschleunigte er und folgte dem Corolla auf die Auffahrt zur Schnellstraße.

Teddy Mack wohnte in den Vororten. Der Arschwischer von Anwalt, der sich kein ordentliches Auto leisten konnte, fuhr nach Westen in Richtung Main Line. Eddie nahm den Fuß leicht vom Gas und rückte sich in seinem Sitz zurecht, wobei er immer ein oder zwei Autos zwischen ihnen ließ. Er war den ganzen Tag noch nicht entdeckt worden. Er folgte einem Idioten. Er und Teddy Mack fuhren endlich nach Hause.

Der Verkehr wurde dünner, als sie King of Prussia erreichten. Als sie dann auf die Route 202 abfuhren, gab es gar keinen Verkehr mehr. Eddie hielt sich zurück und beobachtete, wie der Corolla den Hügel zur Devon State Road hochfuhr. Er kannte die Gegend gut. Als sie Lancaster Pike überquerten, zog er den Schal über seinen Mund und fuhr näher heran, einfach als Kick. Etwa eine Meile später wurde der Corolla langsamer und bog in eine Einfahrt ein. Eddie merkte sich das Haus und fuhr die Straße weiter hinunter. Beim Stoppschild bog er rechts in die Sanctuary Road ein und fuhr an die Seite.

Sein Schwanz schmerzte so stark, dass er dachte, er würde gleich wie ein Korken hochknallen. Er sprang aus dem Wagen, zerrte an seinem Reißverschluss und wusste, dass er es nicht bis unter die Bäume schaffen würde. Anstatt seinen Namen in den Schnee zu schreiben, zielte er auf eine Stelle, wie er meinte, dass es auch ein herumstreunender Hund tun würde. Er reckte den Hals hin und her, so behielt er die Straße im Blick. Er hielt nach Scheinwerfern von sich nähernden Autos Ausschau. Es gab keine und er lächelte. Dann zog er den Reißverschluss wieder zu und seufzte erleichtert. Es war eine ruhige Winternacht und sie waren zu Hause.

Eddie beugte sich quer über den Fahrersitz und öffnete das Handschuhfach. Das Messer, das er heute Nacht benutzen würde, war eines seiner Lieblingsmesser. Ein zwanzig Zentimeter langes Profi-Tranchiermesser, das er bei Williams-Sonoma bestellt hatte. Es war aus Hartstahl, die importierte Klinge gut ausgeglichen, die Schneide besonders scharf. Eddie wickelte das Messer in das Küchentuch, das er mitgebracht hatte, und schob es vorsichtig in seine Jackentasche. Er verriegelte das Auto, stellte den Alarm ein, ging um die Ecke und die kurze Strecke zur Waterloo Road zu Fuß hoch.

Er hatte ein Lied in seinem Herzen und hatte Lust zu pfeifen. Aber als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er jemanden oben am Hügel stehen. Er duckte sich in die Büsche. Er wartete, horchte und riss sich zusammen.

Nach einer Weile spähte er hinaus. Es war das Gesicht voller Schwung, das am Ende der Auffahrt stand. Der Junge rauchte eine Zigarette und starrte auf die Wohnsiedlung auf der anderen Seite der Straße. Er dachte über etwas nach und es schien, als ob es einfach ewig dauern würde. Eddie fragte sich, ob der Junge gemerkte hatte, dass ihm jemand gefolgt war. Aber der Junge schaute nicht die Straße hinunter. Er starrte auf die Häuser. Als er seine Zigarette fertig geraucht hatte, warf er sie in Richtung der Häuser, als ob er sich wünschte, sie würden niederbrennen. Dann ging er weg.

Die Geste verwirrte Eddie, weil sie ihm gefiel. Er wünschte auch, dass sie niederbrennen würden. Er erhob sich, wischte den Schnee von seiner Hose und ging schnell die Straße hoch. Er sah, wie der Junge die Einfahrt hinunterging und hinter dem Haus verschwand. Er hörte, wie eine Tür auf- und wieder zuging, danach wurde es still.

Eddie ließ die Ruhe wirken. Er sah, wie der Schnee leicht und leise vom Himmel fiel und sah den Jungen durch das Fenster, wie er sich in der Küche einen Drink einschenkte. Als er das Anwesen überblickte, entdeckte er hinten im Hof eine Scheune. Die Lichter waren an und er konnte den Geruch von Eiche in der kalten Luft riechen. Jemand war in der Scheune und hatte ein Feuer brennen. Es sah warm und einladend aus.

Er trat zurück und nahm den Ort wieder in sich auf. Etwas an diesem Anwesen wirkte idyllisch. Es machte ihn nervös. Es nahm ihm die Kraft und ließ ihn sich klein fühlen. Sogar seltsam. Warum verbrachte er sein Leben so alleine?

Nach einer Weile bemerkte er einen Zaun entlang der Grundstücksgrenze, versteckt hinter einer getrimmten Hecke. Eddie betrat den Hof und ging langsam auf die Scheune zu. Er entdeckte eine Reihe Rhododendren und trat zwischen die Büsche. Er bewegte sich leise, hielt sich vom Licht fern und starrte durch das Fenster.

Da war eine Frau, die malte. Er konnte sehen, wie sie mit dem Pinsel über die Leinwand strich. Er war wie paralysiert und ihm blieb die Luft weg. Sie sah wie ein Engel aus. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sie sah sanft aus. Warmherzig. Fürsorglich. In ihren Augen lag ein gewisses Leuchten und er fragte sich, ob sie überhaupt real war. Ihm wurde schwindlig, als er sie anstarrte und sie begehrte. Als seine Augen von ihrem Gesicht wegwanderten, bemerkte er die Gemälde an der Wand. Ihre Werke. Er erkannte zwei Ölgemälde. Er hatte sie letzten Herbst auf einer Ausstellung gesehen – durch das Fenster von der Straße aus, weil er zu viel Angst hatte hineinzugehen.

Ein Geräusch vom Haus riss ihn aus seinem Traum. Die Hintertür öffnete und schloss sich. Während er vom Fenster zurückwich, gingen seine Augen hektisch über den Hof. Es war Teddy Mack, der durch den Schnee zur Scheune stapfte. Aber der Junge ging nicht über den Weg zur Tür. Er nahm dieselbe Route, die Eddie genommen hatte: durch die Schatten entlang des Zaunes.

Eddie rutschte aus den Büschen und um einen Baum. Der Junge war ihm auf der Spur, jagte ihn. Er zog das Messer heraus, wickelte die scharfe Klinge aus und stopfte das Tuch wieder in seine Tasche zurück. Er war nicht sicher, was er tun sollte. Er konnte den Engel immer noch sehen. Es sah so aus, als ob sie Flügel hätte. Er biss die Zähne zusammen, Schmerz schoss durch seinen Kopf. Er wendete die Augen ab, hob das Messer hoch und verschwand Stück für Stück hinter dem Baumstamm.

Eddie konnte nicht glauben, was er sah: Der Junge schlich sich, genau wie er es getan hatte, zwischen die Rhododendrenbüsche. Er nippte an seinem Drink und starrte durch das Fenster auf den Engel. Eddie hob den Schal über seinen Mund und atmete leise. Er stand weniger als zwei Meter entfernt und gab vor, ein Baum zu sein. Er konnte das Gesicht des jungen Mannes sehen. Aller Schwung war mit einem dicken Pinsel übermalt worden. Nur noch Traurigkeit war geblieben.