Kapitel 62
Die Damen brauchten eine Weile, um sich fertig zu machen. Es war Nachmittag, bis sie schließlich alle Ihre Kammer verließen.
Sophie hatte sie über das kurze Gespräch mit der Wirtin informiert. Das Streitgespräch mit dem Wassermann hatte sie verschwiegen. Wozu es erwähnen? Die junge Frau würde ihn nicht abwehren können, wenn er kam, sie zu holen; und auch Sophie und Cérise konnten nichts dagegen unternehmen.
Cérise war ein wenig unleidlich. Sich ohne Zofe ankleiden und schön machen zu müssen war für sie eine neue Erfahrung, und obgleich sich die Damen gegenseitig geholfen hatten, war das Ergebnis nicht mit der Arbeit einer guten Hausangestellten zu vergleichen. Auch hatten sie die erzwungene Nähe als unangenehm empfunden.
„Ich habe arrangiert, daß der Sohn des Wirts uns nach Gössl rudern wird“, sagte Frau Treynstern. „Dann können wir einen Spaziergang zum nächsten See machen. Wenn Corrisande Recht behält, sollten wir die Andachtsstelle irgendwo unterwegs finden.“
„Wer weiß, ob es sie überhaupt gibt“, murmelte Cérise ungehalten und wandte sich an Corrisande. „Vielleicht haben Sie nur geträumt, meine Liebe, und die Frauenstimme gab es gar nicht?“
Corrisande weigerte sich, den Fehdehandschuh aufzunehmen, stocherte nur lustlos in ihrem Rührei und versuchte, den Eindruck zu erwecken, sie äße, während sie das in Wirklichkeit nicht tat.
„Corrisande“, mahnte Sophie. „Nun essen Sie schon. Sie brauchen die Stärkung.“
„Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorglichkeit, aber ich habe keinen Appetit.“
„Das mag sein. Ihr Kind schon.“
Corrisande zwang sich, einige Gabeln Rührei hinunterzuschlucken, und knabberte lustlos an einer Scheibe Graubrot. Dann nahm sie einen Schluck Kräutertee. Sie verzog das Gesicht. Das Gebräu schmeckte unangenehm nach Medizin.
Die Wirtin kam in den Schankraum, in dem sie saßen, und gab ihnen einen großen Korb.
„Ihr Proviant“, sagte sie und kämpfte offenkundig mit dem für sie neuen Konzept. Die Idee, freiwillig eine Mahlzeit al fresco einzunehmen, zumal zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit, schien ihr nicht in den Sinn zu wollen. Sie ging kopfschüttelnd davon.
Die drei Damen bedankten sich und inspizierten den Inhalt.
„Brot, Wein, Käse, Wurst, Teller, Besteck und ein Korkenzieher. Oh, und Kerzen, eine Laterne und Zündhölzer. Sie hat an alles gedacht. Eigentlich sogar an zu viel“, murmelte Cérise. „Was denkt sie denn, wo wir hinwollen?“
„Offenbar denkt sie, wir könnten bis in die Abenddämmerung fortbleiben“, gab Sophie zurück. „Sehen Sie! Sogar eine Decke hat sie eingepackt. Sehr umsichtig.“
„Geradezu verdächtig umsichtig“, kritisierte Cérise. „Haben Sie ihr gesagt, wohin wir gehen?“
„Wie denn? Ich weiß doch selbst nicht, wohin wir gehen, außer zu einem Andachtsort für St. Margarete, St. Katharina und St. Barbara. Ich meine aber, daß sie eine Vorstellung hat, was wir planen. Unsere Fragen haben mehr über uns verraten, als wir wollten, und die morgendliche Abreise des Malers mit der Zofe hat ihr sicherlich auch zu denken gegeben.“
Die drei Frauen sahen einander an. Sie hatten den Schankraum jetzt für sich allein. Es war ein kleiner, dunkler Raum mit winzigen Fenstern, die über den See hinaussahen. Gleich hinter der Tür befand sich ein Ofen. Die Wände waren holzverkleidet, die Tische sauber geschrubbt, doch nicht mit Tischdecken oder anderem Schnickschnack versehen. In einer Ecke hing ein Kruzifix, dahinter ein Bündel Weidenzweige.
„Was bedeuten die Zweige?“ fragte Corrisande.
„Man schneidet sie im Frühling, und der Pfarrer segnet sie. Das ist hier so Brauch. Arpad sagte immer, die Hälfte der christlichen Traditionen in diesem Land seien älter als das Christentum. Ich wünschte, er hätte mir mehr erzählt.“ Sophie wandte sich an die Diva, die sie etwas säuerlich ansah. „Hat er Ihnen mehr gesagt?“
„Nein“, antwortete diese unwirsch und wandte den Blick ab. „Debatten über Religion stehen kaum auf unserem Programm. Wir haben ... andere Interessen.“
Sophie lächelte allzu verstehend.
„Vielleicht sollten wir lieber um den See wandern, statt ein Boot zu nehmen“, schlug Corrisande plötzlich vor.
„Es ist ein weiter Weg nach Gössl, und es gibt keine richtige Straße. Ich habe mich erkundigt“, gab Sophie zurück. „Ein sehr langer Spaziergang.“
Corrisande legte die Gabel aus der Hand und blickte auf ihr halbverzehrtes Mahl.
„Ich möchte nur nicht wieder diesem … Mann … im …“
Sie hielt inne, unfähig, ihre Begleiterinnen anzusehen.
„Haben Sie Angst, daß er uns angreifen wird?“ fragte Cérise. „Diese Boote sind nicht sicher. Ein starker Feyon, der auf etwas Wert legt, das sich im Boot befindet, kann sie ohne Probleme kentern.“
„Ich glaube nicht, daß er das tun wird. Diese … Mutterstimme war ziemlich streng mit ihm. Vielleicht gibt es ja unter den Sí Hierarchien? Ich weiß es nicht.“
„Liebe Corrisande, wenn ich je über mich herausfinden sollte, daß in meinen Adern ein Anteil Feyonblut fließt, würde ich versuchen, möglichst viel darüber in Erfahrung zu bringen“, schalt Cérise. „Wie kann es sein, daß Sie so gar nichts wissen? Mon Dieu! Seit einem halben Jahr ist Ihnen Ihre Eigentümlichkeit nun schon bewußt. Haben Sie denn nicht recherchiert?“
„Sie lieben einen Feyon und wissen auch nicht mehr!“ verteidigte sich Corrisande patzig. „So wie Sie haben Philip und ich auch … andere Interessen, und wenn ich nie mehr in meinem Leben mit Feyondingen konfrontiert würde, wäre ich nur allzu glücklich. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, zu wissen, daß man anders ist – und daß Menschen, die Sie gar nicht kennen und denen Sie nichts zuleide getan haben, Sie dafür töten wollen. Nur weil sie glauben, sie täten der Menschheit damit einen Gefallen. Ich war Gefangene der Bruderschaft. Ich versichere Ihnen, das war kein Spaß.“
„Wenn schon. Sie haben doch überlebt!“ gab Cérise gelangweilt zurück.
„Weil Philip mich gerettet hat!“
„Sie haben sich ganz allein gerettet, soweit ich weiß.“
„Ich wäre …“
„Nicht streiten, Kinder“, unterbrach Sophie, ganz die gestrenge Direktorin einer Höheren Töchterschule. „Wir haben keine Zeit dafür. Wir nehmen das Boot, und wenn wir dieses Abenteuer überstanden haben, werden Sie, Corrisande, sich mit Ihrem Erbe auseinandersetzen, und Sie, Mademoiselle Denglot, mit Arpad über Religion und Philosophie plaudern. Er hat einen wachen Geist und spannende Ansichten. Jetzt wollen wir die Tafel aufheben und uns fertigmachen. Ich empfehle warme Mäntel.“
Als sie aus der Poststation traten, nahm die Schönheit der Landschaft sie wiederum gefangen. Die Herbstsonne schien, und der See funkelte silbrig blau. Die Bäume leuchteten in Rot- und Goldtönen mit etwas Hellgrün dazwischen. Ein trügerisch vollkommener Tag.
Der junge Mann half ihnen schweigend ins Boot. Er trug auch den Picknickkorb und stellte sich im Heck des Bootes ans Ruder.
In ihrer behandschuhten Hand hielt Cérise einen zu ihrem Kleid passenden Sonnenschirm und erweckte den Eindruck einer entspannten Touristin, die sich auf einen netten Spaziergang vorbereitete. Wie immer war ihr Kleid für den Anlaß viel zu prächtig und der Schmuck teuer und exquisit. Ihr warmer Mantel lag über ihren Knien. Sie lächelte den jungen Mann an, der zurückgrinste und sie mit augenscheinlicher Freude betrachtete.
Corrisande trug kräftige Schnürstiefel, ihr Sportkostüm mit den unerhörten Hosen und hatte nicht nur ihren Mantel, sondern auch eine wollene Stola dabei, die sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Stola und Sportkostüm paßten nicht zusammen, doch das war ihr egal. Ihren Mantel hatte sie sich zu Füßen gelegt. Sie war blaß und hatte sich den Schleier ihres Hutes über das Gesicht gezogen, obgleich sie sehr wohl wußte, daß diese Maßnahme sie nicht im mindesten vor dem grünhaarigen Feyon verbergen konnte.
Sophie trug vernünftige Jagd- und Wanderbekleidung in Grau- und Grüntönen. Auf ihrem grünen Hütchen wippten Fasanenfedern. Ihre Hände steckten in dünnen Lederhandschuhen und waren artig in ihrem Schoß gefaltet.
Ein Weilchen war außer dem Rudergeräusch nichts zu hören. Die Stille war seltsam universell.
Das Boot schwankte heftig, als das Antlitz des Feyons neben ihm auftauchte. Corrisande brauchte eine Weile, um festzustellen, daß es ihre eigene Panikreaktion gewesen war, die das Boot ins Schlingern gebracht hatte, nicht etwa ein Angriff ihres Liebhabers der vorigen Nacht.
Eine schwimmhäutige Hand balancierte das Boot aus, und das Wesen zwinkerte keck dem jungen Mann zu, der sich tief verneigte und eine respektvolle Begrüßung murmelte.
„Sei gegrüßt, meine Liebste“, sagte er mit weicher Stimme. Seine Leidenschaft und ungeheure Macht spiegelten sich in seinen Augen wider. Er versprühte Unwiderstehlichkeit. Schon griff er nach ihr, berührte ihren Arm für eine Sekunde, streichelte ihn zärtlich mit zwei Fingern.
Corrisande vergrub ihr Gesicht in den Händen.
„Gehen Sie weg!“ bettelte sie. „Lassen Sie mich in Ruhe! Die Mutter hat gesagt, Sie müssen mich in Ruhe lassen.“
Er lachte glucksend.
„Wie viele Männer kennst du, meine süße Kleine, die noch auf ihre Mütter hören?“
Cérise schaltete sich ein und lächelte den unglaublich gutaussehenden Mann an.
„Machen Sie ihr keine Angst, Monseigneur du Lac, und uns auch nicht. Wir haben etwas Wichtiges vor.“
Seine Hand fuhr am Rand des Bootes entlang, und schon war er neben Cérise, betrachtete sie mit offenem Interesse, während sein grünes Haar um sein Haupt trieb. Seine Augen änderten sich; eben noch gelb, waren sie jetzt beinahe schwarz. Cérise zuckte zusammen.
„Wie schön du bist! Warum sollte ich jemanden, der so liebreizend ist, erschrecken oder ihm Leid zufügen?“
Er lächelte, und die Sängerin versank in dem Lächeln und starrte ihn mit offenem Mund und weiten Augen an. Dann schrie sie auf und faßte sich mit der Hand übers Herz.
„In der Tat, ich wüßte nicht, warum Sie das tun sollten“, gab sie etwas säuerlich zurück.
Er lachte.
„Ein Schutzamulett. So etwas trägst du?“
„Ja, und es brennt. Also seien Sie bitte so nett und hören Sie auf, mich zu bezaubern. Es wirkt nicht, Monseigneur. Seien Sie versichert, daß ich Sie auch ohne Zauber schon sehr … angenehm finde.“
Sie sprach mit einem Ernst, der ihren Gemütszustand Lügen strafte. Die Spitze ihres Sonnenschirms bebte.
„Glaubst du, so ein kleines Ding kann mich aufhalten?“ fragte er, und seine Stimme wurde etwas giftig. „Ich kann es auf deiner Haut ausbrennen lassen, wenn ich will. Ich kann es ein Loch bis in dein Herz brennen lassen, Schöne!“
„Ich dachte, Sie wollten uns kein Leid zufügen?“ gab Cérise mit fest installiertem Lächeln zurück.
„Keinem von euch will ich Leid zufügen. Ich bin hier, um euch über den See zu geleiten. Meinen See. Ihr seid in meinem Reich. Ihr gleitet dahin auf meiner … Großmut.“
„Das wissen wir zu schätzen“, erklärte Sophie, bevor Cérise anfangen konnte, sich mit dem mächtigen Wesen zu zanken. „Wir bitten um Nachsicht, daß wir Ihr Reich durchqueren. Wir haben eine Aufgabe.“
„Ich weiß“, sagte er und klang gelangweilt, „und wenn ihr sie erfüllt habt, werdet ihr wieder hierher zurückkommen.“ Er drehte sich um zu Corrisande, die ihr Gesicht aus den Händen gehoben hatte und ihm voller Schrecken in seine wieder gelben Augen blickte. „Du wirst zurückkommen, Liebste. Zu mir.“
Wie ein Fisch schnellte er herum und schoß davon, in die Tiefen des Sees. Das Boot landete am anderen Ufer des Grundlsees an. Sie hatten Gössl erreicht.
„Das ging aber schnell!“ rief der junge Ruderer. „Meine Mutter wird‘s nicht glauben. Seit Generationen hat er sich nicht mehr gezeigt. Hochwürden Benedikt, unser Priester, sagte, daß er nur Aberglauben ist. Ich muß ihm unbedingt …“
„Nein! Kein Wort!“ unterbrach Corrisande ungewohnt scharf.
„Aber das war der Wassermann vom Grundlsee! So schnell bin ich noch nie über den See gekommen!“
„Viel zu schnell“, sagte Sophie säuerlich. „Geradezu ungestüm, und Sie, mein Junge, täten besser daran, das Ereignis für sich zu behalten. Seine Durchlaucht, der Fürst des Sees, hat es nicht gern, wenn man mit ihm prahlt.“
Sie kletterten aus dem Boot, der junge Mann half ihnen. Dann nahm er den Korb.
„Meine Mutter sagt, ich soll Sie begleiten, soweit Sie möchten, und Sie dann allein lassen“, sagte er und klang dabei, als hätte er eine Order vom Kaiser selbst erhalten.
Die Damen nickten.
„Dann zeigen Sie uns den Weg zum Toplitzsee!“ bat Sophie. „Aber gehen Sie nicht zu schnell.“
„Ich weiß“, feixte er. „Feine Damen gehen immer furchtbar langsam.“
Sie schritten schweigend aus. Gössl bestand nur aus einigen wenigen verstreuten Häusern. Aus manchen Fenstern sahen ihnen Leute nach, und ein Mann trat aus dem Haus und blickte ihnen mißtrauisch hinterher.
Der Junge lief mit einem Mal schneller. Die Damen paßten sich seiner Geschwindigkeit klaglos an und sahen nicht zurück.
Nicht lange, und sie hatten das Dorf hinter sich gelassen. Der Weg führte zwischen hohe Bäume. Nicht weit entfernt konnten sie die steilen Felsen des Toten Gebirges sehen, wie es vor ihnen aufragte, karg, steinig und unheilverkündend. Die höchsten Gipfel waren schon schneebedeckt. Das Jahr neigte sich dem Ende.
„Was für eine wunderschöne Gegend“, sagte Sophie und sah sich ehrfürchtig um. Sie wollte ihre Begegnung mit Iascyn nicht diskutieren und war sich sicher, daß Corrisande es noch weniger wollte.
„Ich hasse Bergwanderungen!“ verkündete Cérise, deren sonst vornehm blasse Wangen einen mehr als rosigen Schimmer angenommen hatten. „Sie machen häßlich. Wir hätten uns Sänften kommen lassen sollen.“
„Also wirklich, wie hätten wir denn das bewerkstelligen sollen? Selbst wenn es in Grundlsee welche gäbe, oder in Aussee, so hätten wir doch eine mittelgroße Expedition organisieren müssen. Zwei Träger pro Person, einer für den Korb. Wir …“
„Ich weiß“, unterbrach Cérise. „Sie müssen es mir nicht vorrechnen. Ich dachte nur, es wäre vielleicht ganz nett, dort– wo immer wir auch hingehen – anzukommen, ohne wie ein schrumpeliger Bratapfel auszusehen.“
„Meine Liebe, Sie werden nie wie ein schrumpeliger Bratapfel aussehen.“ Sie fuhr leiser fort: „Wenn es uns gelingt, Arpad zu retten, wird es ihm einerlei sei, ob wir alle drei wie schrumpelige Bratäpfel aussehen.“
„Stimmt, er würde uns trotzdem appetitlich finden“, seufzte Cérise. Sie hielt inne. „Frau Treynstern, bitte verzeihen Sie meine Neugier, aber nachdem Sie Arpad verlassen hatten, um zu heiraten, haben Sie ihn nie wiedergesehen? Hat er Sie nie besucht?“
Frau Treynstern blickte in die Ferne und seufzte.
„Ich will ihn gar nicht wiedersehen. Obgleich das so nicht richtig ist. Tatsächlich will ich nicht, daß er mich wiedersieht. Ich würde es vorziehen, er behielte mich im Gedächtnis, wie ich war, und nicht als alternde Witwe, grau und faltig. Doch er braucht Hilfe, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ihm etwas zustößt.“
Cérise nickte.
„Sie haben tatsächlich nie aufgehört, ihn zu lieben“, bemerkte sie trocken.
„Könnten Sie das?“
„Nein“, gab die Diva beschämt zurück. „Doch ich glaube auch nicht, daß ich tun könnte, was Sie getan haben. Einen öden Gatten ehelichen – das meine ich nicht als Beleidigung – und mich in ein braves, moralisch untadeliges Leben fügen, freiwillig.“
Sophie lächelte.
„Älter werden ist keine Angelegenheit, die man sich aussucht, meine Liebe, und ein bürgerliches, wohlgefälliges Leben hat seine Vorzüge. Ich habe meinen Sohn. Ich konnte meine Liebe auf ihn fokussieren. Wahrscheinlich habe ich ihn verzogen. Mein Gatte war ein gutmütiger, freundlicher Mann. Ich mochte und respektierte ihn. Ich habe um ihn getrauert, als er viel zu früh starb.“
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, und Sophie sah, daß Cérise noch eine weitere Frage quälte, die sie aber nicht zu stellen wagte. Die Witwe lächelte.
Corrisande sagte nichts. Es war offensichtlich, daß die Unterhaltung der beiden über den dunklen Grafen eine sehr private Angelegenheit war. Sie konnte sich lebhaft an ihn erinnern, an seine Anmut und seine überraschende Freundlichkeit und Wärme.
Doch um ihn machte sie sich keine Sorgen. Was für Gefahren den Sí auch immer bedrohten, er hatte seine übermenschliche Kraft, nicht zu vergessen seine Magie, auf die er zählen konnte. Ihrem Mann hingegen stand zum Überleben nur menschliche Kraft und seine außergewöhnliche Dickköpfigkeit zur Verfügung – und natürlich McMullen.
Sie sah die herben Gesichtszüge ihres Gemahls vor sich, seinen Ausdruck, als er gedacht hatte, er müsse sie töten, um sie vor einem noch grausameren Schicksal zu bewahren. Fast konnte sie seine fieberhafte Besessenheit spüren, dann schien das Bild zu verlaufen, und ein wölfisches Antlitz mit ebenso gelben Augen blickte sie an und fletschte die Zähne. Das schnauzenartige Maul zeigte das Trugbild eines Lächelns, war nah, immanent und grauenhaft. Es erkannte sie und strebte ihr entgegen – und mußte doch nur auf sie warten. Die Erkenntnis krampfte ihr das Herz zusammen, als hätte jemand einen Dolch hineingerammt.
Sie merkte nicht, daß sie gefallen war, bis die beiden anderen Frauen neben ihr waren, jede auf einer Seite.
„Was ist? Können Sie nicht weiter?“ fragte Cérise.
„Was ist, meine Liebe? Geht es Ihnen nicht gut? Sollen wir umkehren?“
Sie rappelte sich mühsam auf und verbannte entschlossen das letzte Bild aus ihrem Kopf.
„Die Männer sind in Gefahr“, sagte sie. Sie war sich absolut sicher, obgleich sie es einen Augenblick zuvor noch nicht gewußt und nur die eigene Gefahr gesehen hatte. Sollte sie die auch ansprechen? Besser nicht.
„Ich wußte gar nicht, daß Sie hellseherisch begabt sind, Corrisande“ spöttelte die Exliebhaberin Philips.
„Wenn ich hellseherisch begabt wäre, hätte ich ihn nie hierher reisen lassen.“
„Warum glauben Sie dann, daß sie in Gefahr sind? Ich nehme an, Sie sprechen von Delacroix und McMullen und nicht von Arpad?“
„Etwas ist hinter ihnen her. Etwas Furchtbares. Ich habe es einen Moment lang wahrgenommen. Ein abscheuliches Wesen mit Krallen und Maul und gelben Wolfsaugen, die aussahen wie seine …“ Sie beendete ihren Satz nicht, blickte nur der Diva in die Augen, deren Ausdruck sich von Ungeduld in extreme Besorgnis wandelte.
Sophies Stimme klang beruhigend.
„Meine Liebe, Sie sollten dem keine zu große Bedeutung beimessen. Panikanfälle mögen auf Ihren Zustand zurückzuführen sein. Sie hatten nicht genug Schlaf und gestern Nacht ein furchtbares Erlebnis. Es muß einen nicht wundern, daß Sie Gespenster sehen. Doch wenn Sie sich zu schlecht fühlen, um weiterzugehen, müssen Sie das jetzt sagen. Wir können noch zurück.“
Corrisande riß sich zusammen.
„Nein. Wir dürfen nicht umkehren. Wir sind schon fast da. Es kann nicht mehr weit sein.“ Was immer kommen würde, war nicht mehr weit.
Sie gingen weiter, und Corrisande merkte, daß Sophie nicht von ihrer Seite wich. Doch die Fürsorge war unnötig. Sie fühlte sich nicht schwach. Sie hatte keine Attacke schwangerschaftsbedingter Beschwerden erlitten. Sie hatte in die Augen eines Ungeheuers gesehen, und es hatte sie zum nächsten Gang in seinem Menü auserkoren. Zum Nachtisch.
„Cérise, haben Sie eine Waffe?“
„Ich habe meinen Derringer und ein wenig Munition eingesteckt, und Sie?“
„Ich habe zwei Messer und eine Phiole Schlaftropfen – nicht, daß ich glaube, die würden uns helfen. Wie steht es mit Ihnen, Sophie?“
„Ich fürchte, ich weiß weder mit Messern noch mit Schußwaffen umzugehen. Ich bin fasziniert, daß Sie das können.“
„Wir haben beide unsere geheimen Fähigkeiten“, gab Corrisande zurück.
„Das wurde mir klar, als Sie all diese Türen aufbekommen haben. Wir haben ein Brotmesser im Korb. Wenn es sein muß, kann ich versuchen, das zu führen. Ich möchte allerdings bezweifeln, daß ich viel Talent dabei beweisen werde. Glauben Sie wirklich, daß wir in einen Kampf verwickelt werden?“
Corrisande schluckte. Nur nicht zu viel sagen.
„Ich weiß es nicht. Ich kann wie gesagt nicht hellsehen. Ich weiß auch nicht, wo die plötzliche Gewißheit, daß dort Gefahr lauert, kommt. So wundervoll diese Gegend ist, sie ängstigt mich. Von Görenczy sagte, daß die Männer nach Fey suchen. Das sollte einfach sein. Höchstwahrscheinlich steckt hinter jedem einzelnen Baum einer. Sie können überall sein.“ Überall. Sie lauerten im Dunkel oder im Licht – oder im Wasser.
Der Junge, der vorangeschritten war, hatte nun angehalten und drehte sich zu ihnen um. Er wartete, bis sie ihn eingeholt hatten und wies dann auf ein kleines Steinmonument, das aussah wie eine Miniaturkirche. Die Eingangsseite war offen bis auf eine hölzerne Halbtür.
„Sie haben gesagt, Sie suchen einen heiligen Ort“, sagte er und setzte den Korb ab. „Das ist hier der einzige.“
„Danke, mein Junge“, sagte Sophie und reichte ihm ein großzügiges Trinkgeld. „Du kannst gehen. Wir werden den Weg zurück allein finden. Ich nehme an, daß wir dort jemanden finden werden, der uns wieder zur Poststation übersetzt.“
Er zuckte die Achseln.
„Die Waldners vielleicht. Ihr Haus ist gleich am See.“
Er verneigte sich linkisch und lief dann schnell den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Die drei Damen standen ein wenig verloren herum.
„Alors“, sagte Cérise und wandte sich dem seltsamen Bau zu. „Schauen wir uns das mal an.“
„Eine kleine Kapelle“, kommentierte Sophie. „Sehen sie, da ist ein Bild mit drei Heiligen.“
Sie traten zu dem kleinen Schrein und spähten hinein. Er war nicht groß genug, um ihn betreten zu können, außer auf den Knien. In der Tat befand sich vor dem Altargemälde ein kleines Holzbänkchen zum Niederknien. Das Fresko war direkt auf die Wand gemalt, gegenüber dem Eingang. Darunter war ein kleiner Sims mit Blumen. Wer immer sie gebracht hatte, war noch nicht lange fort. Die Blumen waren nicht mehr frisch, aber auch noch nicht völlig welk.
„Wir haben doch noch Zeit, nicht?“ fragte Cérise.
„Genug. Also, was jetzt?“
Corrisande betrachtete wieder das Bild. Sie wußte wenig über alpine Volksfrömmigkeit, doch ein Bild wie dieses hatte sie noch nicht gesehen. Es war mit leuchtenden Farben gemalt und zeigte drei Frauen in fließenden grauen Roben, die fast wie Nebel aussahen. Sie schwebten über dem Gebirge und lächelten seltsam. Unstet fast.
„Sie sehen bizarr aus. Ich bin nicht katholisch, doch auf meinen Reisen habe ich immer nur Heilige mit Leidensmiene gesehen. Das sind die heitersten Märtyrerinnen, die mir je untergekommen sind.“
„Jemand bringt ihnen Blumen“, bemerkte Cérise.
„Das sollten wir auch“, meinte Sophie und sah sich um. „Es ist spät im Jahr, aber ein paar Pflanzen sollten wir noch finden können, um daraus einen Strauß zu machen.“
Sie lief um das Kapellchen herum und kam triumphierend mit einem alten Reisigbesen zurück. Sorgsam öffnete sie das Holztürchen und begann, den Raum zu kehren, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Wirklich, Frau Treynstern, halten Sie das für nötig?“ fragte Cérise pikiert.
„Dies ist ein Ort der Verehrung, und wir erwarten Hilfe. Das wenigste, das wir tun können, ist, ihn sauberzumachen und zu schmücken. Pflücken Sie ein paar Blumen oder Kräuter, Mademoiselle. Ich bin sicher, die drei hier werden sich darüber freuen.“
Corrisande und Cérise begannen, den Boden nach passenden Pflanzen abzusuchen. Alle drei Frauen waren so beschäftigt, daß sie den Mann erst bemerkten, als er sie grüßte.
„Grüß Gott, die Damen“, sagte er, und Corrisande erkannte in ihm den Mann, der in Gössl aus dem Haus getreten war und ihnen nachgestarrt hatte.
Sie beantworteten seinen Gruß höflich, doch ohne Herzlichkeit.
„Schönes Wetter heute“, fuhr er fort, und sie ignorierten ihn.
„Sind Sie hier in der Sommerfrische?“ fragte er, und diesmal drehte sich Sophie zu ihm um und starrte ihn hochmütig an.
„Wir sind auf einer Wallfahrt, guter Mann. Für die Rettung unserer Seelen haben wir die Aufgabe übernommen, Andachtsorte wie diesen zu säubern und zu schmücken. Sie müssen gehen und dürfen uns nicht weiter stören. Frauenfrömmigkeit verträgt sich nicht mit Männerbegehren.“
Der Mann sah sie wie vom Donner gerührt an. Dann schweifte sein Blick zu der hellblonden Schönheit, die den Blick sittsam senkte und sich bekreuzigte. Corrisande kopierte die Geste, und beide Frauen drehten sich von dem Mann fort wie brave kleine Nonnen.
Das war ihm augenscheinlich peinlich.
„Ah“, brummte er, „ich will Sie ja nicht stören …“
„Dann lassen Sie es“, unterbrach in Sophie, deren gestrenger Blick ihm offenbar Unbehagen bereitete.
„Dann gehe ich wieder …“ fuhr er fort.
„Mögen die Heiligen Sie beschützen“, schnitt sie ihm das Wort ab.
„Es ist nur … hier ist es wild und gefährlich. Die Damen sollten hier nicht allein …“
„Wir sind nie allein. Der Herr ist bei uns.“
„Ah …“ begann er wieder, anscheinend unsicher, wie er fortfahren sollte. „Es ist nur … ich meine, Sie sollten nicht hier sein, wenn es dunkel …“
Die beiden jüngeren Frauen hielten sich weiter von ihm abgekehrt und gingen ihrer Aufgabe nach, ohne ihn zu beachten. Die ältere Frau warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Will er damit andeuten, wir seien die Art von Damen, die nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße lungern?“
„Ah … nein … natü…“
„Das will ich meinen. Haben Sie die Güte, uns jetzt allein zu lassen. Ich muß sagen, ich bin entsetzt von Ihrem Benehmen. Ich werde mich bei Hochwürden Benedikt beschweren. Er hat uns versichert, wir könnten hier ganz sicher unserer heiligen Pflicht nachkommen, unbelästigt von unverschämten Kerlen, die uns für unmoralisches Weibsvolk halten. Wir hätten diese Aufgabe keinesfalls ohne seinen Schutz übernommen, hätten wir geahnt, daß diese gottesfürchtige Gegend für uns gefährlich werden könnte.“
„Gnädige Frau …“
Sie starrte ihn nur an, und er wandte sich um und lief mit erheblicher Geschwindigkeit den Weg zurück, den er gekommen war. Die drei sahen ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war.
„Meine liebe Frau Treynstern“, sagte Cérise nach einer Weile. „Ich bewundere Sie. Ihre Ausführungen haben mich tief berührt.“
„Stimmt. Einen Augenblick lang kam ich mir richtig heilig vor“, pflichtete Corrisande ihr bei, während sie Wildblumen und Gräser zu einem Strauß arrangierte. „Wie gut, daß Sie den Namen des Pfarrers behalten haben. Das war eine Abkanzelung erster Güte. Nicht mal meine Anstandsdame, Gott hab sie selig, hätte es besser gekonnt. Ich dachte bisher, sie sei völlig unerreicht darin, Worte anzusetzen, als wären es Daumenschrauben.“
Beide jungen Frauen wandten sich nun dem Schrein zu, während Sophie den Besen wieder dort verbarg, wo sie ihn gefunden hatte. Dann trat sie in die Kapelle, gebückt und auf Knien, um die verblühten Blumen zu entfernen. Nach ihr kam Corrisande, kniete nieder und legte ihre Blumen auf die eine Seite, Cérise die ihren auf die andere Seite.
Schließlich standen sie alle drei wieder davor und sahen den Schrein still an.
„So seid ihr denn gekommen“, sagte eine Stimme hinter ihnen, die so alt war wie die Berge, so mächtig wie eine Felslawine und so allumfassend wie der Tod.