Kapitel 33
Blendung. Eine ausnehmend hinterlistige Maßnahme, um Fluchtversuche zu unterbinden. Der Meister des Arkanen hatte ihnen versichert, es handle ich um einen zeitweiligen Effekt. Bisher allerdings ließ die Erblindung nicht nach.
Delacroix konzentrierte sich auf seinen Gehörsinn. Doch wo immer man sie auch eingesperrt hatte, er konnte von draußen absolut nichts hören. Die Abwesenheit jeden Geräusches ließ weitere Zauberei vermuten. Meister konnten Klang bannen. Die andere Möglichkeit war, daß er sie zur Blindheit auch noch mit Taubheit geschlagen hatte. Blind und taub wären sie so hilflos, wie der Mann sie nur haben wollte.
„Grossauer?“ fragte er ins Dunkel, dachte daran, Udolfs Pseudonym zu benutzen.
„Hier! Obwohl ich es lieber nicht wäre“, murmelte eine müde Stimme.
„Versuchen Sie zu schlafen. Es gibt nichts, was Sie tun könnten. Sollten Sie uns etwas zu essen und zu trinken bringen, gebe ich Ihnen Bescheid.“
„Essen und Trinken. Großer Gott. Was für entzückende Ideen Sie haben. Können Sie etwas sehen?“
„Nein. Es ist vollständig dunkel. Anscheinend sind wir die Gefangenen eines Zaubermeisters.“ Nicht nur das. Sie waren einem Angehörigen der Bruderschaft des Lichts in die Fänge geraten. Unangenehmer konnte es kaum sein. Doch das sagte er nicht, da er argwöhnte, was immer er sagte werde seinen Weg an das arkan geschulte Ohr finden. Meister konnten Unterhaltungen belauschen, die in anderen Räumen stattfanden, und die Bruderschaft hatte das immer schon gerne getan, um mehr über ihre Gefangenen herauszufinden. Nur waren ihre Gefangenen selten Menschen, und die Fey sagten meist gar nichts, schrieen nur, wenn man sie langsam zu Tode quälte.
Also taten sie gut daran, selbst auch schweigsam oder doch zumindest vorsichtig zu sein. Er fragte sich, wie er von Görenczy diesen Gedanken nahebringen sollte. Sie steckten bis zum Hals in Ärger.
„Waren Sie auf der Jagd, als sie in das Loch fielen, Grossauer?“
Der Offizier antwortete nicht gleich.
„Ich bin Maler, Fairchild. Landschaftsmaler.“
Maler. Das war eine gute Tarnung. Man konnte sich mit seiner Staffelei irgendwo hinstellen und den ganzen Tag dort stehenbleiben. Allerdings setzte es zumindest eine Spur künstlerischer Begabung voraus. Vielleicht hatte von Görenczy ja verborgene Talente.
„Ah“, sagte er. „Mein Freund und ich waren unterwegs, um nach seinem Neffen und dessen Lehrer zu suchen. Sie sind in den Bergen verschollen.“
„Davon habe ich gehört“, erwiderte von Görenczy. „In dem Wirtshaus, indem ich wohne – wohnte –, hat man darüber gesprochen. Anscheinend eine gefährliche Gegend.“
„Scheint wohl so. Ich frage mich, wer diese Verrückten sind und weshalb sie einfache Wanderer und Maler einkerkern.“
„Das ist mir egal. Ich will nur weg. Herrgott, bin ich zerschlagen.“
Seine Aussprache war undeutlich vor Ermattung. Es war besser, nicht jetzt mit von Görenczy zu reden, solange er zu unkonzentriert war, um vorsichtig zu sein. Vorsicht war ohnehin nicht die Stärke des draufgängerischen jungen Mannes.
„Ruhen Sie sich aus. Es ist das Beste, was Sie tun können.“
Er hörte, wie der andere Mann sich zurechtlegte.
„Verflucht kalt“, murmelte der Offizier. Er war tagelang im Freien gewesen. Wahrscheinlich war er bis auf die Knochen durchgefroren. Die Nächte im Gebirge waren um diese Jahreszeit kalt. Delacroix zog seinen Mantel aus.
„Wo sind Sie? Strecken Sie die Hand aus!“
Er tastete durchs Dunkel und fand die Hand des anderen.
„Nehmen Sie meinen Mantel. Ich brauche ihn nicht.“
Wieder war es einen Moment lang still.
„Danke“, sagte Udolf dann; er hatte offenbar ein wenig gebraucht, um seinen Stolz zu überwinden.
„Bitte.“
Delacroix hörte, wie der Mann sich in den Mantel einrollte. Er wandte sich seinem Gefährten zu, der immer noch reglos neben ihm lag, tastete nach dessen Hand, fühlte seinen Puls. Der war gleichmäßig, stark und ließ keine Rückschlüsse auf das Befinden des Magiers zu. Dann drückte dieser plötzlich Delacroix‘ Hand. McMullen war wach.
Fast hätte er ihn angesprochen, doch er hielt sich zurück. Wenn der Meister eine Ohnmacht vortäuschte, hatte er vermutlich einen guten Grund dafür.
Delacroix atmete tief durch. Er konnte nichts tun. Seine Hilflosigkeit schabte an ihm wie Sandpapier. Er schluckte mühsam seinen Ärger hinunter. Wut blockierte das logische Denkvermögen. Er war eingesperrt, blind und hatte zwei angeschlagene Begleiter. Er tat gut daran, sich nicht von seinem übelgelaunten Tatendrang übermannen zu lassen. Klares Denken war gefragt.
Klares Denken in völliger Finsternis. Höchstwahrscheinlich hätte er auch schlafen sollen; es gab nichts, was er sonst tun konnte. Doch in ihm brodelte die Wut, und er war hellwach, obgleich er diese Nacht auch nicht geschlafen und zudem noch McMullen mindestens eine Meile weit geschleppt hatte. Sollte er je herausfinden, daß McMullen seine Ohnmacht dabei nur vorgetäuscht hatte, würde er ihm die eigenen Füße zum Frühstück vorsetzen. Doch McMullen würde ihm darüber wohl kaum Auskunft geben.
Er schrak zusammen, als ihn plötzlich etwas berührte. Wie eine leblose Hand oder die Ranke einer Pflanze wanderte etwas über seine Wange. Einen Augenblick lang verspürte er Furcht. Dann merkte er, daß es Wasser war. Wasser tropfte auf sein Gesicht.
Er streckte den Arm nach oben, konnte die Decke aber nicht erreichen. Weitere Tropfen fielen auf seine Hand. Ihr Gefängnis war nicht trocken. Er rappelte sich hoch und streckte sich erneut. Diesmal konnte er Stein spüren, scharfkantigen, unbehauenen Naturstein, leicht glitschig vor Nässe. Er tat einen Schritt nach vorn, gab Acht, nicht auf seine Freunde zu treten, die je zu einer Seite lagen.
Drei Schritte, dann hatte er eine Wand erreicht. Auch diese schien aus Fels zu sein. Er tastete sie ab. Höhlenfels. Nicht überraschend, das Echo seiner Schritte hatte ihm schon angedeutet, daß er sich nun in einem Berg befand.
Was konnte er aus seinem Wissen schließen? McMullens Neffe hatte von einer neuen Waffe berichtet, einer Geheimwaffe. Der Meister hatte den Mann, der mit ihm zusammen hier das Sagen hatte, als Professor angeredet. Ein Wissenschaftler? Ein Forscher? Hatte man sich zur ungehinderten Entwicklung eines Geheimprojekts in die Berge zurückgezogen? Nur – was hatte ein irischer Bruder der Fraternitas Lucis bei so etwas zu suchen?
Er zweifelte nicht daran, daß der Meister des Arkanen, der sie aufgespürt hatte, zu dieser Geheimorganisation gehörte. Wenn er hier mitmachte, mußte das hier mit den Sí zu tun haben. Das war das einzige, an dem diese Eiferer ein Interesse hatten, außer vielleicht noch an Hexen und Hexenmeistern. Doch Hexen waren selbst in so gewalttätigen Kreisen wie der Bruderschaft aus der Mode gekommen.
Die Angelegenheit roch nach seinem alten Lehrmeister, Pater Emanuele. Nur war der tot. Er war im Refugium der Bruderschaft verbrannt, in jener Nacht, als die fanatischen Kleriker Corrisande entführt und mißhandelt hatten. Der Mann war tot, doch sein Schatten lag noch immer auf Delacroix‘ Seele.
Pater Emanuele war Asche, aber seine Ideen und Überzeugungen hatten ihn überlebt. Haß war einfacher in Menschen zu pflanzen als Liebe. Es waren schwarze Narben in Delacroix‘ eigenes Herz eingegraben, Finsternis, die er mit eisernem Willen in Schach hielt, Haß, der ihn leiten wollte, Wut, die ihn trieb, Zorn, der ihn zu einem gedankenlosen Killer machen konnte. Manches von dieser Zerstörungswut hatte ihm die Bruderschaft eingepflanzt. Sie verstand es, Menschen zu willenlosen, fanatischen Waffen zu machen.
Doch anderes war noch tiefer in ihm verwurzelt, hatte sich in ihn eingegraben, als ihn ein gelbäugiges Teufelswesen berührt hatte, das ihn als Opfergabe auserkoren hatte, um sich durch die Kinderseele zu manifestieren. Dieses Ereignis hatte ihn von Grund auf verändert.
Es hatte eines langen Lernprozesses bedurft, seine Gefühle immer unter eiserner Kontrolle zu halten und seine explosive Aggression mit strengem Willen zu zügeln. Er hatte sich zum ruhigen Denker und unerschütterlichen Taktiker erzogen. Doch er wußte, daß er sehr viel mehr war als nur der höfliche Brite, und jetzt fühlte er es wieder allzu deutlich.
Tief im Berg war er gefangen. Der unebene Grund unter seinen Füßen war Fels und reichte hinab in Gefilde, von denen er nichts Gutes erwartete. Monster und Dämonen harrten im Dunkel unter dem Tritt menschlicher Füße. Das war ihm seit damals klar. Er hatte erfahren, wie es sich anfühlte, von einem nichtmenschlichen Wesen erwählt, erobert und übernommen zu werden und sich nicht wehren zu können.
Er knirschte mit den Zähnen. Im Dunkeln war es schwer, sich am Rationalen festzuhalten. Er mußte sich auf etwas Positives konzentrieren, damit er aus dieser Gedankenhölle freikam. Corrisande – alles, was in seinem Leben gut war.
Er lehnte seine Wange ans kalte Gestein, konzentrierte sich auf das Gesicht seiner Frau. Ihre großen, meerblauen Augen erschienen in seinem Sinn, dann verschwanden sie zugunsten eines fremden Gesichtes, das einem jungen Mann gehörte, einem rothaarigen Halbwüchsigen in geckenhaft modischer Kleidung. Er sang ein Lied und lächelte, wobei man mehrere Reihen Zähne in seinem Mund erkennen konnte. Wie ein Alptraum verweilte die Vision in seinem Denken, änderte Details, wurde intensiver. Eine Stimme erklang in ihm: „Wir haben sie für dich herbeigerufen.“
Delacroix atmete wütend aus. Es war besser, sich niederzusetzen und auszuruhen. Sich Sorgen zu machen brachte ihn nicht weiter. Er war blind. Das würde aufhören. Er würde jetzt ruhen oder es zumindest versuchen.
Er tastete sich zurück zwischen die beiden anderen Männer, berührte sie, um festzustellen, wo sie sich befanden. Dann schloß er die Augen. Einen Unterschied machte das nicht in der vollständigen Schwärze, die ihn umgab, doch es beruhigte ihn, als sei das Licht eben nur einen Augenaufschlag entfernt.
In der Höhle war es kalt. Doch von Görenczy hatte den Mantel nötiger gebraucht als er selbst. Ermüdung und Entbehrung hatten ihn gezeichnet. Doch seine Verletzungen waren leicht. So jung wie er war, würde sein durchtrainierter Soldatenkörper sich schnell von Schwäche erholen, auch wenn er für heute genug getan hatte. Delacroix hörte seine regelmäßigen Atemzüge. Der Mann schlief bereits, zu müde, um wach zu bleiben – ungeachtet der Gefahr.
McMullen lag mucksmäuschenstill und reglos da. Delacroix wunderte sich, wußte jedoch zu wenig über die Feinheiten arkaner Wissenschaft, um erraten zu können, was genau der Meister mit seiner vorgetäuschten Ohnmacht bezweckte. Denn obgleich Delacroix‘ Erfahrungshorizont arkane Dinge betreffend über den des Durchschnittslaien hinausging, der zumeist glaubte, Meister des Arkanen seien Trickbetrüger, die Mesmerismustricks auf Soireen zum Besten gaben, so war sein Wissen doch nur theoretischer Natur.
Er konzentrierte sich wieder auf das Jungengesicht, das er in seinen Gedanken gesehen hatte. Ein rothaariger Jugendlicher. Mochte das der Bengel sein, den zu suchen sie gekommen waren? Delacroix hatte nie geglaubt, daß sie den Jungen lebend finden würden. Vier Wochen waren eine zu lange Zeit, um verirrt im Gebirge zu überleben. Doch es war möglich, daß auch er gefangengenommen worden war. Allerdings konnte er sich keinen Grund vorstellen, warum die Männer Eindringlinge am Leben lassen sollten, wenn ihre Ziele das waren, was er vermutete, und ihre Macht so groß wie sie schien.
Er zweifelte nicht daran, daß der Meister sie zum Reden bringen würde. Die Schutzamulette hatte er ihnen abgenommen, und so würde es für ihn leicht sein, sie zu mesmerisieren, um sie gesprächig zu machen. McMullen und er wußten nicht viel. Doch selbst das wenige, das sie wußten, barg Gefahren, und es war möglich, daß sie die Existenz einer Mrs. Fairchild ergründen würden.
Er mußte hier raus. Er mußte weg, ehe sie sein Gedächtnis durchforsten konnten. Wenn die Bruderschaft hierin verwickelt war, dann würde sie Corrisande erbarmungslos töten. Sie würden sie als Fey ansehen, und mit den Fey gingen sie immer gleich um: Sie schafften sie aus der Welt.