Kapitel 43

Der Mond schien; trotzdem war es sehr dunkel. Die drei Damen hatten eine schmollende Marie-Jeannette in der Poststation zurückgelassen. Mit Laternen bewaffnet wanderten sie am Seeufer entlang, auf der Suche nach einem ruhigen Ort, der nicht einsehbar war und Zugang zum Wasser bot. Sie wußten, sie mußten auch der geheimnisvollsten Spur nachgehen, die sie hatten – dem Wissen, das Corrisande aus dem Wasser holen wollte.

Sie hatte Angst, die sie nicht zu zeigen versuchte. Es hätte ihre Begleiterinnen nur unnötig nervös gemacht, und sie brauchte sie wachsam und konzentriert. Sie hatte die maßlose Vitalität des Wassers deutlich gespürt und war sich ihrer eigenen Winzigkeit und Unwichtigkeit ihm gegenüber sehr bewußt. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Wasser war bislang immer nur Wasser gewesen.

Das bißchen Nereidenblut, das in ihr floß, machte sie nicht zu einer Feyon; sie hatte weder das Wissen noch die Macht, sich davor zu schützen, unwiederbringlich in die Fluten gezogen und vereinnahmt zu werden. Sie begriff nur die Gefahr. Sie mußte sich auf ihre Begleiterinnen verlassen, die über solche Dinge so wenig wußten wie sie selbst.

Doch sie mußten etwas unternehmen, und zwar so rasch wie möglich. Sie hatten den Nachmittag damit zugebracht, behutsam Auskünfte einzuholen. Leicht war es nicht gewesen. Marie-Jeannette hatte freundschaftliche Bande zum Sohn der Ladners geknüpft, und sie schienen sich ausnehmend gut zu verstehen. Trotzdem war der junge Mann nicht sehr mitteilsam, was die wirklich interessanten Dinge anging, auch wenn er sich offenbar gern mit der französischen Zofe befaßte. Möglicherweise wußte er ja nichts. Vielleicht vermied er aber auch nur, über unangenehme Dinge zu reden, wie alle anderen auch.

Frau Treynstern und Cérise hatten Wirt und Wirtin in eine fruchtlose Unterhaltung verwickelt, während Corrisande die Schlösser der restlichen Gästezimmer knackte und diese durchsuchte. Darin war sie gut, und Frau Treynstern war erstaunt über ihren Wagemut gewesen. Woher sie diese Kenntnisse besaß, hatte sie nicht gefragt. Cérise auch nicht, doch die hatte das nicht erstaunt. Sie wußte ohnehin mehr über Corrisandes Vergangenheit, als sie sollte.

Philips Besitztümer hatte sie sofort erkannt. Er und McMullen teilten einen Raum. Ihre Betten waren entweder schon gemacht, oder niemand hatte darin geschlafen. Er war bewaffnet losgezogen, seine Handfeuerwaffe und seine Messer fehlten. Sie packte alles wieder weg, um dem Zimmermädchen keinen Anlaß zum Argwohn zu geben. Dann nahm sie sich den nächsten Raum vor. Der schien einem Maler zu gehören. Sie fand Skizzenblöcke, Leinwand, ein unvollendetes Ölgemälde und eine Mappe mit Bleistiftzeichnungen. Sie öffnete sie und besah sich die Zeichnungen. Sie waren gut. Wer immer sie gezeichnet hatte, hatte Talent und eine Vorliebe für schöne Frauen.

Sie hielt überrascht inne, als sie ein Bild von Marie-Jeannettes Gesicht und Büste fand. Das Dekolleté war unnötig übertrieben, doch der freche Blick der jungen Zofe war gut eingefangen. Merkwürdig – und völlig unerklärlich. Niemand hier hatte sich hingesetzt, um das Mädchen zu zeichnen. Sie hätte gar nicht die Zeit dazu gehabt, Modell zu sitzen, und die Zeichnung sah auch nicht neu aus.

Also suchte Corrisande weiter und fand noch ein Antlitz, das sie kannte. Diesmal war es ein ziemlich unschmeichelhaftes Bild Cérise Denglots. Ihr Gesicht war zur herablassenden Grimasse verzogen und ihr Haar in Locken aufgetürmt, die alle aus Männergesichtern bestanden. Zu ihrem amüsierten Entsetzen fand sie auch ihren Gatten darunter. Er sah verdrießlich aus. Wer immer das gezeichnet hatte, mußte die Sängerin gut kennen – und auch Philip. Sie war versucht, das Bild zu stehlen, gebot ihrer diebischen Ader jedoch Einhalt. Sie war nun eine brave, ehrliche Ehefrau, keine kleine Diebin mehr.

Sie besah sich die restlichen Bilder. Ein aufschlußreiches Aktbild von Cérise war darunter. Die Sängerin räkelte sich hüllenlos auf einem zerwühlten Bett, das wohl Schauplatz einer wilden Liebesnacht gewesen war. Das Bild war ausnehmend detailliert und gänzlich unmoralisch. Erschreckend intim. Es machte deutlich, daß, wer auch immer es gezeichnet hatte, sich dafür nicht auf seine Vorstellungskraft allein hatte verlassen müssen.

Philip konnte es nicht gewesen sein. Sein künstlerisches Talent hielt sich in Grenzen. Doch wer hatte es gezeichnet?

Corrisande dachte an Asko, den sie erst am Morgen gesehen hatte. Aber sie verwarf den Gedanken. Er war nicht der Typ für geheime Liebesabenteuer und schon gar nicht der Typ, der so etwas zu Papier brachte. Sicher konnte sie allerdings nicht sein. Die Herren der Schöpfung hatten ab und zu verborgene Abgründe, die man von außen nicht wahrnahm.

Doch es sah ihm nicht ähnlich. Sie sah sich den Rest der Bilder an, und das letzte zeigte sie selbst. Sie kauerte auf dem Boden und starrte angstvoll und schreckensbleich auf etwas, das man im Bild nicht sehen konnte.

Es mußte von Görenczy sein. Nur er, Philip und Asko hatten sie je so gesehen. Wenn es Philip und von Orven nicht waren, so blieb nur von Görenczy – vermutlich auf gemeinsamer Mission mit von Orven.

Er war nicht im Haus. Vielleicht war er unterwegs und malte.

Die übrigen Zimmer gehörten den Wirtsleuten. Sie besah sich einige Dinge, fand aber nichts, das sie weiterbrachte. Es gab keine Briefe, nichts, was Licht auf die Angelegenheit geworfen hätte.

Nachdem sie ihre Spuren verwischt hatte, ging sie wieder nach unten, wo die beiden anderen Damen immer noch jedes Mitglied des Hauses mit wortreichen Diskussionen festhielten. So bezaubernd hier. So verträumt. Erzherzog Johann und das alles. Ganz wie in einem Roman. Kamen viele Sommerfrischler her? Jäger eventuell? Oder Bergsteiger, die die Natur liebten? Wie schön es hier war!

Cérises Gesicht war auf entzückendes Lächeln eingestellt, sie spielte ihre Rolle wie auf der Bühne. Ihr fehlte nur ein Libretto. Frau Treynsterns Freundlichkeit wirkte ein wenig forciert, und sie sah erleichtert aus, als Corrisande mit einem süßen, unschuldigen Lächeln auf den Lippen zu ihnen trat.

Sie schaltete sich gleich in die Unterhaltung ein und pflichtete der letzten Begeisterungsäußerung kräftig bei. Wirklich, hier war es schön. Wie gerne sie doch ein Bild von dieser Landschaft als Andenken zurück mit nach England nähme. Ob es wohl viele Künstler gab, die herkamen, um zu malen? Wie schade, daß im Moment keiner da war, sie würde ihm sofort ein Bild abkaufen.

Die Wirtin sah sie mißtrauisch an, sagte aber nichts. Ihr Ehemann konnte einem unschuldigen Augenaufschlag weit weniger gut widerstehen. Die Heirat hatte Corrisande nicht alle ihre Tricks vergessen lassen.

Tatsächlich hatten sie zurzeit einen Künstler zu Gast, erzählte er. Doch der war unterwegs, malte und war schon geraume Zeit nicht zurückgekommen. Vielleicht würde er der Dame ja ein Bild verkaufen, wenn er zurückkam.

„Aber das wird er doch sicher heute Abend?“ fragte Sophie mit einem Lächeln, dessen Süße ihre verblaßte Anmut neu aufleuchten und Corrisande verstehen ließ, warum Arpad sie damals erwählt hatte. „Oder wird er vermißt?“

Diese Frage veranlaßte Wirt und Wirtin, sich an ihre Aufgaben im Hause zu erinnern, die sie so pflichtvergessen vernachlässigt hatten, und sie suchten höchst eilig das Weite. Die Damen hatten daraufhin ihren ersten Spaziergang gemacht, und nun waren sie wieder draußen, im Dunkel der Nacht.

„Er hat Bilder von mir gezeichnet?“ fragte Cérise zum wiederholten Mal, und Corrisande bedauerte bitter, daß sie ihren Begleiterinnen von den Bildern erzählt hatte. „Könnten Sie nicht noch einmal in das Zimmer einbrechen und sie mir holen? Ich würde sie wirklich gern sehen. Ich wußte, daß er kein schlechter Künstler ist. Er hat mir einmal eine Porträtzeichnung gemacht, als er … nun, als er an mir interessiert war. So lange ist das schon her. Sie wissen ja, wie Chevauleger-Offiziere so sind – draufgängerisch und romantisch, und wie gesagt – er war außerdem ein begabter Maler. Für einen Laien. Ein nettes Bild, das er da gemacht hatte, sehr schmeichelhaft. Er hatte mich als Göttin gezeichnet. Als Aphrodite. Ein gutes Bild, wenn auch leicht skandalös. Griechische Göttinnen kleiden sich allgemein etwas freizügig.“

„Höchstwahrscheinlich ist es in Griechenland heiß“, erwiderte Corrisande in dem Versuch, die Konversation von den Bildern fortzubewegen. Das Wetter an sich sowie die klimatischen Besonderheiten ferner Länder eigneten sich gemeinhin für so etwas. „Die griechischen Statuen, die wir in London haben, sind auch ausgesprochen unpassend gekleidet. Für britisches Wetter und für britische Moralvorstellungen. Apropos Wetter, ich glaube, der Mond wird bald hinter den Wolken verschwinden. Wir sollten uns beeilen. Diese Laterne leuchtet nicht sehr weit. Wir wollen ja nicht im Gestrüpp verloren gehen.“

„Apropos verloren gehen“, fuhr Frau Treynstern ohne Pause fort und verhinderte somit weitere Diskussionen über Bilder, griechische Göttinnen und göttliche Opernsängerinnen. „War es nicht sonderbar, wie nervös die Wirtsleute wurden, als die Frage aufkam, ob einer ihrer Gäste verschwunden sei? Ich bin ganz sicher, daß sie mehr wissen, als sie sagen. Doch solange wir ihnen keinen reinen Wein einschenken, weiß ich nicht, wie wir sie dazu bringen sollen, uns alles zu erzählen.“

Cérise schnüffelte indigniert.

„Den ‚reinen Wein‘ sollten wir uns als letzte Maßnahme aufheben“, sagte die Sängerin. „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ‚die Wahrheit und nichts als die Wahrheit‘ in seiner positiven Wirkung stark überschätzt wird. Falls diese Leute zu einer Verschwörung gehören, die ihre Gäste auf Nimmerwiedersehen in den Bergen verschwinden läßt, dann ist das Letzte, das sie wissen sollten, daß wir nach ihnen suchen. Doch ich möchte noch einmal zu den Zeichnungen zurückkommen …“

„Vielleicht gehören sie gar nicht zu einer Verschwörung. Wenn sie ihre Gäste verschwinden ließen, würden sie doch nicht deren Besitz so säuberlich für sie aufbewahren. Vielleicht wissen sie ja etwas, das uns weiterhilft?“ unterbrach Corrisande. Sie hatte die Bilder nicht beschrieben, nur ihre Existenz erwähnt, um ihren Urheber zu ermitteln, und die schöne Cérise konnte sich nicht vorstellen, daß irgendwer sie jemals unvorteilhaft abbilden könnte. Wenn sie sie je zu Gesicht bekam, würde sie vor Zorn rasen.

„Sie haben Recht“, sagte Sophie. „Ich stimme mit Mlle. Denglot überein, daß wir die Wahrheit nur im Notfall preisgeben sollten. Zumindest solange wir nicht wissen, welche Rolle unsere Gastgeber bei dem allen spielen. Meine Liebe, ist Ihnen nicht kalt? Sie müssen besser auf sich aufpassen. Bergnächte sind äußerst frisch.“

„Schick!“ rief Cérise, während sie Corrisande zusah, wie diese ihren Mantel ablegte und nun in einem sehr feschen Badekostüm am Seeufer stand. Die Farbe war in der Dunkelheit nicht auszumachen, doch es hatte eine Menge Spitzenrüschen., Die Beinkleider reichten tatsächlich gerade bis übers Knie und gaben den Blick auf zwei zarte Unterschenkel frei. „So einen Badeanzug muß ich auch haben. Wie unübertrefflich skandalös! Sehr geschmackvoll!“

„Schwimmen Sie gern?“ fragte Corrisande unschuldig.

Mon Dieu, nein! Es ruiniert die Frisur, und diese Kostüme sehen auch nur attraktiv aus, solange sie trocken und frisch gestärkt sind. Aber ich muß sagen, daß sie die unteren Gliedmaßen vorteilhaft zur Geltung bringen. Benutzen Sie den Anzug tatsächlich zum Schwimmen?“

Corrisande lachte. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, einen Badeanzug zu etwas anderem zu benutzen.

„Das tue ich wirklich. Ich schwimme gerne. Zumindest früher. Seit ich in dem Kanal fast ertrunken bin, habe ich mich damit ein wenig zurückgehalten.“

„Sehr verständlich“, pflichtete Sophie bei.

„Nun“, erwiderte Corrisande, „ich habe nicht vor, in diesem See schwimmen zu gehen. Aber falls ich hineingezogen werde, sollten Sie wissen, daß ich, wenn ich wiederkomme, eventuelle keine Luft atmen kann. Das ist schon einmal passiert. Es ist mir sehr peinlich, aber dann müssen Sie meine Lungen vom Wasser befreien, sonst ersticke ich an der Luft.“

„Lieber Himmel!“ rief Cérise. „Was für ein widerlicher Gedanke.“

Corrisande war nicht ganz sicher, ob die Sängerin damit ihren Erstickungstod meinte oder die Tatsache, daß sie sich um Corrisandes Lungen kümmern müßte. Höchstwahrscheinlich letzteres.

„Wie machen wir das?“ fragte Sophie sachlich.

„Philip hat mich mit dem Kopf nach unten gehalten und mir auf den Rücken geschlagen. Dabei hat er mir gut zugeredet. Er hat eine so überzeugende Art, einem zum Atmen zu bringen …“

„... daß man dabei die Hacken zusammenschlägt und salutiert“, ergänzte Cérise unhöflich.

„Heißt das, Sie haben Wasser geatmet?“

„Ja“, seufzte Corrisande und errötete, als hätte sie eine moralische Entgleisung zugegeben. „Aber ich kann es nicht gut, und ich kann nicht ohne Hilfe vom einen zum anderen Zustand wechseln. Mein Fey-Erbe ist zu gering. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich es am liebsten gar nicht tun.“

„Sie haben die Wahl“, sagte Sophie. „Sie haben jetzt eine Wahl. Es gibt gute Gründe dafür, es nicht zu versuchen. Das wissen Sie selbst.“

„Weiß sie nicht“, fuhr die Sängerin drängend dazwischen, „und sie hat sich bereits entschieden. Also sollten wir die Sache angehen.“

Corrisande kniete sich neben das Wasser, streckte die Hände nach den stillen Fluten aus. Ihre Haare standen ihr zu Berge. Ihr Verstand und ihr Gefahreninstinkt rebellierten in beispielloser Einigkeit gegen ihr Vorgehen. Sie wußte mit einem Mal, daß sie dies keinesfalls tun sollte.