Kapitel 17
Charly hatte sich umgezogen und ihr blutverschmiertes Hauskleid unter dem Bett versteckt. Das Kleid, das sie jetzt trug, war noch altertümlicher und unansehnlicher. Aber es war warm, und ihr war plötzlich sehr kalt.
Sie hatte die Tür zu ihrem Ankleidezimmer geschlossen und wünschte, sie hätte es abschließen können, doch es gab keinen Schlüssel. Sie brachte die Lampe zum anderen Ende des Raums, in der Hoffnung, man würde die zweite Tür im Schatten übersehen. Sie hatte ihren Korb wieder ausgepackt.
Sie hätte sich ausziehen und schlafen gehen sollen. Doch sie konnte nicht. Sie wollte ihren Gästen nicht im Nachthemd gegenübertreten müssen, selbst wenn sie sie vielleicht nicht verdächtigen würden, wenn wie glaubten, sie hätte geschlafen.
Sie saß in ihrem Schaukelstuhl am offenen Fenster. Sie hatte Angst, und ihr war übel. Die Nachtluft half ihr, gleichmäßig zu atmen. Er hatte ihr Blut getrunken und sie kraftlos zurückgelassen. Als er noch da war, hatte sie es nicht so sehr gespürt; so viele irrwitzige und erschreckende Dinge waren geschehen, und sie hatte sich auf das konzentrieren müssen, was sie tat. Doch nun, da sie ruhig dasaß, konnte sie nicht mehr aufhören zu zittern und war sich sicher, daß Angst nicht der einzige Grund dafür war.
Sie hatte alles Wasser getrunken, das noch im Zimmer gewesen war, doch sie war immer noch durstig. Es gab keine Möglichkeit, mehr Wasser zu bekommen. Sie war eingesperrt. Sie würde um Hilfe schreien oder bitten müssen, und sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Ab und zu sank ihr der Kopf auf die Brust, und sie schlief für einige Augenblicke ermattet ein, nur um mit der Erkenntnis hochzuschrecken, daß sich ihre Lage nicht geändert hatte.
Dann brach der Lärm los. Sie hörte Rufen und schnelle Schritte. Türen wurden geschlagen. Jemand brüllte Befehle. Leopold. Sie war hellwach, und die Furcht hielt sie fest im Griff. Bald würden sie hier sein. Sie hatte gewußt, daß sie kommen würden. Es hatte nie eine Chance gegeben, daß sie Arpads Flucht oder den Tod ihres Mitstreiters nicht bemerken würden.
Sie hätte mit dem Sí gehen sollen. Es war ein Fehler gewesen zu bleiben. Er hätte sie nicht getötet. Oder doch? Sie war nicht sicher, doch wahrscheinlich nicht. Er hätte all ihr Blut nehmen können, die Möglichkeit hatte er gehabt. Er hätte sie töten können, doch er hatte es nicht getan. Sie wußte nicht, ob sie das gleiche auch von den Männern erwarten konnte, die lärmend durchs Haus liefen, Türen aufwarfen, nach ihrem Gefangenen suchten. Sie hörte sie und wunderte sich. Wie konnten sie glauben, er hätte hier auf sie gewartet? Er war wahrscheinlich schon weit weg.
Sie merkte, daß sie zitterte. Sie hatte ihren Mut überschätzt. Auch das Gefühl, daß Leopold sie nicht umbringen würde, hatte sie verlassen. Ihre Kraft hatte sie ebenfalls überbewertet. Vielleicht würde er sie Kraitmair übergeben. Der Mann hatte keine Skrupel, ihr wehzutun.
Vielleicht würde Meyer ihr helfen? Er war zwar einer von ihnen, also auch ein Mörder, doch wenigstens hatte er sich für sie eingesetzt. Vielleicht konnte sie an seinen Anstand appellieren, so er welchen hatte. Da war sie sich nicht mehr so sicher. Sie erinnerte sich an sein Lächeln über den Eßtisch hinweg, das im Gegensatz zu dem Leopolds seine Augen erreichte. Wenn sie die Wahl zwischen Kraitmair und ihm hatte, würde sie ihn wählen. Nur würde ihr keiner die Wahl lassen.
Sie hörte, wie die Tür des Ankleidezimmers sich öffnete. Angst durchfuhr sie wie ein Blitz. Von dort hatte sie keine Gefahr erwartet. Man hatte sie durchschaut. Der Mann trat in ihr Zimmer, im Schatten nicht zu erkennen, und war in zwei langen Sprüngen bei ihr.
Sie versuchte aufzuspringen, doch ihre Knie gehorchten ihr nicht. Ihre Furcht ließ sie langsam werden. Er stand vor ihr, ehe sie reagieren konnte. Nur Schreien blieb ihr noch.
Er hielt ihr den Mund zu, um ihren Schrei zu unterdrücken. Ihre Hände flogen zu seinem Gesicht, um ihn zu bekämpfen, ihm die Augen auszukratzen, doch er fing ihre Handgelenke und hielt sie mit einiger Kraft.
„Seien Sie leise“, zischte er. „Schreien Sie nicht. Hören Sie auf, sich zu wehren.“
Meyer. Er hielt sie mit wohldosierter Gewalt und hatte seine Beine so weit neben ihr plaziert, daß sie ihn nicht einmal treten konnte. Sie wand sich, und sein Griff wurde härter.
„Hören Sie auf!“ knurrte er. „Seien Sie nicht dumm. Ich will Ihnen nichts tun. Hören Sie auf herumzuhampeln!“
Ein kleiner Schmerzenslaut entfuhr ihr, denn die Kraft, mit der er ihre Handgelenke zusammenpreßte, war mehr als unangenehm. Sie hörte auf, sich zu wehren, hoffte, er würde sie loslassen, damit sie sich eine neue Angriffstaktik überlegen konnte.
„Hören Sie zu“, befahl er, „und benutzen Sie Ihren Dickkopf ausnahmsweise zum Denken. Die anderen können jeden Augenblick hier sein. Wenn ich herausfinden konnte, wie Sie Arpad befreit haben, können die es auch, und glauben Sie mir, das hat Sie nicht beliebter gemacht. Ich werde Sie jetzt loslassen, und dann erwarte ich, daß Sie tun, was ich Ihnen sage.“
Er ließ Charly los, und sie versuchte, ihn zu schlagen. Er wich ihr aus, ergriff wieder ein Handgelenk und zog sie hoch.
„Sie sind stur wie ein Maulesel, Fräulein von Sandling. Bitten versuchen Sie, ein bißchen intelligenter zu sein. Warum geht es nicht in Ihren Kopf, daß ich Ihnen helfen will? Holen Sie Ihren Mantel und ein Paar Stiefel, und ich werde Ihnen helfen, durchs Fenster zu entkommen. Ich will, daß Sie rennen, bis Sie Ihre nächsten Nachbarn erreicht haben. Bitten Sie sie, Sie zu verstecken.“
Wieder ließ er sie los, und sie stand wie vom Donner gerührt da und rieb sich das Gelenk. Er eilte zu ihrem Schrank und zerrte einen Wollumhang daraus hervor.
„Wo bewahren Sie Ihre Schuhe auf?“ fragte er, und sie deutete auf ihr Ankleidezimmer. Er warf die festesten Stiefel auf ihr Bett und hastete zum Fenster, um nach einem Fluchtweg zu suchen.
„Mein Onkel“, wisperte sie. „Ich kann ihn doch nicht allein mit diesen ...“
„Sie sind im Moment als einzige in Gefahr.“
„Warum helfen Sie mir – Sie sind einer von Ihnen? Sie sind alle kaltblütige Killer. Warum sollte ich Ihnen glauben?“
„Ich jage Fey. Dafür gibt es einen Grund. Aber ich attackiere keine Menschen, die unschuldig in diese Sache geraten. Also bitte ...“
Ärgerliche Stimmen näherten sich auf dem Flur. Sie waren auf dem Weg zu ihr.
„Ich komme wieder“, sagte er, verschwand im Ankleidezimmer und schloß die Tür hinter sich.
Sie kamen. Angst senkte sich über sie wie eisiger Nebel. Sie stand erstarrt. Wenn sie jetzt ihre Sachen ergriff und aus dem Fenster kletterte, würde sie es vielleicht noch schaffen. Sie mußte sich nur bewegen.
Doch ihre Füße schienen im Boden verwurzelt zu sein. Ihr wurde klar, daß Mantel und Stiefel auf dem Bett ihre geplante Flucht verraten würde. Sie mußte sie verstecken, ehe sie hereinkamen.
Sie hatte das Bett noch nicht erreicht, als der Schlüssel sich im Schloß drehte und die Tür aufflog. Leopold stürzte ins Zimmer, gefolgt von Kraitmair.
„Ich hoffe, du willst uns nicht verlassen?“ fragte der Mann mit einem Blick auf den Wollumhang. Diesen Herrn hatten ihre Eltern ihr als Gatten zugedacht. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht gestatten. Das ist viel zu gefährlich für wohlerzogene junge Damen, ganz besonders jetzt, da ein Feyon frei herumläuft. Wir wollen doch nicht, daß dir etwas geschieht.“
Er holte aus und gab ihr eine Ohrfeige, und sie stolperte vor Schock rückwärts. Es hatte nicht wehgetan, doch ihr stockte der Atem vor Furcht und vor Scham.
„Also, wo ist er“, fragte er, „und wie hast du ihn herausbekommen? Los! Du solltest mir das jetzt ganz schnell sagen.“
„Ich sage dir gar nichts“, antwortete sie und hielt sich das Gesicht. Sie brauchte ihre ganze Entschlossenheit, um mit ihm zu sprechen, und sie wußte, daß er sie beben sah. Sie haßte es, ihm gegenüber Schwäche zu zeigen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, und du hast absolut kein Recht, mich hier gefangen zu halten. Ich bin nicht dein Eigentum, und ich kann gehen, wohin ich will. Dies ist mein Haus, und ich will, daß du und deine Mörderbande es verlassen. Schnellstens. Du bist hier nicht willkommen.“
„Wir haben lange gebraucht, um diesen Feyon zu finden, und wir benötigen ihn dringend. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, ihn zu befreien, aber ich weiß, du warst es. Dein Onkel schläft. Ich habe ihm ein Mittelchen verabreicht – und dein Personal kooperiert. Die Bediensteten wissen, was gut für sie ist. Also bleibst nur du. Wo hast du ihn versteckt?“
Sie gab keine Antwort, sah ihn nur an und zwang sich zu einem Lächeln. Seine grünen Augen blitzten. Sein Mund verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Beinahe hätte sie diesen Mann geheiratet. Ihn zu ehren und ihm zu gehorchen, in guten und in schlechten Zeiten. Ihre Wange brannte von dem Schlag, den er ihr verabreicht hatte, doch es war ihr klar, daß er sich zurückgehalten hatte. Wie einem unartigen kleinen Kind hatte er ihr eine Backpfeife erteilt.
„Letzte Chance. Raus damit. Jetzt!“
„Fahr zur Hölle. Da gehörst du hin!“ erwiderte sie und war schockiert von ihrem eigenen Mut sowie ihrer unpassenden Wortwahl. Halb erwartete sie den nächsten Schlag, doch er ließ sie in Frieden.
Er lachte und trat zurück.
„Kraitmair“, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich sehr sanft. „Sie haben zehn Minuten, die Wahrheit aus ihr herauszubekommen. Wie, das überlasse ich voll und ganz Ihnen.“
Er verneigte sich zynisch, verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich. Ihr wurde kalt vor Angst. Jetzt wurde es ernst. Sie sah den untersetzten Mann an, der auf sie zutrat. Warum war sie nicht mit dem Feyon geflohen? Warum war sie nicht durchs Fenster in die Nacht verschwunden, als sie das noch konnte? Der Mann griente.
„Küß die Hand“, grüßte er sie, „so trifft man sich wieder. Wollen mal sehen, ob ich dir nicht Fügsamkeit beibringen kann.“
Sie erwartete einen Schlag, machte sich auf den Aufprall gefaßt, doch es kam anders. Er trat näher und streckte die Hände nach ihr aus, umfaßte ihre Brüste. Finger krallten sich in ihr Fleisch, und im nächsten Moment stieß er sie rückwärts aufs Bett. Sie schrie vor Schock auf, begriff mit einem Mal, daß sie die Gefahr wieder falsch eingeschätzt hatte. Sie zu schlagen war nicht sein Plan.
Sie schrie, während er blitzschnell über ihr war. Eine Hand griff ihr ins Haar und hielt ihren Kopf, während seine Zunge über ihre Lippen leckte. Die andere zerrte ihre Röcke nach oben. Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht, und er fing ihre Handgelenke wie vorher Meyer, hielt sie jedoch mit weitaus mehr Rücksichtslosigkeit. Seine Knie schoben sich zwischen ihre, dann spürte sie sein Gewicht auf ihr.
Sie schrie weiter, wand sich unter ihm, hörte Stoff reißen, fühlte, wie seine Hand ihr Haar losließ und an seiner eigenen Kleidung nestelte. Sie war hilflos, zu schwach, ihn zu bekämpfen und zu entsetzt, um sich irgendeine sinnvolle Abwehr auszudenken. Er würde sie entehren, und Leopold hatte ihm die Erlaubnis dazu erteilt.
Die Darstellung des Geschlechtsakts aus dem Folianten ihres Onkels flog ihr durch den Sinn, mit all den minuziösen Details. Sie wußte, was er tun würde. Sie konnte nichts dagegen unternehmen, und gleich würde ihr schlecht werden.
Dann flog er rückwärts, sein Gewicht verließ sie urplötzlich. Sie hörte nur ein trockenes Geräusch, einen Schmerzenslaut.
Meyer stand neben dem Bett, sein Gesicht voller Ekel. Er hatte Kraitmair von ihr fortgezogen und ihm gleichzeitig einen Schlag aufs Kinn verpaßt. Ein Sessel fiel um. Doch ihr Angreifer sprang bereits wieder auf, schäumend vor Wut.
Im gleichen Moment glitt eine dunkle Gestalt durchs Fenster in den Raum, flüchtig wie ein Schatten, unglaublich schnell, und noch bevor Kraitmair seine Wut in Worte fassen konnte, brach sein Genick im Griff einer eleganten, schmalen Hand.
Stille senkte sich über den Raum.
„Schreien Sie, Fräulein von Sandling“, befahl Meyer leise, ohne sich zu ihr umzusehen. Doch sie brachte nur ein Wimmern hervor, während sie sich die Röcke schamhaft über die Beine zog. Die Peinlichkeit ihrer Lage zerriß sie fast. Sie wollte nicht so vor den beiden sitzen.
„Schreien Sie weiter“, sagte nun auch der Sí. Sie begriff, daß ihr Schreien den Eindruck wahren sollte, Kraitmair wäre noch nicht mit ihr fertig. Sie verstand, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen. Sie war vor Entsetzen und Abscheu verstummt.
Meyer hielt auf einmal ein Messerchen in der Hand. Er und Arpad standen einander gegenüber wie zwei Tiger, die um ein Revier fochten. Ihre Augen blitzten, ihre Muskeln waren zum Sprung angespannt.
„Ich hätte Sie vor einem halben Jahr töten sollen“, sagte der Feyon. Seine Stimme klang dunkel und viel zu mitleidig und samtig, um Vertrauen einzuflößen. „Doch ich habe mir eingebildet, Sie hätten aus unserem Abenteuer etwas gelernt. Ich hätte es besser wissen müssen. Die Fähigkeit Ihrer Art, über den Tellerrand zu blicken, ist nicht besonders ausgeprägt.“
„Keinen Schritt näher, Graf Arpad, sonst muß ich Sie umbringen, und ich brauche Sie noch, um Fräulein von Sandling in Sicherheit zu bringen. Ich nehme an, Ihr unerwartetes Auftauchen bedeutet, daß ihr Schicksal Ihnen doch nicht gänzlich gleichgültig ist.“
Sie verstand nur, daß sie einander haßten und gegeneinander kämpfen würden, und sie wußte, wer der Sieger sein würde. Der Blonde mit dem Obstmesserchen hatte keine Chance. Oder doch? Er machte nicht den Eindruck, als hätte er Angst.
Sie rollte sich vom Bett und fand sich auf den Knien zwischen den Streitern wieder. Es gelang ihr nicht aufzustehen. Ihre Beine gehorchten nicht. Ihr Körper zitterte.
„Nicht“, flehte sie und merkte, daß ihr Tränen übers Gesicht liefen. „Bitte nicht!“ Dann fiel sie rückwärts in einen unendlichen schwarzen Ozean, dessen Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen. Ihr letzter, beinahe faszinierter Eindruck war, daß sie nun endlich wußte, wie es war, wenn man in Ohnmacht fiel. Das war ihr noch nie passiert.