Kapitel 36

Das Gasthaus war klein. Es stand etwa zehn, fünfzehn Schritte vom Ufer entfernt. In der Nähe von diesem und an einem Anlegesteg schaukelten einige Boote. Hinter dem Haus erhob sich der Berg, ein langgestreckter Kamm, der den Grundlsee vom nächsten Tal und dem Altausseer See trennte. Quellen sprudelten aus dem Boden. Der ganze Ort schien vom Wasser dominiert.

Dennoch hatte das stabile Gebäude etwas an sich, das einem Zutrauen schenkte. Corrisande war glücklich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Sie drehte sich langsam um sich selbst und betrachtete die Landschaft. Sie befanden sich am langen Ufer des schmalen Sees. Das Wasser glitzerte im Herbstlicht. Auch die letzte Spur von Morgendunst war verschwunden, der Himmel war klar und blau und fast wolkenlos. Es war ein wunderschöner Tag, hell und ungewöhnlich warm für die Jahreszeit.

Am gegenüberliegenden Ufer sah sie einen Berg, der sich aus sanft aufsteigenden Wiesen erhob. Das Grün der Nadelbäume war unterbrochen von hohen Steinwänden. Sie wandte sich and den jüngeren der beiden Bootsleute, der noch dabei war, alles Gepäck zu entladen.

„Gibt es Höhlen in diesen Bergen?“ fragte sie und hoffte, er würde ihr Deutsch besser verstehen als sie seins.

„Schon. Überall in unseren Bergen sind Höhlen und manchmal Bergwerke.“ Er sprach ganz bedächtig. Sie verstand fast alles und erriet den Rest.

„Hat man sie erkundet?“ fragte sie, während er das letzte Gepäckstück ans Ufer setzte.

„Nein. Wer würde schon aus eigenem Antrieb in eine Höhle gehen? Das ist riskant. Wenn es regnet, füllen sie sich mit Wasser, und es ist dunkel und kalt dort. Es gibt nur einen Grund, einen Berg von innen anzusehen, und das ist, um Salz zu finden. Alle Salzbergwerke gehören der Krone. Studierte Leute suchen manchmal neue Salzschichten. Aber hier gibt es kein Salz. Hier ist alles Kalkstein.“

„Sie wissen viel über die Berge“, sagte sie und dachte bei sich, daß er anmutig aussah und doch bald so runzelig und sehnig sein würde wie sein Vater. Die Bergbevölkerung war zäh.

„Es sind unsere Berge. Unsere Familie hat hier immer gelebt.“

Corrisande nickte und fuhr fort: „Es leben gar nicht so wenige Menschen hier in Altaussee, Aussee und Grundlsee. Gleichwohl habe ich nur wenige Felder gesehen. Wovon leben sie?“

Der ältere Mann mischte sich in das Gespräch ein.

„Sie leben vom Salz“, sagte er und versuchte ebenfalls, deutlich zu sprechen. „Ganz früher haben die Salzminen den Menschen hier gehört. Jetzt gehören sie dem Kaiser. Trotzdem leben wir noch vom Salz. Viele Männer arbeiten in den Minen und in der Salzaufbereitung, und die müssen ernährt, untergebracht und transportiert werden, genau wie alle Waren und das Salz. Hier gibt es genug Arbeit, auch wenn das Salz uns nicht mehr gehört. Man gab uns Land dafür. Gehölz, Fischereirechte, Jagdrecht. Angebaut wird hier nicht viel. Der Winter kommt früh in den Bergen, und der Sommer ist zu kurz, um Weizen anzupflanzen.“

Der junge Mann lächelte und schaltete sich wieder in das Gespräch ein.

„Sie hätten zwei Monate früher kommen sollen. Es ist spät für Sommerfrischler. Heute ist es schön, aber man kann nie wissen, wann das Wetter sich ändert, und in ein paar Tagen könnten wir schon Schnee am Paß haben. Das Wetter ändert sich in den Bergen schnell. Wenn die Pässe erst verschneit sind, dann müssen Sie hier bleiben bis zum Frühling.“ Dabei lächelte er, als wolle er ihr mitteilen, daß er nichts dagegen hätte, wenn sie und die anderen Damen in der Nähe blieben. Seine Augen wanderten von ihr zu Cérise und blieben bei Marie-Jeannette hängen, die er wahrscheinlich als seinem Stand eher zugehörig ansah. Sie war erreichbar. Sollten sie hier eingeschneit werden, so würde es der Zofe nicht an Unterhaltung fehlen.

Corrisande nickte. Beinahe konnte sie den Winter schon durch den trügerischen Sonnenschein hindurch riechen. Dies war ein kaltes, hartes Land, trotz seiner wilden Pracht.

Der ältere Bootsmann befahl etwas, und der Jüngere schleppte das Gepäck auf das Wirtshaus zu. Eine Frau mittleren Alters trat vor die Haustür und beobachtete sie mit zweifelndem Blick. Sie trug ein ausgeblichenes rotes Kleid, das eine schwarzblaue Schürze fast verdeckte. Ein Schal mit Blumenmuster war um ihre Schultern gelegt wie ein Fichu. Ihr Haar verschwand unter einem schön geknoteten Kopftuch. Frau Treynstern trat auf sie zu.

„Grüß Gott, Frau Wirtin“, sagte sie und begann, mit ihr zu sprechen. Mißtrauen spiegelte sich im Gesicht der Frau. Sie schien den Gedanken nicht zu mögen, so ausgefallene Gäste in ihrer Poststation zu haben, und gar Damen ohne männliche Begleitung. Ihre Stimme klang säuerlich, und obgleich ihre Worte zu schnell und zu sehr im örtlichen Dialekt gehalten waren, als daß Corrisande sie hätte verstehen können, begriff sie doch, daß die Wirtin ihnen vorschlug zurückzufahren. Da sie jedoch keinerlei Absicht zeigten, dies zu tun, lud sie sie schließlich mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen, stieg die kurze Treppe hoch zum ersten Stock und verließ sie dort.

„Wir werden ein Zimmer teilen müssen“, erklärte Frau Treynstern auf Englisch. „Sie drückt sich umständlich aus, aber es scheint, als seien ihre anderen Zimmer vermietet, und sehr viel Platz hat sie ohnehin nicht. Mlle. Denglot, Mrs. Fairchild und ich werden ein Zimmer gemeinsam haben, und Marie-Jeannette wird ihr Bett mit der Magd teilen, im Speicher.“

„Oh nein!“ widersprach Marie-Jeannette. „Ganz bestimmt nicht. Ich bin Zofe, keine Bauernmagd.“

„Marie-Jeannette! Wir müssen es nehmen, wie es kommt. Du weißt, worum es hier geht.“

„Ja. Um Traumtänzerei“, antwortete die kleine Französin ärgerlich. „Bis jetzt wissen wir nicht einmal, ob die Herren wirklich verschollen sind. Genauso gut können sie jetzt in Ischl sitzen, und wir hocken in dieser gottverlassenen Ecke am Ende der Welt.“ Das anmutige Mädchen hatte zu schmollen aufgehört und war nun richtig wütend.

„Wirklich, Corrisande“, schalt Cérise nun und blickte durch Marie-Jeannette hindurch, als stünde sie nicht da, „Sie sollten Ihrem Gesinde nicht ein solches Benehmen durchgehen lassen. Wenn sie meine Zofe wäre, hätte ich sie längst im hohen Bogen hinausgeworfen.“

„Wenn ich Ihre Dienerin wäre, hätten Sie wenigstens etwas Vernünftiges zum Anziehen dabei, was zu dieser Gegend paßt. Sie sehen aus, als wollten Sie den örtlichen Fischern ein Konzert geben. Dieses Lied über die Forelle vielleicht. Das mögen die bestimmt“, fauchte sie und vergaß dabei sowohl Stand als auch Anstand. Dann knickste sie und fügte mit einem frechen Lächeln hinzu: „Wenn ich so frei sein darf, Mademoiselle.“

Mademoiselle war nicht geneigt, sie so frei sein zu lassen. Eine heftige Szene bahnte sich an. Frau Treynstern vermittelte.

„Das hilft uns nicht weiter. Ich gehe davon aus, daß wir alle – auch Marie-Jeannette – schon einmal eleganter gewohnt haben. Doch mehr als ein Zimmer ist nun einmal nicht frei, und es wird nicht besser, wenn wir uns streiten. Mlle. Denglot, ich bin sicher, daß Ihre eigene Kammerzofe einen anderen Ton anschlägt. Es dürfte Ihnen aber nicht entgangen sein, daß das Fräulein mehr eine Vertraute denn eine Bedienstete ist, nicht wahr, Mrs. Fairchild?“

Corrisande nickte.

„Marie-Jeannette, ich bin mir sicher, du wolltest Mlle. Denglot nicht beleidigen, also entschuldige dich sofort. Wir haben weder Zeit noch Muße, uns über Annehmlichkeiten oder Etikette zu echauffieren.“

Die schöne grünäugige Sängerin funkelte die schöne grünäugige Kammerzofe an, die mit der gleichen unbeugsamen Intensität zurückfunkelte. Dann senkte das Mädchen den Blick und knickste allzu artig.

„Tut mir leid, Mlle. Denglot. Ich habe mich im Ton vergriffen. Bitte verzeihen Sie“, sagte sie giftig.

„Nun“, erwiderte die Sängerin indigniert, „ich muß schon sagen …“

„Nicht jetzt“, unterbrach Corrisande. „Je weniger jetzt jeder sagt, desto besser. Wir gehen in unser Zimmer, Marie-Jeannette wird unsere Sachen auspacken, und später können wir bei der Wirtin um ein Mittagessen bitten. Ich könnte etwas vertragen. Die frische Bergluft verleiht einem Appetit.“

Die beiden grünäugigen Schönheiten schluckten mit offensichtlicher Mühe weitere Kommentare hinunter.

„Ja, Madame“, sagte Marie-Jeannette und trat in das Zimmer, das die Wirtin den Damen zugewiesen hatte.

„Man kann vermutlich nicht davon ausgehen, daß diese Lokalität ein privates Speisezimmer für uns hat“, fauchte Cérise.

„Sie haben nur die Schenke“, entgegnete Frau Treynstern. „Doch die Ladnerin hat mir versichert, sie sei um diese Zeit meist leer.“

„Gut“, erklärte Corrisande. „Seien Sie doch so nett und bestellen Sie Mittagessen für uns alle. Marie-Jeannette kann servieren. Dann sind wir ganz entre nous und können unsere nächsten Schritte diskutieren.“

Sie folgte der Zofe ins Zimmer, und ihre Augenbrauen zuckten, als sie die kleine, einfach ausgestattete Kammer sah, in der sie zu dritt schlafen würden. Die Betten waren schmal und klein. Corrisande war klein und feingliedrig, doch sie war sich sicher, daß die anderen beiden Damen sich vermutlich zusammenrollen mußten, um ins Bett zu passen. Dennoch war der Raum gemütlich, reinlich und frisch gelüftet. Ein Herbstblumenstrauß schmückte ein Kruzifix, das in einer Ecke hing. Sie hörte, wie die Diva geringschätzig schnaubte, und Frau Treynsterns Seufzer verriet ihr, daß auch die Österreicherin nicht vollständig glücklich mit dem Arrangement war.

Corrisandes Herz sank. Was, wenn sie wirklich nur einem Traumgespinst nachjagten? Bis jetzt hatten sie überhaupt keinen Hinweis auf irgendeine Gefahr.

Allerdings hatten sie auch keinen Hinweis auf den Verbleib Philips und McMullens gefunden. Von Arpad ganz zu schweigen, der seine Spuren immer so sorgfältig verwischte, daß sich die meisten Menschen nicht daran erinnerten, ihm überhaupt begegnet zu sein. Ihn aufzuspüren würde besonders schwierig werden.

„Frau Treynstern, vielleicht könnten Sie ermitteln, was für andere Besucher hier im Augenblick untergebracht sind. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Dialekt der Wirtin.“

„Ich habe schon gefragt“, gab Frau Treynstern zurück. „Sie sagt, ein paar Jäger und ein Kunstmaler seien hier untergebracht, die aber alle im Moment in den Bergen unterwegs sind. Sie weiß nicht, wann sie zurückkommen.“

„Kommen sie nicht jeden Abend nach Hause?“

„Anscheinend nicht. Ich habe nicht ausdrücklich gefragt, doch das Tote Gebirge ist ein berühmtes Jagdrevier. Wahrscheinlich gibt es Berghütten, wo man für die Nacht unterkommen kann, wenn man bereit ist, seine Ansprüche gering zu halten. Männer mögen so etwas ja. Sich in primitiver Umgebung selbst zu versorgen läßt sie sich stark fühlen. Fragen Sie mich nicht, warum. Noble Herren, die zu Hause nie freiwillig auf ein Gran Bequemlichkeit verzichten würden, können dann auf einmal mit den primitivsten Bedingungen umgehen. Ich glaube, Männer mögen Wildnis.“

„Ich aber nicht“, beschwerte sich Cérise ausgesprochen übellaunig. „Ich mag es bequem, und ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, doch ich würde es vorziehen, ein Einzelzimmer zu bewohnen, vorzugsweise in einem erstklassigen, eleganten Hotel.“

„Vorzugsweise mit Graf Arpad an Ihrer Seite“, gab Corrisande bissig zurück, die kein Verständnis dafür hatte, daß man nicht einfach das tat, was notwendig war, „und wenn wir ihn finden, können Sie genau das auch wieder haben.“

Die Sängerin blitzte sie verdrießlich an, dann setzte sie sich plötzlich auf ihr Bett und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie kämpfte mit den Tränen, was für sie ungewöhnlich war, und Corrisande fragte sich, ob die Diva genau so gut darin sein mochte, eine tränenreiche Szene bei Bedarf aus dem Hut zu zaubern, wie sie selbst.

„Tut mir leid, daß ich so schwierig bin“, sagte sie nach einer Weile, und Frau Treynstern setzte sich neben sie und drückte ihr die Hand.

„Es ist schon in Ordnung“, versicherte sie. „Wir sind alle angespannt. Dennoch sollten wir versuchen zu tun, wofür wir hierher gekommen sind. Wenn wir jetzt aufgäben, würden wir uns das nie verzeihen.“

Stille senkte sich über die Damenrunde. Sophie Treynstern hatte es nicht explizit gesagt, aber ihre Worte hatten es klargemacht: Wenn sie ihre geliebten Männer nicht fanden, dann mochten sie sie niemals wiedersehen. Marie-Jeannette packte still die Koffer aus.

„Danke“, sagte Corrisande. „Am besten bringst du deine Sachen jetzt zu deiner Schlafstatt, danach kannst du uns beim Mittagessen behilflich sein. Ich weiß, das gehört nicht zu deinen Aufgaben. Aber es kann nicht schaden, wenn du dich mit diesem Gasthaus vertraut machst und vielleicht mit den anderen Bediensteten sprechen kannst – falls es welche gibt.“

„Ich kann nicht gut Deutsch“, antwortete die Kammerzofe ausdruckslos.

„Ich weiß. Aber du hast Augen im Kopf und ein ausgesprochenes Talent, dich verständlich zu machen. Wir verlassen uns auf deinen Beistand.“

Das Mädchen knickste und ging.

„Ihre Zofe ist mehr als ungewöhnlich“, bemerkte Cérise einige Augenblicke später trocken.

„Das ist sie“, pflichtete Frau Treynstern bei, „und außerdem ganz außergewöhnlich hübsch.“

„Sie war nicht immer eine Zofe, und sie wird auch nicht immer eine Zofe bleiben. Sie hat andere Pläne – und Potential.“

„Sie ist ein unhöfliches Mädchen“, beanstandete die Sängerin.

„Das wird sie nicht daran hindern, in dem Bereich erfolgreich zu sein, den sie im Auge hat. Sie ist klug und lernt außerordentlich schnell.“

„Haben Sie ihr Englisch beigebracht?“ fragte Frau Treynstern.

„Ja, und auch ein bißchen Deutsch, doch damit fange ich gerade erst an. Ihr familiärer Hintergrund ist ein wenig außerhalb der Norm, aber ich habe keine Zweifel, daß sie in der Lage sein wird, sich ihr Leben so einzurichten, wie sie das vorhat. Sie ist noch sehr jung. Noch nicht volljährig.“

„Aber Sie unterweisen sie in Dingen, die ganz außerhalb ihres Standes liegen. Ist das klug?“

„Wie gesagt, sie wird nicht mehr lange meine Zofe sein. Sie hat andere Pläne.“

„Die Bühne?“ fragte Cérise.

„Das – oder etwas anderes. Philip würde ihr helfen, sich als erstklassige Modistin in London etablieren, vorausgesetzt, sie entscheidet sich zu so einer Karriere. Sie hat sich aber noch nicht entschieden.“

„Eine Kurtisane“, vermerkte die Sängerin.

„Sie könnte recht erfolgreich sein“, erwiderte Corrisande und wurde rot dabei.

„Ist Ihr Ehemann damit einverstanden, daß Sie eine Kurtisane ausbilden?“ fragte Frau Treynstern mit schlecht verhohlener Neugier.

Corrisande errötete noch tiefer.

„Ich bringe ihr Sprachen und gutes Benehmen bei. Das ist alles, was ich tue – und: nein. Er hält von diesen Plänen absolut nichts. Deshalb hat er ihr auch vorgeschlagen, ob sie nicht ihr Talent, Damen schön und elegant zu machen, zu ihrem Lebensziel machen möchte. Sie ist absolut gut darin, hat einen ausgezeichneten Geschmack und ein natürliches Gespür dafür, wie man seine besten Seiten akzentuiert.“

Ein abfälliges Lächeln glitt über das Gesicht der Sängerin.

„Ich nehme nicht an, daß sie Lektionen in praktischeren Fächern braucht“, spöttelte sie. „Der junge Ruderer hat sie ja fast mit Blicken verschlungen, und es würde mich keineswegs erstaunen, wenn die beiden heute Nacht eine Runde im Heu drehten.“

„Also wirklich! Mlle. Denglot!“ Frau Treynstern versuchte, die Tirade der Sängerin aufzuhalten, klang allerdings eher amüsiert denn tief schockiert.

„Sie unterschätzen sie, wenn Sie glauben, sie würde sich für irgendeinen Niemand fortwerfen. Ich muß sagen, ich begreife Ihre moralische Entrüstung nur zum Teil. Ich möchte bei Gott niemanden beleidigen, aber eine allzu genaue Untersuchung unserer Lebensentscheidungen in Bezug auf die gängigen Moralbegriffe würde vermutlich keiner von uns gut tun.“

Wieder senkte sich Stille über die Gruppe. Die drei Frauen schluckten Worte hinunter, die sie besser nicht sagen wollten, wenn diese nicht fürderhin zwischen ihnen stehen sollten. Schließlich begann Frau Treynstern, reumütig zu lachen.

„Sie haben Recht, liebe Mrs. Fairchild. Auch wenn ich Ihre Direktheit diesmal nicht begrüße. Ich habe Jahre mit einem Liebhaber verbracht, mit dem ich nicht verheiratet war, und hätte er nicht das Talent gehabt, Menschen uns vergessen zu machen, hätte mich das vollständig ruiniert. Ich habe ihn geliebt, mit ganzem Herzen und ganzer Seele. Was ich tat, habe ich aus Liebe getan. Gleichwohl wäre ich in den Augen der Welt als unverheiratete Geliebte eines Mannes nichts als eine Bajadere. Also sollte mich so etwas tatsächlich nicht schockieren. Ich habe später geheiratet und ein wohlanständiges Leben geführt, doch auch das war nur mit der Hilfe Graf Arpads möglich.“

Nach einigen Momenten sprach auch Cérise.

„Ich hatte immer viele Verehrer. Doch als er in mein Leben trat, verschwanden sie im Hintergrund wie Komparsen. Wenn unsere Liebe bekannt würde, wäre mein Ruf dahin. Freilich habe ich als Künstlerin mehr Freiraum. Auch mit einem schlechten Ruf könnte ich erfolgreich sein, obgleich das äußerst degoutant wäre.“ Sie sah Corrisande an und lächelte. „Arpad war nicht der einzige Mann, den ich je liebte. Sie wissen das. Aber nach ihm werde ich niemanden mehr je so lieben können. Anstößig fühlt sich das nicht an. Doch wer würde mir da zustimmen?“

Corrisande nickte. Sie war nicht sicher, was diese unerwartete Welle von Beichten ausgelöst hatte, doch vielleicht war es gut und richtig, wenn sie wußten, wo sie standen. Nur hatte sie selbst nicht viel zu gestehen. Philip war der einzige Mann, den sie je geliebt und mit dem sie je das Bett geteilt hatte.

„Philip“, begann sie und wußte nicht, wie sie fortfahren sollte. „Er bedeutet mir alles. Mein Leben vor ihm war nicht über jeden Zweifel erhaben, doch es beinhaltete keine anderen Männer. Man hat mich umworben, ich hätte den einen oder anderen vielleicht sogar geehelicht, denn sie waren gute Partien, doch sie haben mir im Grunde nichts bedeutet, und wir sind uns nie näher gekommen. Philip …“

„Philip ist kein süßer Frauenheld. Er ist ein Eroberer“, unterbrach Cérise mit einem sonderbaren Lächeln.

Corrisande lächelte zurück.

„Ja, das ist er wohl.“ Dann errötete sie. „Ich wußte nicht, daß Kapitulation so süß sein kann.“

Alle drei begannen verstohlen zu kichern und vermieden es tunlichst, einander dabei anzusehen. Die unerwartete Freimütigkeit war ein wenig peinlich. Keine der Frauen war es gewohnt, ihre Geheimnisse mit anderen zu teilen. Es ziemte sich nicht.

Frau Treynstern fand die richtigen Worte.

„Mrs. Fairchild, vielleicht können Sie Ihrer Kammerzofe ja nahebringen, daß eine erfolgreiche Laufbahn als hochbezahlte Edelkurtisane vermutlich von großem finanziellen Vorteil ist, daß aber wahre Liebe, ob nun in einer Ehe oder außerehelich, dennoch vorzuziehen sein mag. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil ist die Möglichkeit zu wählen. Reiche Kavaliere, die sich wohlgestalte, ausgesuchte Kurtisanen leisten können, müssen nicht unbedingt sympathisch sein. Sie können ihr nicht nur viel Ärger machen, sondern auch ein Kind. Von besser unerwähnten körperlichen Leiden ganz zu schweigen. Wenn Sie mir meine offene Rede verzeihen.“

Corrisande schmunzelte.

„Vielleicht findet sie ja jemanden, in den sie sich verliebt. Wir werden sehen.“ Sie trat zum Fenster und sah hinaus über den See. All das war nebensächlich. Sie hatten andere Aufgaben. „Später will ich das Wasser berühren. Es scheint voller Wissen zu sein. Doch ich brauche Ihren Beistand, denn ich traue meiner Befähigung, den Verlockungen dieser Fluten zu widerstehen, nicht. Ich würde mich im Wasser verlieren. Wir müssen uns vom Haus entfernen, damit uns keiner sieht. Am besten warten wir, bis es dunkel ist.“

Die beiden anderen Frauen traten neben sie und sahen auch über das Wasser und auf die Berge am anderen Ufer.

„Es sieht so friedlich aus. Wenn die Umstände anders wären, könnte man es fast genießen“, sagte Cérise.

„Konnten Sie schon immer mit Wasser sprechen, Mrs. Fairchild?“ fragte Sophie.

„Nein. Noch nie. Doch als ich meine Hand ins Wasser tauchte, konnte ich empfinden, wie lebendig es war. Es hat mich fast hineingezogen. Es ist viel stärker als ich und so alt, und ich konnte es nicht besonders gut verstehen. Vielleicht kann ich lernen, seine Botschaften zu begreifen.“

„Sie werden jedenfalls nicht allein sein. Wir werden mitkommen und Sie halten. Wenn Sie Talente haben, die wir nicht haben, sollten wir sie nutzen. Ängstigt Sie die Sache?“ fragte Sophie.

Corrisande seufzte.

„Sehr sogar. Doch es gibt Dinge, die ich weit mehr fürchte.“