Kapitel 46
Die Lücke war zu schmal. Von Görenczy schlug sich schmerzhaft den Kopf an. Seine Hände raspelten über die rauhe Oberfläche. Sein Oberkörper schürfte am scharfen Stein entlang. Die ungeschützten Weichteile seiner Physis wurden gegen unnachgiebigen Kalkstein gequetscht, und er unterdrückte mühsam einen Schrei.
Im nächsten Moment hing er in der Luft, irgendwo in der Dunkelheit zwischen einem unsichtbaren Himmel und einem gnadenlosen Berg. Wasser prasselte mit Wucht auf seinen Kopf nieder und schoß ihm in Nase und Mund. Während er noch seine Blessuren vermerkte, wurde ihm klar, daß er, wenn er nun mit dem Fuß stecken bliebe, sich das Bein brechen und kopfüber im Wasserfall hängen würde. Er würde auf halber Höhe am Berg ersaufen. Eine würdelose Art zu sterben.
Sein linker Fuß schlug gegen Fels, und seine Seele zog sich in der Erwartung des Schlimmsten zusammen. Der Schwung seines Sprungs riß ihn jedoch weiter. Zusammen mit dem eisigen Wasser fiel er kopfüber. Der Sturz schien lange anzudauern. Daß er so hoch über dem Boden war, hatte er nicht gedacht. Er trudelte hilflos, die reißenden Wasser, die ihm wie ein erbarmungsloser Feind erschienen, rissen ihn mit. Er konnte nicht atmen.
Zur Unzeit fiel ihm ein, daß er ein schlechter Schwimmer war. Daran hatte er nicht gedacht. Er war Kavallerist, kein Matrose. Wann immer er Flüsse überqueren mußte, hielt er sich an seinem Pferd und an seinem Säbel fest. Hier hielt er sich an seinem Mut fest und verkniff sich das Atmen.
Er schlug auf der Wasseroberfläche auf wie Stein und sank. Wasser umspülte ihn, schlug über ihm zusammen, bedeckte ihn und begrub ihn unter eisigen Wogen. Wie mit Windmühlenflügeln ruderte er mit den Armen, im Versuch, dem überlegenen Feind zu entkommen, der ihn rücksichtslos nach unten schob. Er spürte die Gewalt des Wasserfalls, die ihn tiefer und tiefer drückte und ihm den Atem aus dem Brustkorb zu pressen suchte, als stecke er in einer Mangel.
Er erreichte den Seegrund, und der Aufschlag kostete ihn wertvolle Luft, die er so verzweifelt in seinen Lungen gehalten hatte. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht einzuatmen. Seine Lunge brannte, ebenso seine Nase, und er rang darum, sich von dem Gewicht zu befreien, das ihn auf den Boden preßte. Seine Hände glitten über schleimig-glitschige Felsen. Er kämpfte, versuchte, seinen Körper zu drehen, seine unkoordinierten Bewegungen in den Griff zu bekommen.
Dann war er frei von dem wirbelnden Strom des Wasserfalls. Ihm fehlte die Orientierung – wo war oben, wo unten? Seine Sinne wirbelten durcheinander. Seine Ohren dröhnten. Ihm war, als würde er mit Macht durchs Wasser katapultiert, am felsigen Grund des Sees entlang.
Er löste sich aus der Verwirrung, stieß sich mit den Füßen ab. Sein Kopf tauchte auf. Fast hätte er vor Erleichterung und Dankbarkeit gejubelt. Doch er besann sich eines Besseren. Er atmete aus und ein. Er horchte. Stimmen.
„Haben Sie das gerade gehört?“ sagte eine Männerstimme, ganz nah, und doch in einem anderen Element, auf trockenem Boden.
„Nein.“
„Ich bin sicher, daß ich etwas gehört habe. Von da drüben.“
Laternenschein glitt über die Wasseroberfläche, und Udolf tauchte wieder unter. Durch das Wasser konnte er das Licht der Laterne über sich hinweggehen sehen. Es beleuchtete eine Reihe völlig unmöglicher Dinge und Wesen neben ihm im Wasser, und er verbot seinem Verstand, die flimmernden Trugbilder als real zu akzeptieren, die in der nächsten Sekunde im Nichts verschwunden waren. Der See beinhaltete ausschließlich Wasser und einen widerlich nassen Chevauleger. Sonst nichts.
Vorsichtig tauchte er wieder auf und stellte fest, daß er den kleinen, flachen See fast vollständig durchschwommen hatte, ohne es zu merken. Es mußte eine starke Strömung geben. Er war auf der anderen Seite, und die Männer mit ihren Laternen waren plötzlich hinter ihm.
Es war eine Chance. Die Frage war, sollte er sie ergreifen? Er wäre weitaus sicherer, wenn er wartete, bis die Männer vorbei waren, bis sie getan hatten, was sie vorhatten. Einen Feyon zu fangen. Die bezaubernde Corrisande wahrscheinlich.
Im Schein ihrer Laternen sah er, daß sie bewaffnet waren und die eine oder andere Gerätschaft mit sich trugen. Sie hatten Ketten und Stricke dabei, alles, was man brauchte, um eine feingliedrige junge Frau zu fangen, die nicht mal einen von ihnen hätte bezwingen können. Er erinnerte sich an ihre großen, himmelblauen Augen. Sie hatte immer so jung und unschuldig ausgesehen. Asko war vollständig darauf hereingefallen.
Udolf war an unschuldigen kleinen Mädchen nicht interessiert. Er mochte Frauen, die willig und geübt waren. Als sich herausstellte, daß das zarte Jungmädchengebaren nur ein Trick war, um eine junge Frau mit Feyonblut und einer zweideutigen Vergangenheit zu tarnen, war er erstaunt gewesen, aber nicht erschüttert. Nicht wie Asko.
Es wäre wirklich weiser gewesen abzuwarten, bis die Jäger an ihm vorbei waren. Er mußte nach Ischl. Das hatte Vorrang. Alles andere ging ihn nichts an. Corrisande war nicht sein Problem, nicht ihr Leben und auch nicht ihr Tod. Sie hätte in Ischl bleiben sollen, da wäre sie sicher gewesen.
Er zog sich aus dem Wasser, kroch dabei auf dem Bauch. Wenn es ihm gelang, unentdeckt bis ins Gebüsch zu kommen, konnte er vielleicht die Boote vor den Jägern erreichen und den Toplitzsee überqueren. Groß war die Chance nicht. Er würde um einiges schneller sein müssen als die Jägergruppe, die so dicht hinter ihm war.
Er hörte wieder Stimmen.
„Ich sage Ihnen, da war etwas im See. Es sah aus wie ein Kopf.“
„Sehen Sie jetzt schon Wassermänner? Reicht es nicht, daß der Meister sie überall sieht, und das, wo er blind ist?“
„Aber ich bin ziemlich sicher. Wir sollten das überprüfen …“
„Wenn Sie gerne schwimmen gehen möchten, bitte. Ich bleibe trocken.“
„Er hätte uns sicher gesagt, wenn ein Feyon im Kammersee wäre“, meinte nun eine neue Stimme. „Ich denke, Sie sollten aufhören, auf den See zu starren und weitergehen. Wenigstens heute Nacht würde ich gerne ein bißchen Schlaf bekommen.“
„Wenn wir einen Sí beim Ladner ausfindig machen, werden wir kaum zum Schlafen kommen.“
„Wenn wir einen Sí beim Ladner ausfindig machen, gebe ich einen aus, und ich wette außerdem einen Kreuzer, daß ich am Ende dieser Nacht keinen Kreuzer ärmer bin.“
„Hören Sie“, sagte der Mann, der ihn im Dunkel gesehen haben mußte. „Wenn wir einen Sí direkt vor unserem Eingang fangen, müssen wir eventuell nicht bis zum Ladner. Ich sage Ihnen, ich habe etwas gesehen. Eine gräßliche Fratze, schwarzweiß, mit einem riesigen Maul. Wir sollten …“
„Wir sollten endlich weitergehen.“
„Sie wollen wirklich in den See tauchen und eine Kreatur mit einem riesigen Maul jagen?“
„Von wollen kann keine Rede sein. Aber im Gegensatz zu Ihnen liegt mir dieses Projekt am Herzen. Dafür bin ich bereit, so manches auf mich zu nehmen. Wir haben schließlich Befehl von …“
„Unsere derzeitigen Befehle sagen, wir sollen zum Ladner, um dort nach einem Feyon zu suchen. Eine klare Anordnung. Da gibt‘s nichts dran zu drehen.“
Der Streit zog sich hin, und Udolf nutzte die Zeit, weiter hoch in den Schatten der Bäume zu kriechen. Er grinste. Das war ein Geschenk, ein Angebot, daß sie ihm machten. Sie stritten und gaben ihm Zeit, die Poststation vor ihnen zu erreichen. Anscheinend hatten sie keinen Anführer, oder das Gespräch hätte sich nicht auf diese Weise entwickelt. Die Inkompetenz der Gruppe zeigte eindeutig, daß die Nerven der Verschwörer blank lagen. Sie waren ihrer Aufgabe müde, es mangelte ihnen an Respekt vor ihren Vorgesetzten, und sie glaubten nicht mehr an ihren Erfolg.
Er hoffte, daß sie Recht hatten. Er zog sich an einem Baum hoch und machte sich auf den Weg, so leise es ging.
Es war nicht ganz dunkel. Im Mondlicht konnte er schemenhaft den steilen Trampelpfad ausmachen. Es war kalt, und er begann in den nassen Sachen zu schlottern. Ein Sprint würde ihn wärmen, und er versuchte, seine Beine zu schnellerer Bewegung zu zwingen. Ein Dauerlauf war aber alles, was er in seinem Zustand bergauf schaffte. Vielleicht war das gut so, denn es war zu dunkel, um sich nicht zu verletzen, wenn man im Schweinsgalopp durchs Unterholz schoß. Es mochte weitere Fallen geben, und es hätte ihm verdammt ähnlich gesehen, genau in so einer wieder zu landen.
Er feixte. Riesengroßes Maul. Er hätte gern gewußt, was der Kerl zu sehen gemeint hatte. Vielleicht hatten nasser Oberlippenbart und nasser Schopf sein Aussehen ja im Dunkeln verändert. Er hatte keine gräßliche Fratze. Die Damenwelt war von seinem Antlitz immer recht angetan.
Es war nicht weit bis zum Toplitzsee. Das Problem war, daß seine Reise dort nicht endete. Er mußte über den See, und das Mondlicht, das jetzt dafür sorgte, daß er den Pfad erkennen konnte, würde sein Boot deutlich sichtbar machen. Es war weitaus vernünftiger, im Gebüsch zu warten, bis die Gruppe an ihm vorbei war.
Doch das konnte er nicht. Das Schicksal hatte ihm eine Chance gegeben, Delacroix‘ Gattin zu warnen – und so mußte er es immerhin versuchen. Wenn er schnell genug war und die Kerle hinter ihm lange genug stritten, war er vielleicht schon am anderen Ufer, ehe sie ihn sehen konnten. Sie waren bewaffnet. Auf dem See würde er im Boot ein deutliches Ziel abgeben. Wenn sie ihn sahen, würden sie auf alle Fälle auf ihn schießen.
Er erreichte den schmalen Uferplatz des Toplitzsees und sah, daß er ein Boot entwenden mußte, denn sein eigenes war nirgends zu sehen. Die Menschen hinter ihm wußten vermutlich genau, wie viele Boote hier liegen sollten.
Die Boote waren nebeneinander auf das Ufer gezogen und an Holzpfählen befestigt, die man in die Erde gerammt hatte. Jetzt hätte er ein Messer gebrauchen können, doch er hatte keines. Alles, was er hatte, war eine gänzlich nutzlose nasse Pistole. Es war zu dunkel, um die Knoten in den Tauen genau zu sehen, doch er nahm nicht an, daß sie besonders kompliziert waren, und er behielt Recht. Es gelang ihm, ein Boot loszubinden, ohne viel zu sehen.
Er horchte in den Wald, zum Weg hin, auf dem er gekommen war. Leise Stimmen. Nachts hörte man weit. Vielleicht waren sie noch ein Stück entfernt? Doch sie kamen näher.
Er zwang sich, einen kühlen Kopf zu behalten. Statt in das Boot zu klettern, lief er alle Plätten ab und machte ihre Taue los. Mit dem Fuß stieß er jedes Boot ins Wasser, behielt dabei die Taue in der Hand. Dann stieg er ins letzte Boot und stieß sich ab.
Die Stimmen wurden deutlicher, sie waren schon nah. Noch wußten sie nicht, daß sie ihm auf der Fährte waren, doch bald würden sie ihn jagen.
Er band die Taue der anderen Boote an seines. Er mochte diese Ruderboote nicht. Sie hatten nur ein Paddel, und man mußte im Heck des Nachens stehen, um es richtig zu verwenden. Das würde ihn zu einer guten Zielscheibe machen.
Mit aller Kraft machte er sich ans Rudern. Er war kein Anfänger. Dennoch war es schwierig. Die anderen Boote bremsten sein Fortkommen und machten ihn unendlich langsam. Er kämpfte sich Handbreit für Handbreit weiter, anstatt zügig davonzusausen.
Doch immerhin war ihm nicht mehr kalt. Er ruderte, so schnell er konnte, doch weder die Art des Ruderns noch die Bauweise der Kähne waren für Bootsrennen ausgelegt. Hier brauchte man Zeit und mußte mit der ruhigen Gelassenheit über die Seen schiffen, die die Einheimischen an den Tag legten.
Nur fühlte er sich weder ruhig noch gelassen. Das Licht mehrere Laternen blitzte zwischen den Bäumen auf. Es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln, dann hatten sie das Ufer erreicht, und er kam einfach nicht voran.
Mit einer Bewegung löste er die Taue der geschleppten Boote. Wenigstens war es ihm gelungen, sie ein Stück auf den See zu ziehen. Seine Verfolger würden eine Weile brauchen, sie zurückzuholen, und dabei naß werden. Vermutlich würden sie streiten, wer ins Wasser mußte. Das verschaffte ihm Zeit. Außer natürlich, sie erschossen ihn zuerst und holten dann die Boote.
Er ruderte mit aller Kraft. Der See war nur etwa eine Meile lang, und er mußte lediglich die Stelle finden, wo der Fluß aus dem See floß, hinunter zum tiefer gelegenen Grundlsee. So eine Meile konnte verdammt lang sein, wurde ihm klar, als er die Stimmen nun deutlich vernahm.
„Wo sind die Ruderboote?“
„Da! Sie treiben auf dem Wasser!“
„Jemand hat sie losgebunden!“
„Ich sehe ihn. Er rudert da drüben.“
„Wer mag das sein?“
„Einerlei. Können Sie ihn klar erkennen?“
„Klar genug.“
Ein Schuß dröhnte durch die Nacht. Udolfs Ruderboot schaukelte heftig, und eine Schrecksekunde lang glaubte er, sie hätten es getroffen, doch es war seine eigene Bewegung gewesen, die es ins Schlingern gebracht hatte. Er kauerte sich tief ins Boot. Das Wasser glitzerte im Mondschein, und seine Plätte hob sich als deutlich erkennbarer Schatten von der Seeoberfläche ab.
Ein zweiter Schuß gellte und ging vorbei. „Danke“, flüsterte Udolf. Sie konnten besser hadern als schießen.
Er setzte sich vorsichtig auf und ruderte weiter. Das Boot mit seinen dünnen Holzplanken gab ihm ohnehin keine Deckung. Also konnte er den Männern genauso gut direkt den Rücken zuwenden. Wenn sie ihn trafen, trafen sie ihn eben. Ändern konnte er es nicht.
Der dritte Schuß riß ein Loch in seinen Ärmel und ihm den Arm nach vorne. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, daß er unverletzt war, und einen weiteren Augenblick, um festzustellen, daß er das Ruder losgelassen hatte.
Doch es war nicht fort. Es trieb neben dem Boot. Er ergriff es und ruderte weiter. Drei Schüsse. Vier Herren. Man konnte davon ausgehen, daß sie wußten, wie man mit Waffen umging. Das hieß, daß der erste nachgeladen haben würde, wenn der letzte schoß, und sollten sie die Segnungen der modernen Waffentechnik besitzen, konnten sie ohnehin mehrfach schießen, ohne zu laden.
Im nächsten Augenblick mochte er tot sein, in den Rücken geschossen, während er floh. So hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt. Jedenfalls wäre ihm ein ehrenvollerer Abgang lieber gewesen, als nächtens ermordet und in einem See versenkt zu werden, der so tief war, daß die Einheimischen glaubten, er führte direkt in die Hölle. Nun, dann hatte er es wenigstens nicht weit.
„Verdammt sollt ihr sein!“ fluchte er. „Verdammtes Gesocks!“
Schweiß lief ihm von der Stirn. Lange würde er dieses Tempo nicht halten können. Die letzten Tage hatten ihn mitgenommen, und selbst die wildeste Entschlossenheit machte nicht unverletzlich. Er war und blieb eine Zielscheibe.
„Ich könnte jetzt wirklich ein wenig Fey-Zauber gebrauchen“, brummte er. „Wo seid ihr, wenn man euch braucht? Diese Leute haben es auf euch abgesehen.“
Statt eines Hilfsangebotes traf das Boot auf einen schwimmenden Baumstamm und wurde zur Seite geworfen. Fluchend kippte er nach links, dann über den Bootsrand und ins Wasser. So viel zur Fey-Unterstützung.
Während er zum zweiten Mal in dieser Nacht baden ging, hörte er noch den verzerrten Klang eines weiteren Schusses. Fast gleichzeitig zerbarst das Boot über ihm in seine Einzelteile. Der große schwarze Schatten über seinem Gesicht wurde zu vielen kleinen schwarzen Trümmern.
Es schoß ihm durch den Kopf, daß er doch Grund hatte, dankbar zu sein, aber er war zu sehr damit beschäftigt, nicht zu ertrinken. Er schwamm unter Wasser in die Richtung, in der er die Verbindung zum Grundlsee vermutete. Doch bald würde er hochkommen müssen, sehr bald. Er konnte nur hoffen, daß sein Kopf ein schlechteres Ziel abgeben würde als sein Ruderboot.
Als er wieder auftauchte, drehte er sich auf den Rücken und blickte zurück. Im Dunkeln konnte er seine Feinde nur schemenhaft ausmachen. Einer von ihnen war ins Wasser gesprungen, um die Boote zu holen. Boote waren schneller als Schwimmer.
Er drehte sich wieder um und schwamm stur weiter in die Richtung, in der er das Flüßchen vermutete. Es war unfaßbar kalt. Er sah nicht viel, es schien dunkler geworden zu sein. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Damit war seine letzte Lichtquelle quasi verschwunden.
„Wunderbar“, murmelte er sarkastisch, doch dann wurde ihm klar, daß seine Verfolger ebenso blind waren wie er. Vorteil und Nachteil zugleich. Er zog sich weiter durchs Wasser. Es würde eine lange Schwimmpartie werden. Die Distanz zwischen den Seen betrug über eine Meile, und obwohl das Wasser in dem Flüßchen, das beide verband, flach war, war es doch zu reißend, um das Schwimmen darin sicher zu machen, und den Grundlsee schwimmend zu durchqueren war völlig unmöglich. Der See war zehn Meilen lang, und selbst wenn er nur bis zum Ladner schwamm, war das immerhin noch die halbe Distanz.
Er würde ersaufen, wenn er nicht wieder an ein Boot kam. Vielleicht würde er in Gössl eins finden. Dann konnten sie auch wieder auf ihn schießen, denn dann wäre er wieder ein wunderbares Ziel.
Ein Hauch von Hoffnungslosigkeit meldete sich, und er schob sie entschlossen von sich. Chevaulegers kannten keine Hoffnungslosigkeit. Man tat, was getan werden mußte, solange man seine fünf Sinne beisammen hatte.
Corrisande würde er nicht rechtzeitig erreichen. Er würde sich an Land verstecken müssen, bis die Männer vorbei waren. Das eiskalte Bergwasser schnitt in seine Haut und biß in seine Knochen, gefror jeden einzelnen Muskel. Selbst die größten Anstrengungen vermochten nicht mehr, ihn zu wärmen. Er mußte das nasse Element verlassen, ehe es ihn tötete.
Fast wäre er mit dem Kopf gegen den Baumstamm gestoßen. Er trieb neben ihm, und Udolf hielt sich daran fest. Eine kleine Pause. Mit mehr akrobatischem Geschick, als er zu besitzen geglaubt hatte, gelang es ihm, seinen Körper längs auf den Baumstamm zu manövrieren. Er paddelte mit den Händen und kam langsam wieder zu Atem.
Er hatte das Flüßchen erreicht. Die Strömung riß ihn dem nächsten See entgegen. Irgendwo hinter sich hörte er die Stimmen seiner Gegner. Sie stritten wieder, zwei von ihnen beschuldigten die anderen, daran schuld zu sein, daß sie ihn verloren hatten. Die beiden anderen waren der Meinung, daß sie ihn erschossen hatten und er mit dem Ruderboot gesunken war. In der bewölkten Nacht konnten sie ihn nicht sehen.
Das Flüßchen war gerade breit genug, daß man Baumstämme auf ihm transportieren konnte. Die Strömung war reißend. Er hätte den Grund mit den Füßen erreichen können, doch es wäre unmöglich gewesen, sich gegen die weißen Wasser zu halten. Sie zerrten ihn schnell dahin, doch auch seine Verfolger würden nicht minder schnell vorankommen.
Die Chancen waren ungerecht verteilt. Einer gegen vier, unbewaffnet gegen bewaffnet, zerschlagen gegen ausgeschlafen, kalt und naß gegen trocken und im Boot sitzend. Wenn man die Sache nüchtern betrachtete, konnte es nur einen Ausgang der Geschichte geben. Gott sei Dank war es nicht seine Art, Dinge nüchtern zu betrachten.
Er war gespannt, ob Delacroix‘ Ehefrau wieder ihre charmante Zofe dabei hatte. Es war ein zweckloser Gedanke zur Unzeit, doch die Erinnerung an die kecke, blutjunge Schönheit wärmte ihn. Sie war makellos. Ein halbes Jahr zuvor hatte er versucht, sie zu erobern, doch das Mädchen hatte ihn auf Armeslänge verhungern lassen, ohne ihm die Hoffnung zu nehmen, daß sich das sogleich ändern würde. Ein niedliches kleines Luder. Doch die Belagerung hatte ohne Eroberung geendet.
Er schob den Gedenken an sie von sich. Marie-Jeannette war unwichtig, die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sein Baumstamm durch das gischtgekrönte Wasser schoß, schon wichtiger. Er spürte, daß er gleich abrutschen würde, und dann war es auch schon geschehen. Es war nicht möglich, auf dem trudelnden, runden Stamm zu bleiben, während er durch die Strömung schoß.
Er sank. Einen Augenblick lang fürchtete er, der Baumstamm könne ihn treffen und bewußtlos schlagen. Dann würde er ersaufen. Doch er kam neben dem Stamm wieder hoch und versuchte, sich daran festzuhalten. Seine Füße schleiften über den Grund, doch die Fluten rissen ihn weiter.
Seine Hände glitten vom feuchten Holz ab, zu kalt, um noch etwas zu spüren. Das Wasser schlug erneut über ihm zusammen, drang in seine Nase. Er kämpfte sich wieder an die Oberfläche, speiend und keuchend. Der Baumstamm war jetzt vor ihm, außer Reichweite. Vielleicht konnte er ihn einholen, wenn er erst den nächsten See erreichte und ihn die wilde Strömung nicht mehr trieb.
Er war kaum zu glauben, daß es ihm gelungen war, sich so lange auf dem rollenden Holz zu halten. Eine ganze Schar von Schutzengeln mußte das beschäftigt gehalten haben, und nun ruhten sie sich aus.
Im Dunkel der Nacht hörte er, wie das Boot mit seinen Verfolgern näher kam. Die Stimmen waren deutlich zu vernehmen.
„Er ist tot. Ich habe ihn in den Rücken getroffen.“
„Ich möchte ungern Ihre Schießkünste anzweifeln, doch ich meine, zum einen war es dunkel, und zum anderen sah es mir so aus, als ob er schon vor dem Schuß mit dem Boot gekentert ist.“
„Wo ist er dann jetzt?“
„Irgendwo. Er kann überall sein. Er könnte direkt hinter uns schwimmen. Oder hinter dem Baumstamm dort.“
Leutnant von Görenczy ließ sich erneut unter Wasser sinken. Als er die Luft nicht mehr länger anhalten konnte, tauchte er wieder auf. Das Boot war über ihn hinweg geglitten. Die Männer debattierten immer noch.
„Er kann nicht zwei Seen durchschwimmen. Das schafft niemand. Es ist zu verdammt kalt. Er wird ertrinken. So oder so, er ist tot, oder so gut wie.“
Der Mann hatte verdammt noch mal Recht. Leutnant von Görenczy konnte seine Gliedmaßen nicht mehr spüren. Die Kälte hatte von seinem Leib Besitz ergriffen und faßte mit ehernem Griff nach seinem Herzen. Auf dem Stamm war es nicht so schlimm gewesen, denn zumindest sein Rumpf hatte nicht im Wasser gelegen.
Er sah sich um. Nirgends ein Licht. Er mußte die Richtung raten. Doch die Stimmen hörte er noch.
„Also nochmal: Erst schießen, dann fragen. Sí können eine Kugel im Herzen überleben. Dieser gottverdammte Graf Arpad hat sie auch überlebt.“
Corrisande würde sie nicht überleben. Sie würde sterben, und er auch.
Mit dem letzten Rest Kraft versuchte er, den Stimmen zu folgen. Sie wußten, in welche Richtung sie mußten, er nicht, und es war einerlei, ob er erschossen werden würde oder ertrank. Es ging nur noch darum, alles versucht zu haben.