Kapitel 22
Graf Arpad hörte von Orvens Stimme. „Vielleicht sind sie ins Tal geritten, und das hier ist nur ein Ablenkungsmanöver. Warum teilen wir uns nicht auf?“
„Danke, Meyer. Ich bin in der Lage, eigene Entscheidungen zu fällen. Wir teilen uns nicht auf. Drei Leute reichen nicht aus, ihn zu fangen. Wir gehen hier hoch.“
Der Vampir stieg unentwegt weiter. Die junge Frau war bei Bewußtsein, er spürte ihre Angst und Resignation. Sie ließ zu, daß er sie trug, weil sie bereits aufgegeben hatte. Er wünschte, er könnte ihr Mut zusprechen, doch seine Stimme würde durch die Nacht dringen, und er wollte den Männern nicht auch noch helfen. Er hatte versucht, ihrem aufgewühlten Geist einen beruhigenden Gedanken zu senden, eine mentale Liebkosung, doch sie hatte nur aufgestöhnt und sich in seinem Griff gewunden. Fast hatte er sie fallen gelassen.
Ein Dilemma. Magische Beeinflussung war seine ureigenste Natur. Er nutzte sie unablässig, dachte kaum darüber nach. Wenn Menschen keine Schutzamulette trugen, merkten sie nicht, was er tat. Diese Frau merkte es nicht nur, sie fand es unerträglich. Es machte ihr Angst, doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Gefährte, der Dryas, hatte ihr keine Gegenwehr beigebracht. Wenn er sie zur Fortpflanzung ausgesucht hatte, dann hatte er dieses Kapitel ihrer Ausbildung sicher absichtlich ausgelassen. Dryaden waren einsame Waldbewohner und an ihr Gebiet gebunden. Sich mit einem Menschen zu paaren war oft ihre einzige Möglichkeit, sich überhaupt fortzupflanzen. Sie zeugten immer Zwillinge, einen Menschen und einen Feyon. Das Talent, die Essenz des Seins entsprechend zu steuern, war den Sí in ungleichem Maße gegeben, doch sie besaßen es alle. Manche beherrschten es zur Perfektion. Es war jedoch nicht eine von Arpads hervorragenderen Fähigkeiten.
Dryaden waren sonderbare Verwandte. Dieser Dryas hatte sie für sich aufgehoben, doch nie den Akt vollzogen. Sie war unberührt. Er sollte mehr über ihren Freund herausfinden, aber nicht jetzt.
Sie war schwer. Ihr hochgewachsener, drahtiger Körper wog mehr als das übliche junge, zarte Fräulein. Den steilen Abhang mit ihr nach oben zu klettern strengte selbst ihn an. Es geschah nicht oft, daß er außer Atem geriet, und er konnte durchaus auf diese Erfahrung verzichten.
Der Mineneingang war zwanzig, dreißig Meter über ihm deutlich zu sehen. Breite Bretter waren darüber genagelt. Bedeutungslos. Die konnte er wegreißen.
Lichter und Stimmen näherten sich. Die Männer kamen gut voran, viel zu gut, wenn man bedachte, wie wenig Menschen in der Nacht sahen. Sie fielen nicht über Wurzeln, und sie liefen nicht gegen Bäume. Sie setzten ihre Schritte mit Bedacht, zielstrebig.
Charlotte hatte nicht darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Fetzen ihres zerrissenen Kleides hingen in den Sträuchern. Das hätte es selbst einem schlechten Weidmann einfach gemacht, ihnen zu folgen.
Arpad verließ den Pfad und kletterte direkt den Hang zum Bergwerk hoch. Die Baumgrenze lag unter ihm, und er mußte sich beeilen, damit er nicht gesehen wurde. Er hatte keine Lust, noch einmal eine Zielscheibe abzugeben. Wenn sechs Leute gleichzeitig auf ihn schossen, war die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden und hilflos zu sein, nicht gering. Er mußte den Einlaß zum Berg erreichen. Dieser war schmal genug, um ihn allein zu halten. Seine Verfolger würden ihm einer nach dem anderen in den Fels folgen müssen, und nacheinander würde es leicht sein, sie zu töten. Ein Bankett.
Er eilte hinauf über das Geröllfeld und versuchte, leise zu sein. Es war schwierig. Der Waldboden war verschwunden. Hier stieg er nur noch über Gestein. Seine Füße traten Geröll und Steine los, die mit jedem Schritt ihre Reise nach unten antraten. Ihr Klappern hallte wie Trommelwirbel durch die Nacht.
Menschen glaubten, alle Vampire könnten fliegen, sich in eine Fledermaus oder in einen Wolf verwandeln oder sich vollkommen auflösen. Er wünschte, sie hätten Recht. Doch das Gesetz der Schwerkraft band ihn genauso wie die Menschen, und das schon sehr lange.
Natürlich war er ein besserer Kletterer, er war schneller, stärker, balancierte mit größerer Sicherheit. Er hätte einen guten Einbrecher abgegeben. Den besten überhaupt.
Fliegen konnte er trotzdem nicht, und was das Verschwinden anging, so konnte er mit den Schatten verschmelzen und die Wahrnehmung der Menschen beeinflussen, so daß sie ihn nicht sahen oder hörten – sofern sie keine Schutzamulette trugen.
„Da! Ich habe etwas gesehen!“
Er wußte nicht, wer gerufen hatte, nur, daß es nicht Asko gewesen war. Dessen Stimme ertönte nun auch.
„Da ist nichts. War wahrscheinlich nur eine Gemse.“
Torlyn regte sich nicht, hoffte, sie würden ihn in der Nacht nicht sehen, wenn er sich nicht rührte, und tatsächlich schien das so zu sein. Aus dem Augenwinkel konnte er sie klar und deutlich sehen. Sie bewegten sich sicher, je eine Lampe in der Linken, eine Waffe in der Rechten. Eine Sekunde lang hoffte er, sie würden sich in der Nacht gegenseitig erschießen. Doch sie waren eine disziplinierte Truppe. Sie wußten genau, was sie taten, und sie sahen viel zu gut in der Nacht.
„Ich sehe ihn nicht.“
„Ich sagen Ihnen, er war da.“
„Warum sollte er den Wald verlassen und über offenes Gebiet laufen? So dumm kann er doch nicht sein.“
„Keine Streitgespräche. Suchen Sie ihn lieber! Wir wollen ihn nicht noch zusätzlich warnen.“
Ein verdrießliches Lachen klang auf. Asko.
„Sie glauben doch nicht wirklich, ihn überraschen zu können? Höchstwahrscheinlich ist er schon fast in Altaussee, und wir stolpern hier in der Nacht herum. Unsere Nachtsicht ist magisch verbessert. Also müßten wir ihn sehen, wenn er da wäre.“
Torlyn begriff, daß die letzte Anmerkung ihm gegolten hatte. Asko gab ihm Informationen, in der Hoffnung, er wäre nah genug, sie zu hören. Oder gut genug, sie von weitem zu hören. Seltsames Benehmen.
„Seien Sie still! Oder wollen Sie ihm noch mehr verraten?“
Magisch verbesserte Nachtsicht. Das erklärte einiges – und machte anderes noch rätselhafter. Menschliche Magier mußten sehr gut sein, um die Wahrnehmung anderer derart nachhaltig beeinflussen zu können. Das grenzte schon beinahe an ein Wunder. Er erinnerte sich an die Anhänger, die er bei den Männern gefühlt hatte. Auch nur eines davon herzustellen war für einen menschlichen Meister des Arkanen eine kraftraubende und schwierige Angelegenheit. Diese Männer hatten jeder eins – aus Kalteisen. Er spürte die tödliche Substanz auf die Entfernung. Sie war so selten, so schwer zu bekommen, daß er sich nicht häufig Gedanken darum machen mußte.
Was immer es war, wogegen er kämpfte, er mußte damit rechnen, daß die gegen ihn gerichteten arkanen Kräfte seinen ebenbürtig oder sogar überlegen sein mochten. Er fragte sich, in welch unschöne Sache sich Asko verstrickt hatte. Die Männer wollten ihn lebend, das war klar, sonst wäre er schon tot gewesen. „Sie würden nicht mögen, was man mit Ihnen vorhat“, hatte sein ehemaliger Kampfgefährte gesagt.
Keine Zeit nachzudenken. Er maß den Abstand zur Höhle. Er würde einige Sekunden brauchen, um die Entfernung zurückzulegen. In diesen Augenblicken konnten sie auf ihn feuern. Sie mochten ihn verfehlen, doch das war Spekulation. Sie konnten Charly treffen. Ihr heftiges Atmen und ihr trommelnder Herzschlag drangen unablässig in sein Bewußtsein. Panik, sagte er sich, nicht Leidenschaft.
Wenn er sich bewegte, würde man ihn nicht sofort sehen, aber hören. Seine Schritte konnte er dämpfen, eine Geröllawine nicht.
Auf halben Weg am Hang konnte er auch nicht bleiben. Es sah nicht aus, als würden sie umkehren, obwohl von Orven offenbar versuchte, sie in eine andere Richtung zu lenken. Er tat es für das Mädchen. Seine Beschützerinstinkte gegenüber dem weiblichen Geschlecht waren immer schon geradezu lächerlich ausgeprägt gewesen.
Torlyn spannte sorgsam seine Muskeln an und brachte sich in Position für einen Bergaufsprint. Er konzentrierte sich, öffnete sich der Nacht und den Kraftlinien der natürlichen Macht, die hier in den Bergen so besonders fühlbar waren, beinahe mit den Händen zu greifen. Wilde Energie. Er ließ die Nacht in sich fließen, wurde zu dem, was er primär immer war, ein Stück absoluter Dunkelheit.
Dann hetzte er los, sprang, lief wie ein Hase im Zickzackkurs. Bergauf.
Felsstücke und lockeres Geröll schossen in perkussivem Stakkato unter seinen Füßen hervor, ließen ihn beinahe stürzen, doch er kam voran. Steinlawinen regneten hinter ihm den Hang hinab.
„Da!“
Ein Schuß. Noch einer. Er war nicht getroffen, doch Charly zuckte. Er roch jedoch kein Blut.
Weitere Schüsse. Eine Kugel streifte fast seine Haut, riß ein Loch in seinen Ärmel. Die Männer erklommen ebenfalls den Hang. Gleichzeitig schossen sie. Das war dumm, und er war dankbar. Während sie über das Geröll kletterten, konnten sie nicht gut zielen. Stehenbleiben und in aller Ruhe anzulegen wäre sinnvoller gewesen.
Doch der Jagdinstinkt hatte sie gepackt, lockte sie, riß sie mit. Mitten in einer Hatz waren sie und hatten ihre Beute fast. Er spürte ihre Gefühle und verstand sie gut, kannte den Eifer, den Blutdurst. Brutale, natürliche Instinkte. Nur ging es diesmal um sein Blut. Die Rolle der Beute hatte er lange nicht gespielt.
Die Schüsse gellten durch die Nacht. Jeden Knall warf der Fels zurück. Das pfeifende Konzert der Querschläger war vermutlich im ganzen Tal zu hören.
Sechs Männer, die auf dem Geröll herumstiegen, richteten mehr Schaden an als einer. Schon stürzten sie auf dem Schotter, glitten auf kleinen Steinlawinen bergab, balancierten wie Matrosen auf dem Deck eines sturmgebeutelten Schiffes. Einige fluchten. Andere stolperten. Einer schrie und rollte den ganzen Hang bis zum Wald hinunter. Alle zusammen störten sie das Arrangement der Steine, die nur so lange locker auf einander hielten, wie niemand sie unmäßig belastete.
Der Sí traf wieder auf den Weg, eine Windung höher, und rannte ihn entlang zum Eingang. Dieser war kaum breiter als eine normale Pforte.
Er stellte die Frau auf die Füße, und sie lehnte sich gegen den Fels. Im Dunkeln konnte sie nicht sehen, wie seine Fingernägel zu Klauen wurden und raubtiergleich aus dem Nagelbett schossen. Er riß mit roher Gewalt an den Brettern. Sie waren alt, die Nägel verrostet. Augenblicke später war der Eingang frei.
Doch Augenblicke konnten lange dauern. Er hörte nie auf, sich zu bewegen, versuchte, kein stehendes Ziel abzugeben. Die Frau schon. Sie stand nur benommen da. Sie schrie auf, als eine Kugel neben ihrem Kopf in den Fels schlug und ihr Splitter ins Gesicht flogen. Sie hielt sich die Hände über den Kopf, versuchte, ihn zu schützen, als weitere Kugeln über ihr den Fels trafen und kleine Lawinen lossprengten, die schnell zu größeren Lawinen wurden. Kalkstein war spröde. Die ineinander geschobenen Felsbrocken hatten seit Jahrhunderten genau an dieser Stelle festgehangen. Doch jetzt löste sie die Wucht der Einschläge, hebelte an ihrem Schwerpunkt.
„Nicht auf das Mädchen schießen!“ Das war von Orven.
„Laßt ihn nicht entkommen!“
Torlyn ergriff die Frau um die Taille. Es war ein Wunder, daß sie beide noch kein Schuß getroffen hatte. Einen Augenblick lang vermeinte er eine Macht zu spüren, die der seinen überlegen war. Keine Zeit nachzudenken.
Das Knallen verebbte, wurde überlagert von einem neuen Geräusch. Gestein rutschte, fiel, kleine Steine zuerst, dann größere, dann riesige Blöcke. Direkt über seinem Kopf donnerten sie nach unten.
Er warf das Mädchen in den Stollen und sprang hinterher. Die morschen alten Holzbalken, die den Eingang stützten, ächzten und knackten. Er fühlte, wie der Berg sich bewegte, sich vor Mißbehagen schüttelte ob der Respektlosigkeit der Verfolger und dann niederging in einem Felshagel, der selbst die letzte Spur menschlicher Überheblichkeit wegzuwaschen vermochte.
Er hörte draußen Flüche und Schreie. Doch er konnte sich nicht damit befassen, denn in diesem Augenblick gab der Träger über dem Eingang nach und zerbarst zu Staub. Arpad rollte sich seitlich ab. Eine Sekunde später hatte er die Frau erreicht. Sie lag auf dem Rücken, so wie sie eben aufgekommen war. Ihr verstörtes Gesicht machte deutlich, daß sie nicht begriffen hatte, was geschah.
Nun war er auf ihr. Keine Zeit aufzustehen, sie hochzuheben. Er ergriff sie bei den Armen, zog sie zu sich und rollte mit ihr weiter in den Stollen hinein. Dabei hielt er sie fest gegen seinen Körper gepreßt, umfaßte sie mit den Armen. Sie schrie auf, versuchte, sich zu befreien, doch er ließ es nicht zu, hielt sie nur ehern umklammert und rollte weiter mit ihr vom Eingang fort, während der Berg sich hinter ihnen schloß.
Das Donnern war noch eine Weile zu hören. Der Berg hatte sich den Angreifern in den Weg geworfen. Felsbrocken und Steinchen regneten herab, verteilten sich neu, folgten einem plötzlichen Ruf der Schwerkraft. Der Fels brüllte vor Wut.
Dann endete das Toben. Selbst für ihn war die Welt dunkler geworden, die Schatten tiefer. Salzdunst hing in der Luft, er sah ihn glitzern. Er schaute zum Eingang. Es gab ihn nicht mehr. Er war verschlossen mit Steinen und Geröll. Kein Sternenlicht, kein Mondschein drang herein. Sie hatten ihre Jäger abgehängt, doch der Preis war hoch. Sie waren gefangen.
Er merkte, daß er auf dem Körper der Frau ruhte, verheddert in ihrem weiten Mantel, seine Füße zwischen den ihren. Ihr Gesicht war voller Furcht, ihre Augen weit geöffnet, ihre Iris groß und schwarz in der Dunkelheit. Trotzdem mußte sie hier blind sein.
Sie versuchte, die Hände freizubekommen. Ihr dicker Mantel jedoch hatte sie beide zu einem Bündel verschnürt, und sie konnte sich nicht von ihm lösen. Sie begann zu schreien.