Kapitel 23
Charlottes Geist war vor Angst versteinert. Die Schüsse gellten noch in ihren Ohren. Die Erkenntnis, daß Männer sie hetzten, sie ermorden wollten – oder noch schlimmeres –, drang in ihr Bewußtsein. Sie begriff erst nach und nach, daß sie in einem Berg eingesperrt war, blind in der Dunkelheit. Alles, was sie sicher wußte, war, daß ein Mann auf ihr lag. Sein Gewicht lastete auf ihr. Seine Füße waren zwischen den ihren. Sie spürte seinen Körper, seinen Atem in ihrem Gesicht. Sein Haar war ihr in den Mund geraten. Seine Muskeln schienen sich direkt auf ihrer Haut zu bewegen.
Sie konnte sich nicht befreien. Er hielt sie fest, mit so viel Kraft, daß sie völlig hilflos war. Er war viel zu stark, stärker noch als der andere gewesen war. Ihre Gedanken setzten die neue Situation mit der vorigen gleich. Sie wartete nur darauf, daß er ihre Knie auseinanderzwang. Er würde tun, was der andere versucht hatte. Diesmal würde sie niemand retten. Er würde sie nehmen, ihr wehtun, und sie war zu schwach, sich zu wehren. Nicht nur war er viel stärker, er konnte auch ihren Geist zwingen, ihm zu gehorchen, konnte sie dazu bringen, seiner Lust entgegenzukommen. Nichts konnte sie dagegen tun.
All das ging ihr durch den Kopf in den Augenblicken, nachdem sie zusammen mit ihm durch die Finsternis gerollt war, sein Körper an ihrem, seine Arme fest um sie gelegt. Alles nüchterne Denken schien sie verlassen zu haben, und es gab nur eins, das sie tun konnte. Sie schrie.
„Fräulein von Sandling!“
Seine Stimme war nah an ihrem Gesicht, schon fast in ihr.
„Nicht! Gehen Sie weg! Lassen Sie mich los!“
Sie wehrte sich und fühlte, wie er sich bewegte. Sie schrie noch lauter, wohl wissend, daß ihr das nicht helfen würde, ihn nicht aufhalten würde und auch keine Hilfe brachte.
„Beruhigen Sie sich! Ich versuche doch nur ...“
Die Stimme war direkt in ihrem Ohr. Sie spürte seine Lippen in ihrem Haar. Jetzt hatte sie einen Arm frei und schlug damit blind um sich, versuchte, ihn zu treffen. Er fing ihr Handgelenk und hielt es fest.
„Lassen Sie mich! Gehen Sie weg!“
Sein Körper wand sich auf ihrem, sie fühlte seine Muskeln. Etwas gab nach, hielt sie nicht mehr fest. Sie merkte, daß es ihr Mantel war. Dann war der andere Arm frei, und sie versuchte erneut, sich zu wehren. Sofort hielt er auch ihn fest.
„Nein!“ schrie sie. „Gehen Sie weg. Bitte!“
Er war weg.
Eben hatte sie noch seine Füße zwischen ihren gespürt, seine Hand, die ihre Handgelenke umfaßte. Im nächsten Augenblick war er fort. Keine Last drückte sie mehr nieder, und sie rollte sich ab, zog die Knie ans Kinn, kringelte sich zusammen, als könnte sie der realen Welt damit den Rücken kehren. Sie wimmerte.
Er hatte ihr nichts getan. Wirre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Er war fort. Er hatte sie in Ruhe gelassen, ihr nicht wehgetan. Er hatte es nicht getan. Nun war sie allein in der Nacht.
Sie begann zu weinen, ergab sich der Angst und dem Selbstmitleid. Ihre Augen waren offen, doch sie konnte nichts sehen, nicht einmal Schemen.
Der Boden war rissig. Eine Steinkante ritzte ihre Wange, doch sie rührte sich nicht. Sie war begraben. Dies war ein Grabgewölbe. Der Berg war nicht der größte in der Gegend, doch im Vergleich zu ihr riesig. Er erstreckte sich nach Südosten zum Toten Gebirge. Von außen kannte sie ihn gut. Doch nun war sie innerhalb, blind, schutzlos und verlassen. Allein. Sie hatte den einzigen Mann fortgeschickt, der ihr hätte helfen können. Ihr wurde klar, daß sie hysterisch gewesen war, daß er nie vorgehabt hatte, ihr etwas zu tun, sondern sie vor den fallenden Felsen in Sicherheit hatte bringen wollen. Sie hatte ihn fortgejagt, ihn, der zurückgekommen war, um ihr zu helfen, der sie bergauf geschleppt hatte, der bei ihr geblieben war, obwohl er sich ohne sie gewiß schnell in Sicherheit hätte bringen können.
Nun war er weg. Er konnte im Finstern sehen. Er brauchte sie nicht. Er würde eventuell den Weg nach draußen finden. Ohne sie war es leichter für ihn.
„Graf Arpad?“ fragte sie in die Dunkelheit. Keine Antwort. Natürlich nicht. Er war gegangen, denn sie hatte es von ihm verlangt. Eine neue Angst machte sich in ihrem Herzen breit, als sie das Dunkel um sich herum auf einmal wie einen Feind empfand. Es sickerte in ihren Geist und blockierte alles.
„Graf Arpad? Sind Sie da?“
Nichts. Sie lauschte nach Schritten, Atmen. Nichts. Sie spürte kein Leben um sich. Sie war allein.
Sie setzte sich auf und tastete mit den Händen über den Boden. Sie mußte hier weg, bevor der Schrecken der Finsternis sie genauso irre machte wie die Angst, vergewaltigt zu werden. Sie mußte den Weg nach draußen finden. Es galt, ihre Angst zu bekämpfen, sich nicht der Panik hinzugeben, die nach ihr griff. Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten.
Sie hatte die Orientierung verloren, als sie durch die Dunkelheit gerollt war. Sie wußte nicht, in welcher Richtung der Eingang lag. Doch sie mußte ihn finden. Vielleicht ließen die Steine sich forträumen? Oder die Männer würden den Eingang freimachen. Sich Leopold zu ergeben war immer noch besser, als allein in der Dunkelheit zu sterben.
Sie horchte in die Stille, erwartete beinahe, das Brüllen eines abscheulichen Bergmonsters zu hören. Es gab Gerüchte über geheimnisvolle Orte und gute Gründe, warum man nicht in Höhlen oder verlassene Minen ging. All die Geschichten aus ihrer Jugend tauchten wieder in ihrem Gedächtnis auf. Bestien, die in der Dunkelheit auf Beute lauerten.
Doch sie hörte nichts, keine Stimmen, keine Felsen, die fortgeräumt wurden, keine Schritte. Nichts.
Sie wollte hier nicht sterben. Sie fühlte die ganze Last des Berges auf sich. Fels und Erde lauerten über ihr, sie konnte sie beinahe spüren. Die salzhaltige Luft war eisig. Der Stollen reichte weit in den Berg. Ersticken würde sie nicht, jedenfalls nicht so bald. Sie würde verdursten.
Wieder horchte sie. Er konnte doch nicht so weit weg sein! Er mußte sie doch hören!
„Graf Arpad?“
Er wollte sie nicht hören. Sie hatte ihn fortgeschickt, und er war gegangen. Genauso gut hätte er sie töten können. Doch er hatte versprochen, sie zu retten, und das hatte er getan, hatte sich selbst dafür in Gefahr gebracht. Seine Schuld war abgegolten. Sie lebte – und er war fort.
Sie zwang sich aufzustehen. Es war schwer. Ihre Knie bebten.
„Heilige Barbara, Schutzpatronin der dunklen Orte, hilf!“ flüsterte sie und raffte ihren katholischen Glauben zusammen, den sie in den vergangenen Jahren vernachlässigt hatte. Sie hatte das fromme Mädchen gespielt. Sie und ihr Onkel gingen sonntags zur Kirche, und beim Mittagessen diskutierten sie die Predigt. Eventuell hätte sie sich über den beschränkten Horizont des Dorfgeistlichen nicht lustig machen sollen.
Sie streckte die Hände aus und ging los. Nach zwei Schritten hatte sie eine Wand erreicht. Sie lehnte sich daran, schmiegte die Wange gegen den kalten Stein. Es war, als prophezeie er ihr, daß sie bald ebenso kalt und tot sein würde. Mit einer Hand am Fels und einer nach vorn in die Dunkelheit gestreckt begann sie ihren Weg den Tunnel entlang.
Ihre Muskeln schmerzten, doch sie ging immer weiter, Schritt um vorsichtigen Schritt. Linker Fuß, rechter Fuß. Ihre Stiefeletten rutschten auf dem holprigen Grund, ihre Hand krallte sich so gut es ging ins Gestein. Sie hatte kein Gefühl für Entfernung. So weit konnte der Eingang doch nicht entfernt sein? Sie begann, Schritte zu zählen. Nach einer Weile hielt sie an und versuchte, zu Atem zu kommen. Sie war zerschlagen und entkräftet. Doch sie mußte weiter. Linker Fuß, rechter Fuß.
Wenn sie nur etwas hätte sehen können! Doch vor ihren Augen war nur Schwarz.
„Einundfünfzig. Zweiundfünfzig.“
Ihr linker Fuß trat in Leere, und sie fiel. Ihre Hände kratzten an der rauhen Oberfläche der Tunnelwand entlang, aber da war nichts, woran sie sich festhalten konnte. Sie versuchte, ihr Gewicht zu verlagern und stolperte.
Diesmal schrie sie nicht, obgleich die Gefahr greifbar war und nicht eingebildet. Es würde wehtun, wenn sie aufschlug.
Zwei Arme umfaßten sie und zogen sie im Fallen hoch. Sie kämpfte gegen den Instinkt an, sich befreien zu wollen. Im nächsten Augenblick hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Seine Hände hielten sie an den Oberarmen.
„Ich führe Sie jetzt zur Seite. Wir müssen reden. Glauben Sie, Sie können mit mir reden?“
Sie nickte, dann sagte sie „Ja“ und merkte, daß er ihr Nicken gesehen haben mußte.
Er führte sie einige Schritte weit und half ihr, sich zu setzen. Sie lehnte sich an die Wand.
Er war da. Er war nicht im Dunkel verschwunden. Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung durchdrang sie und mit ihm die Erkenntnis, daß sie allein in der Finsternis war mit einem Vampir, gegen den sie sich nicht wehren konnte. Die Erleichterung verwandelte sich in Sorge. Sie hing hilflos zwischen Scylla und Charybdis. Der Tod lauerte auf jeder Seite.
Sie fühlte, wie er sich lautlos neben sie setzte. Er nahm ihre linke Hand. Sie spürte seine Nähe, wollte sich ihm entziehen, zwang sich, sitzen zu bleiben. Er hielt nur ihre Hand. Mehr nicht. Im Moment.