Kapitel 38
Keine Sí. Immer noch nicht. Hardenburg war so sicher gewesen, daß die Suche diesmal nicht erfolglos sein würde. Doch die Gruppe war mit leeren Händen zurückgekommen. Der Baron würde sehr ungehalten sein.
Die Hypothese war wasserdicht. Da war er sicher. Doch er hatte keinen Beweis. Nur einen Test hatte es gegeben – und der war mißglückt. Es gab keine Untersuchungen, auf die er sich stützen konnte, keine Regeln, die seine Theorie unterstützt hätten. Seine Idee war zu neu und außergewöhnlich. Niemand hatte je daran gedacht, Physik mit arkaner Forschung zu verbinden. Schlimmer noch, die meisten Physiker erkannten die Existenz arkaner Kräfte nicht an, hielten sie für abergläubische Torheit, die nur verblendete Narren oder üble Betrüger interessierte.
Doch Hardenburg wußte es besser. Er erinnerte sich gut an von Sandlings Dryade. Lebend hatte er sie haben wollten, doch von Sandling selbst war nicht erpicht darauf gewesen, den Feyon lebendig zu fangen. Er wollte einer solchen Kreatur nicht in einer Konfrontation gegenüberstehen, schon gar nicht ohne einen anwesenden Spezialisten, und obgleich Hardenburg damals einen Meister des Arkanen zur Unterstützung mitgebracht hatte, war ihnen schließlich doch nichts anderes übrig geblieben, als die Bestie in ihrem Bau zu verbrennen. Wenn man den Baum eines Dryas verbrannte, starb dieser. Jeder wußte das.
Er erinnerte sich auch an das Mädchen, obgleich er nicht mit ihm gesprochen hatte. Ein staksiges, burschikoses Kind, gänzlich ohne mädchenhaften Charme und laut. Es hatte geweint und gegen sie angekämpft, bis ihr Vater es schließlich einfach eingesperrt hatte. Das Mädchen mußte die Kreatur allerdings schreien gehört haben. Ihr Notschrei war von den Bergen widergehallt und hatte die Zerstörer getroffen wie ein Schwert. Sie waren zu Boden gesunken. Nie zuvor und nie mehr danach hatte Hardenburg so schreckliche Angst gehabt.
Sie hatten nie mehr darüber geredet. Die von Sandlings waren zurück nach Wien gegangen, und er hatte sie nach dem Ereignis kaum mehr gesehen. Der Meister des Arkanen war ein Jahr später gestorben. Den Dorfpfarrer, den man gebeten hatte, bei der Sache geistlichen Beistand zu leisten, hatte man in eine Missionsstation nach Afrika versetzt. Auch er war tot.
Faktisch lebten von allen Beteiligten nur noch Hardenburg und von Waydt. Seltsam. Aus dem Burschen war ein guter Mann geworden. Von Sandlings Einfluß hatte ihm den Weg zu einer Karriere im Kriegsministerium geebnet. Das Ministerium brauchte gute Leute, die ohne Murren taten, was für ihr Land unerläßlich war. Von Schwarzeneck hatte seine Truppe aus genau diesen Männern zusammengestellt, Nationalisten, die keine unnötigen Fragen stellten und wenig Bedenken kannten. „Für Kaiser und Vaterland. Augen zu und durch“ war ihr Leitspruch. Die Jäger waren Teil dieser ministeriellen Einsatztruppe. Selbst einige der Techniker waren dort rekrutiert worden, bis Hardenburg sich beschwert hatte. Er brauchte Handwerker und Maschinisten und keine Geheimsoldaten, die zwar wußten, wie man eine Waffe hielt, nicht aber einen Hammer.
Es war kein Wunder, daß Meyer und von Waydt sich nicht verstanden. Sie waren zu verschieden. Was immer Meyer getan hatte, das ihm eine unehrenhafte Entlassung eingebracht hatte, besonders schlimm konnte es nicht gewesen sein. Der Mann war zu gutmütig Hardenburg hatte seine Miene beobachtet, als das Schicksal des Mädchens zur Sprache kam. Dem Bayern waren die Umstände zuwider. Vielleicht hatte sich die Kleine ja zu einem anmutigen Fräulein gemausert und Meyer sein Herz beim Abendessen verloren. Es waren schon seltsamere Dinge geschehen.
Der Professor umkreiste seine Maschine, ließ die Hände über das blanke Metall gleiten. Das war es, Fortschritt. Das Dampfzeitalter war vorüber. Das der Fey begann. Zu irgendwas mußten sie schließlich gut sein, zu etwas anderem als dazu, Kinder in ihren Bann zu ziehen und zu verführen. Diese neue Technik würde sie endlich für die Menschheit nützlich machen. Bisher waren sie das nie gewesen. Sie waren gefährlich, unberechenbar, mysteriös – aber nie von Nutzen.
Es war ein Trauerspiel, daß es so schwer war, sie zu finden. Dieser Aspekt war ihm nicht schwierig vorgekommen. In jedem Baum konnte eine Dryade stecken, ein Wassermann in jedem See, ein Nymphe in jeder Quelle, eine Fee in jedem Wald. Wenn man den örtlichen Geschichten Glauben schenkte, gab es sie zuhauf.
Allerdings glaubte Hardenburg nicht alle Legenden. Doch auch Marhanor hatte eingeräumt, daß es mehr als genug Sí auf der Welt gab und angedeutet, man habe auch Wissen über sie gesammelt. Die katholische Kirche verfügte über ein entsprechendes Archiv.
Es gab sicher eine Chance, an das Wissen zu kommen. Von Schwarzeneck hatte gute Verbindungen, und Hardenburg war nicht ohne Einfluß in bestimmten Kreisen.
Er betrachtete die großen Metallbolzen, die den Dampfteil der Maschine zusammenhielten. Blankes Messing, die Maschine war eine Schönheit. Er überprüfte den Treibstoffsitz. Es war schwer gewesen, so viel Kalteisen aufzutreiben. Doch die Oberfläche des Käfigs mußte damit verstärkt sein, damit ein Sí, der darin saß, nicht entkommen konnte.
Sie hatten eine außerordentliche Menge des seltenen Metalls gebraucht. Die Gelder, die in den Erwerb dieses Grundstoffs geflossen waren, waren beinahe schon besorgniserregend. Einer der Techniker trat heran und verneigte sich.
„Meister Marhanor führt eben die Messung nach Fey-Präsenz durch. Er bittet um Ruhe und will nicht gestört werden.“
„Wo sind denn alle?“ fragte Hardenburg.
„Die meisten schlafen. Sie werden sich beim Assistieren Meister Marhanors abwechseln. Er sagt, er brauche sie frisch und ausgeschlafen, wenn sie den Sí fangen wollen.“
Wenn – nicht falls. Wenn. Nur eine Frage der Zeit. Monate hatte er gewartet, da würde er noch ein paar Tage warten können. Marhanor würde den Feyon ausfindig machen, und das Team würde ihn gefangen setzen. Diesmal würde das Mädchen ihn nicht befreien.
Er dachte wieder an das verheulte Kindergesicht. Wie hatte sie geweint und getrauert! Kinder würden sich doch nicht so über einen verlorenen Spielkameraden aufregen. Ihre Reaktion ließ eine tiefere Bindung vermuten, einen Liebhaber, einen Galan, jemanden, der ihr ganzes Herz gefangen hatte.
Vierzehn oder fünfzehn war sie gewesen. Ein bißchen früh für Erfahrungen der fleischlichen Art. Aber so waren Fey. Man mußte dankbar sein, daß er und von Sandling der Sache ein Ende bereitet hatten, bevor das Kind einen Feyonbastard austrug.
Ob sie den Bergrutsch überlebt hatte? Nicht daß es wichtig war. Er wandte sich dem Techniker zu, der gerade wieder gehen wollte.
„Bilecki, warten Sie! Wo ist Meyer?“
Bilecki wandte sich um.
„Ist zu seiner Bettstatt gegangen, um etwas Schlaf nachzuholen. Er sagte, er wolle frisch und munter sein, wenn der Sí ankommt, und er wollte mehr über die Gefangenen wissen. Ich habe gesagt, das geht ihn nichts an.“
Hardenburg nickte.
„Es ist wahrhaftig nicht seine Sache. Doch ich verstehe seine Wißbegier, und selbst seine Hemmungen kann ich zum Teil nachempfinden. Der junge Mann glaubt gerne von jedem, den er trifft, immer nur das Beste.“
„Wenn Sie mich fragen, Professor, so ist er zu unvorsichtig“, meinte der Techniker, als wäre das kurze Gespräch mit Hardenburg eine Einladung für Vertraulichkeiten. „Er macht sich kein Bild von der Gefahr. Die Männer sind mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Spione. Meyer denkt, sie sind Touristen, die zufällig vorbeigekommen sind. Das ist Unsinn. Wenn man zwei Seen überquert und sich danach im Dunkeln durch die Wildnis schlägt, ist man nicht zufällig da, wenn Sie meine Meinung wissen wollen, Professor.“
„Sollte ich je Ihre Meinung wissen wollen, werde ich es Sie wissen lassen. Bisher habe ich nicht darum gebeten.“
Es tat ihm gut, den Kerl in die Schranken zu verweisen. Manchmal glaubten diese Männer, sie leiteten dies alles. Sie leiteten gar nichts. Hardenburg war der Leiter. Es war seine Idee, sein Kind, sein Plan, sein Genie, und es würde auch seine Maschine sein, sein Erfolg und sein Sieg über Österreichs Feinde. Er brauchte Schwarzenbergs Pistoleros, doch sie waren austauschbar. Gute Techniker waren schwerer zu bekommen.
„Lassen Sie Meyer in Ruhe, haben Sie gehört?“ fügte er hinzu, um eindeutiger zu werden. „Er hat nicht völlig Unrecht, wenn er sagt, es wäre barbarisch, Menschen verhungern und verdursten zu lassen. Wir leben nicht mehr im finstersten Mittelalter. Wir befinden uns am Anbruch einer neuen Ära und lassen die Dampfkraft hinter uns. Man kann keinen Fortschritt auf primitiven Vorstellungen bauen. Wenn die Männer Spione sind, werden wir mit ihnen tun, was man gemeinhin mit Spionen macht. Wenn sie einfach Mondscheinspaziergänger sind – was ich persönlich allerdings bezweifele –, werden wir einen Weg finden, sie dahin zurück zu verfrachten, woher sie gekommen sind. Ich bin sicher, daß Meister Marhanor sie mesmerisieren kann, damit sie glauben, sie hätten ein paar nette Nächte mit dieser Witwe und ihren Töchtern verbracht, von denen ich so viel höre.“
Der Mann grinste und zwinkerte ihm allzu vertraulich zu.
„Wenn der Meister solche Erinnerungen in einen einpflanzen kann, hätte ich nichts dagegen, wenn er mir auch welche anbietet“, sagte er. „Das wäre viel weniger aufwendig, als über zwei Seen zu rudern und dann auf die andere Seite Aussees zu reiten. Wenn man endlich dort ankommt, hat man meistens schon gar keine …“
„Ich bin keinesfalls interessiert an ihren Bedürfnissen. Sie haben darauf bestanden, ab und zu einen freien Abend dort zu verbringen. Ich bin kein Unmensch. Das Fleisch ist schwach. Aber wenn es Ihnen zu aufreibend ist, dann gehen Sie eben nicht. Ich unterstütze Unmoral nicht. Freudenhäuser sind ungesund. Sie würden Ihre freie Zeit weit anständiger nutzen, wenn Sie hier einige Studien betrieben, anstatt Ihre Männlichkeit in einen Sündenpfuhl zu stoßen, in dem das halbe Dachsteingebiet seine Spuren hinterlassen hat.“
Der Mann schnaubte verächtlich und drehte sich weg.
„Wenn das dann alles ist, Professor?“ fragte er manieriert.
„Im Augenblick ja. Oder nein. Bringen Sie mir Brot und Wasser. Ich denke, ich werde die erzwungene Pause nutzen, um eine Unterhaltung mit unseren Besuchern zu führen. Vielleicht sind sie jetzt ja etwas leutseliger.“
„Ich habe ihnen schon Wasser und Brot gebracht, Professor. Nur einer von ihnen war wach, und der konnte noch fast nichts sehen. Doch die Magie läßt nach. Das heißt, die Leute können Sie höchstwahrscheinlich sehen.“
„Sollen sie. Auf die eine oder andere Weise wird es Mittel geben, sie am Reden zu hindern. Warum hat Marhanor sie noch nicht befragt? Sie sitzen hier nun schon seit den frühen Morgenstunden, und wir wissen noch nichts über sie.“
„Meister Marhanor wollte sie ohne Nahrung und Wasser mürbe machen. Ich glaube auch, daß sie zugänglicher wären, wenn wir diese Taktik beibehalten hätten,“ erklärte der Techniker und fügte dann mit zynischer Unterwürfigkeit hinzu: „Doch es steht mir freilich nicht zu, eine Meinung dazu zu haben.“
„Eben“, antwortete Hardenburg. „Das steht nur mir zu. Also bitte. Wir haben im Augenblick ohnehin nichts weiter zu tun. Da können wir auch unsere Mondscheinliebhaber ausquetschen. Ist jemand ihre Sachen durchgegangen?“
„Sie trugen Schutzamulette. Zwei davon haben sogar etwas getaugt. Das andere war ein billiges Ding – laut Meister Marhanor. Ein Schreiben hatten sie auch dabei, vom Viertelmann an einen Herrn in Großbritannien wegen des vermißten Jungen und seines Hauslehrers. Der Teil der Geschichte scheint zu stimmen.“
„Schließlich wissen wir, daß uns so ein Jungspund vor einigen Wochen aufgespürt hat. Höchstwahrscheinlich suchen sie nach dem.“
„Da können sie lange suchen. Wir haben ihn ja auch nicht mehr gefunden. Nachdem er abgestürzt ist, kann freilich nicht mehr viel von ihm übrig sein.“
„Das hätten wir damals auch anders handhaben müssen. Das Verschwinden des Knaben hat viel zu viel Staub aufgewirbelt. Eine Kettenreaktion hat es ausgelöst. Immer mehr Leute suchen nach immer mehr Leuten, und wenn wir Pech haben, suchen die nächsten schon nach unseren Mondscheinspaziergängern. Ich wünschte wirklich, Sie würden nachdenken, bevor Sie Schüler, Lehrer und mögliche Spione durchs ganze Gebirge jagen.“