Kapitel 59

Marie-Jeannette hatte ihm auf dem Weg nach Aussee keinen Kuß mehr zugestanden. Es war kein weiter Weg, doch hatte er sich auf die eine oder andere liebliche Wohltat gefreut, die die Reise mit einer frisch vermählten Gattin mit sich bringen mochte.

Statt dessen hatte sie weiter gestritten, halb auf Französisch, das er nur unvollkommen beherrschte, und halb auf Deutsch, das sie nicht gut sprach. Der junge Mann, der den Tilbury lenkte, sah sie nicht an, doch es war offensichtlich, daß er das Geplänkel unterhaltsam fand. Leutnant von Görenczy diskutierte absurde Etikettefragen mit der jungen Frau, die das entnervende Talent hatte, das Thema einfach herumzudrehen, wann immer es ihm beinahe gelang, sie von der Richtigkeit seiner Meinung zu überzeugen. Als er schließlich ungeduldig wurde, weinte sie erneut in ihr geliehenes Spitzentaschentuch.

Sie würde eine gute Schauspielerin abgeben, und noch besser wäre sie als Agentin. Ihre Begabung, die Tatsachen zu verbiegen, bis man nicht mehr wußte, wo einem der Kopf stand, war beachtlich. Ihr Kutscher würde sich an die Streitereien erinnern, an ihre Tränen, ihre Versöhnung – doch an keine anderen Einzelheiten.

Er hoffte, sie würden die Postkutsche nach Ischl noch erreichen. Falls nicht, mußte er eine Droschke mieten, am besten einen Vierspänner. Der Gedanke an eine überstürzte Flucht mit einer jungen Dame per Mietkutsche hatte etwas von Verschleppung, geheimer Romanze und Durchbrennen.

Er hoffte nur, daß er zu guter Letzt die Dame nicht würde heiraten müssen.

Grotesk. Sie war eine Dienstbotin. Niemand konnte das von ihm verlangen. Für ihre Ehre würde niemand Genugtuung fordern. Sollte er allerdings mit Folgen vom Pfad der Tugend abweichen, würde Delacroix wohl ein Wörtchen mit ihm zu reden haben. Es gab sicher Angenehmeres als ein „Wörtchen“ von Delacroix.

Immer vorausgesetzt, Delacroix, er selbst und das Mädchen überlebten. Ebenfalls vorausgesetzt, er fand die Zeit oder Ausdauer, sie zu verführen. Im Moment hätte er einem herzhaften Frühstück gegenüber einer Runde zwischen den Kissen den Vorzug gegeben.

Es wies den Fahrer an, geradewegs zur Poststation zu fahren. Vielleicht sollte er allein weiterfahren? Sie hielt ihn nur auf. Wenn er sich ein Pferd mietete und ritt, würde er schneller vorankommen. Je länger er darüber nachdachte, desto vernünftiger erschien ihm das.

Der Tilbury hielt an.

„Poststation“, sagte der Junge, der sie gefahren hatte, unnötigerweise. Es war ganz offensichtlich eine. Alle Anzeichen waren vorhanden, einschließlich einer Postkutsche, die soeben abfuhr.

„Gottverdammt!“ fluchte er frustriert.

Zu spät. Sie waren um ein paar Minuten zu spät.

Er reichte dem jungen Kutscher ein gutes Trinkgeld und half seiner „Gattin“ vom Wagen. Danach nahm er das Reisegepäck.

„Wir wollen uns beeilen“, sagte er und schaltete zurück auf Englisch, das sie beide gut beherrschten. Dann zerrte er sie fast zum Haus.

„Wozu?“ beschwerte sie sich. „Die Post ist ohne uns abgegangen.“

„Christine! Ich werde dich hierlassen. Nimm dir ein Hotelzimmer und warte auf mich. Sei vorsichtig und laß dich nicht auf der Straße sehen.“

„Nein!“ protestierte sie. „Du wirst mich nicht ganz allein hier lassen. Man würde mir nicht einmal ein Zimmer geben. Ich reise ohne Gemahl, ohne Anstandsdame, ohne Personal und bin nicht volljährig. Was sollen die Leute denken? Sie würden mich nicht einmal aufnehmen!“

Da hatte sie recht. Das hatte er nicht bedacht.

„Außerdem“, fuhr sie mit leiser Stimme fort, während er sie weiter zum Stationsgebäude zog, „bin ich deine Tarnung und extra mitgekommen, damit du heimlich entkommen kannst. Was für ein Sinn hat eine Tarnung, die du in Aussee im Hotel läßt?“

„Mein Kind, es gibt Situationen, in denen ich dich wirklich gerne bei mir hätte. Doch jetzt muß ich schnell vorankommen. Ohne dich werde ich schneller sein.“

„Aber doppelt so auffällig.“ Sie stampfte beinahe mit dem Fuß auf und funkelte ihn mit blitzenden Augen an.

A propos auffällig ... jeder, der nur halbwegs in der Nähe war, starrte sie inzwischen an.

„Christine! Bei allem Verständnis …!“

„Martin! Sei vernünftig!“

Sie hatten nun das Stationsgebäude erreicht, und ein breit grinsender Billetteur saß an seinem kleinen Schalter.

„Da haben Sie sie gerade verpaßt, was?“ feixte er, und Udolf hätte ihm allzu gern eins auf Kinn gegeben, nur um ihm Manieren beizubringen.

„Wir müssen nach Ischl. Eilig. Was können Sie uns anbieten?“

„Brennen Sie durch?“ Er zwinkerte.

Von Görenczy griff den Mann an seinen Revers und zog ihn mit einer Bewegung hoch.

„Passen Sie auf, was Sie sagen! Sie sprechen von meiner Ehefrau, und ich erlaube nicht, daß Sie sie beleidigen!“

Er ließ den Beamten los, und der Mann sank auf seinem Stuhl zusammen und stierte sie schockiert an.

„Noch mal. Was können sie uns als Transport anbieten? Wir haben es eilig.“

Wieder wechselte Geld unauffällig den Besitzer, und der Mann verneigte sich tief.

„Verzeihung, Herr Hofrat, wenn ich Sie beleidigt haben sollte. Ich habe Sie gewiß verwechselt. Ich entschuldige …“

„Nun machen Sie schon. Wir haben es eilig, und die Postkutsche ist fort. Also tun Sie etwas!“

Eine kleine behandschuhte Hand hielt ihn am Arm zurück.

„Bitte, mon cher, ängstige nicht diesen Herrn mit deinem comportement. Ich bin sicher, er tut sein Bestes.“

Von Görenczys Gattin war neben ihn getreten und lächelte den Schalterbeamten an, was ihm spontan die Sprache verschlug.

„Es ist très important, daß wir tout de suite abreisen. Mein Onkel ist so krank. Wir haben gerade ein …“

„Brief. Einen Brief haben wir bekommen“, unterbrach von Görenczy, bevor sie sagen konnte, sie hätten ein Telegramm erhalten, was in Anbetracht der Tatsache, daß die Ausseer Telegrafenstation noch im Bau befindlich war, die Gutgläubigkeit des Mannes überfordert hätte. In den Bergen war der Fortschritt noch nicht angekommen. Keine Bahn, kein Telegraphenamt. Finsteres Mittelalter.

Der Mann blinzelte mitfühlend.

„Schade, daß Sie die Post verpaßt haben.“

Von Görenczys Faust ballte sich, doch sie wurde von der gleichen kleinen Hand zurückgehalten.

„Ah Monsieur, bitte Sie nicht énerver mon mari. Er ist ein so gereizter Mensch und so vorschnell, wenn wütend. Bitte helfen Sie uns.“

Die Aussicht, der Wut eines unwirschen Gatten ausgesetzt zu sein, beflügelte den Geist des Beamten, und er erinnerte sich daran, daß der Gasthof Blaue Traube einen Mietstall führte und Kutschen an diejenigen Reisenden vermietete, denen die Postkutsche zu gewöhnlich war.

Das Gasthaus lag in der Nähe, und sie eilten zu dem Gebäude, das sich im Ortskern befand. Die Nachricht, die der Beamte kritzelte, und den Reiter, der mit dieser Nachricht lospreschte, sahen sie nicht.

Ein Vierspänner war nicht zu haben, doch der Landauer war bequem, die beiden Pferde frisch und kräftig. Das Vertrauen der Wirtsleute ging allerdings nicht so weit, den Fremden die Droschke ohne Kutscher zu überlassen.

Udolf versuchte nicht, sie umzustimmen. Keine Zeit für Wortwechsel. Er verstaute sowohl Reisegepäck als auch Mädchen im Wagen und setzte sich auf den Kutschbock zum Kutscher. Er überließ dem Mann die Zügel und kritisierte auch nicht seinen bedächtigen Fahrstil.

Erst als sie die Stadt verlassen hatten und auf der Hauptstraße waren, übernahm von Görenczy die Zügel und änderte die Geschwindigkeit. Der Kutscher, ein Mann um die Vierzig, unterließ eine Debatte nach einem Blick in Udolfs entschlossenes Gesicht.

„Festhalten!“ rief der Offizier sowohl dem Kutscher als auch dem Mädchen zu. Dann ratterte der Landauer ungestüm die Straße entlang, und die Sache begann, Udolf Spaß zu machen. Er liebte Pferderennen. Schon mehr als eins hatte er gewonnen und genoß den Ruf, seine Siege mit einer Mischung aus Talent, Glück und tollkühnem Draufgängertum zu erringen.

Das Mietgefährt war gut gefedert, doch er war sicher, daß dem Mädchen hinten auf dem Sitz bald übel werden würde. Wahrscheinlich würde sie sich gleich beschweren, und er würde die Beschwerde ignorieren, denn sie hatte die Wahl gehabt. Sie hatte sich fürs Mitkommen entschieden.

Doch es kam keine Klage. Statt dessen beschwerte sich der Kutscher.

Udolf ignorierte ihn.

„So schaffen es die Pferde nie bis Ischl, gnä‘ Herr. Die schaffen es nicht über die Berge.“

„Nicht bis Ischl, nur bis zur nächsten Station. Dort werde ich sie wechseln.“

„So viele Poststationen gibt‘s nicht in den Bergen, gnä‘ Herr.“

„Es ist Ihre Aufgabe, mir die zu weisen, die es gibt.“

„Aber gnä‘ Herr!“

Udolf knallte mit der Peitsche, und die Pferde wurden noch schneller.

„Aber gnä‘ Herr!“

„Guter Mann, wenn Sie nichts Nützlicheres zur Unterhaltung beitragen können, seien Sie leise und halten Sie sich fest. Den Pferden geht es gut. Sie sind in guten Händen. Ich kenne mich mit Gäulen aus. Wenn ich wirklich umschmeiße, können Sie sich immer noch der Freude hingeben, mir zu sagen, Sie hätten es vorher gewußt.“

„Bitte nicht umschmeißen“, kam eine süße Stimme von hinten. „Ich möchte mir nicht den Hals brechen.“

„Außerdem“, fuhr Udolf fort und ignorierte den Einwurf, „habe ich genug Geld, Ihnen eine neue Kutsche und bessere Pferde zu kaufen, sollte diesen etwas geschehen.“

Sein Geld war es nicht, das er da so großzügig versprach. Es war Kampagnengeld, und er konnte nur hoffen, daß Ihre Kaiserliche Hoheit die etwaigen Schäden begleichen würde.

Sie preschten die Straße entlang, und eine Weile sprach niemand, nur der Kutscher gab manchmal ein Winseln von sich, wenn von Görenczy eine Kurve schnitt, daß die Räder beinahe blockierten.

Sie hatten Zeit an der Poststation verloren, dann auf dem Weg zum Mietstall und schließlich in der Blauen Traube, während der Wagen angespannt wurde. Als sie die Postkutsche vor sich sahen, waren sie schon fast an der nächsten Station.

„Sie werden sie doch nicht überholen wollen!“ rief der Mann neben ihm nervös. „So etwas Dummes werden Sie doch nicht versuchen!“

„Wie reden Sie denn mit mir?“ zischte Udolf und knallte mit der Peitsche. Er holte beständig auf. Die sechsspännige Post war nicht langsam, fuhr jedoch um einiges vernünftiger als Udolf. Er wollte tatsächlich überholen.

Doch er kam nicht dazu. Die Straße war zu schmal, und so fuhr er nur in der Staubwolke des größeren Fahrzeugs.

Sie erreichten die Poststation zusammen.

Von Görenczy zog am Zügel und sprang vom Bock.

„Frische Pferde! Schnell!“ befahl er dem Fahrer, dessen Knie ein wenig weich zu sein schienen, als er mühsam vom Bock kletterte.

„Gnä‘ Herr, ich soll …“

„Kein Widerwort. Tun Sie‘s. Hier ist Geld. Ich hole uns etwas zu essen. Bin am Verhungern. Seien Sie fertig, ehe es die Postkutsche ist. Ich habe nicht die Absicht, weiter Staub zu schlucken!“

Der Wagenschlag öffnete sich, und Marie-Jeannette wartete darauf, daß man ihr aus dem Gefährt half.

„Wir haben keine Zeit für eine Pause. Also bleib bitte sitzen“, befahl er.

„Tut mir leid, aber ich verspreche, daß ich ganz schnell bin. Nur eine Minute. Die brauche ich.“

Er verzichtete darauf, die Sache zu diskutieren, sondern hob sie einfach wie ein Gepäckstück aus dem Wagen. Er registrierte, daß sie nicht allzu blaß war. Offenbar war sie widerstandsfähiger, als er gedacht hatte.

„Beeil dich, Christine“, sagte er und hielt sie noch einen Augenblick fest. Irgendwie war es immer nett, sie anzufassen.

„Ich beeile mich – sobald du mich losläßt, mon cher“, gab sie zurück und lächelte ihn schelmisch an. „Wenn du mit dem Anspannen hilfst, besorge ich etwas zu essen. Auch wenn es gar nicht anständig ist, während der Fahrt zu essen.“

Er nickte und schluckte die Antwort herunter, daß er die Belehrungen einer Hausangestellten gutes Benehmen betreffend beileibe nicht brauchte. Statt dessen half er dem Kutscher. Als sie fertig waren, drehte sich Udolf um und sah, daß seine hübsche Ehefrau mit einem kleinen Korb zurückgekommen war. Sie trat auf ihn zu, stellte sich auf Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Du solltest dich waschen. Du bist ganz staubig.“

„Beim nächsten Halt“, versprach er, beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen, doch sie drehte sich fort und bat ihn, ihr in den Wagen zu helfen.

Eine Minute später fuhren sie aus dem Posthof und nahmen ihre Hetzjagd nach Ischl wieder auf. Von Görenczy grübelte darüber nach, wie er die Nachricht am unauffälligsten zur Kaiserin expedieren sollte. Er hoffte, daß die Dame nicht schon abgereist war und er mit einem Diener würde reden müssen, der über die Dringlichkeit der Sache möglicherweise nicht informiert war.

Er mußte sich beeilen. Die Barriere der Berge, durch die sie fuhren, bedeutete, daß obgleich er schnell fuhr, sie noch nicht allzu weit gekommen waren. Bergstraßen wanden sich in engen Kurven durch die Alpen. Vielleicht gab es Abkürzungen, die die Einwohner kannten, Wege, die man reiten konnte, doch mit der Kutsche mußte er auf der Hauptstraße bleiben. Die Verfolger mochten ihm schon auf den Fersen sein.

Wieder haderte er damit, daß er nicht allein war, sondern Marie-Jeannette bei sich hatte. Wenn sie wirklich auf Opposition trafen, war die Kleine in ebenso großer Gefahr wie er. Obgleich er ihre Nützlichkeit bisher nicht in Frage stellen konnte, war er sich doch sicher, daß sie in einem Kampf eher eine Behinderung denn eine Hilfe wäre – selbst wenn sie ihre Röcke lüpfen würde, um an ihr Strumpfband zu kommen.

Er sinnierte über das Strumpfband, dann über das Bein darin, stellte sich vor, wie es stramm und rund, weich und zart darin steckte. Der Gedanke hakte sich in seinem Kopf fest.

Er zog am Zügel und brachte die Pferde zu Stehen. Dann sprang er vom Bock.

„Guter Mann, lenken Sie doch eine Weile. Dazu sind Sie schließlich mitgekommen. Aber Beeilung! Ich möchte nicht, daß die Post uns überholt. Ich werde mich kurz zu meiner Frau setzen und etwas essen.“

Und das Strumpfband überprüfen.

Er kletterte schmunzelnd in den Wagen und setzte sich Marie-Jeannette gegenüber, die ihm mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck der Welt einen Apfel anbot. Das Paradies war vielleicht nicht weit entfernt.

Die Droschke fuhr wieder an.

„Ich dachte, es wäre an der Zeit, deine Waffen zu überprüfen“, sagte er und zog an ihrem Rock.

Sie patschte ihm auf die Hand, griff in die Wagentasche.

„Das hatte ich mir gedacht“, sagte sie. „Deshalb habe ich es bereits hervorgeholt. Dies ist mein Messer. Gefällt es dir?“