Kapitel 28

Es war kurz vor Sonnenaufgang, als von Waydts Truppe ins Boot stieg und sich daran machte, über den Grundlsee zu rudern. Nebelschleier lagen auf dem Wasser, und das gegenüberliegende Ufer verschwand im Grau. Die Wolken hingen tief, die Gipfel der Berge waren nicht zu sehen. Feucht und kalt war die Luft, doch es ging kein Wind, und die Seeoberfläche wirkte wie ein Spiegel, glatt, so weit man sie sehen konnte.

Asko machte sich schon geraume Zeit Sorgen, doch seit dieser Nacht hatte seine Unruhe an Intensität drastisch hinzugewonnen. Die Unternehmung versank zusehends im Chaos, und er steckte mittendrin. Längst hätte er verschwinden sollen, am besten schon Wochen zuvor.

Doch sein Befehl war eindeutig. Er sollte ausspionieren, was er konnte, und die Informationen an Udolf weiterleiten, der sich in der Nähe aufhalten würde. Ansonsten sollte er warten, bis er neue Befehle erhielt. Nur war Udolf nicht gekommen, und es mußte einen Grund dafür geben. Von Orven bezweifelte, daß es ein guter Grund war.

Sie konnten ihn nicht erwischt haben. Die Zelle oder genauer gesagt, die kleine Höhle, die Hardenburgs Handwerker mit Gittern, einem guten Schloß und viel Kalteisen versehen hatten, war immer leer gewesen, zumindest seit er da war. Als er zu der Gruppe stieß, waren die Überreste der ersten Testkreatur bereits spurlos verschwunden gewesen. Vielleicht lösten Sí sich in Luft auf, wenn sie starben? Er wußte es nicht, und Marhanor hatte es nicht erklärt. Er erklärte kaum etwas.

Der Mann war ihm zuwider – wie alle Magier. Askos Abneigung gegen die ganze Profession und ihre unberechenbaren Kräfte war wohlfundiert. Ein Magier hatte Jahre zuvor fast Askos Familie zerstört. Das war schon eine Weile her, doch es hatte Askos Leben entscheidend beeinflußt. Er wäre ohne dieses Ereignis gar nicht hier. Er hatte nie vorgehabt, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, doch der Eingriff des Magiers hatte damals die Finanzen der Familie kurzfristig in solche Unordnung gebracht, daß er sein Studium der Physik und des Ingenieurwesens hatte aufgeben müssen, um etwas zu tun, um zum Erhalt der Familie beizutragen. So war er Offizier im Königlich-Bayerischen 1. Jägerbataillon „König“ geworden.

Mit einem Mal hatte man ihn als Spezialagenten eingesetzt. Wieder eine Karriere, die er sich keinesfalls selbst ausgesucht hatte. Er war ein ruhiger Mann und so gar nicht abenteuerlustig oder draufgängerisch. Er war pflichtbewußt und bescheiden – vielleicht war es ja gerade das, was ihn zu einem guten Agenten machte. Doch er liebte es, wenn Dinge ehrlich und rechtschaffen waren. Deshalb mochte er die arkanen Künste nicht, verabscheute Magie und die Sí. In seinem Konzept der perfekten Welt gab es weder die einen noch die anderen.

Seit er Arpad kennengelernt hatte, mochte er jedoch den Gedanken genauso wenig, daß man Fey als lebende Munition in einer Maschine verheizte, einer Maschine, deren Zerstörungskraft so unglaublich war wie ihre ganze Funktionsweise. Asko zog Menschen den Sí vor, weil sie sittliche Prinzipien hatten, moralische Werte, Regeln des Zusammenlebens. Nichts davon konnte man von den Fey erwarten. Man konnte sie nicht einschätzen. Niemand wußte, was sie wollten und nach welchen Gesetzen sie lebten, falls sie irgendwelche anerkannten.

Sein Sinn für Gut und Böse hatte jedoch einen schweren Schlag erlitten. Das Mädchen hatte den Feyon befreit, und er war zurückgekehrt, um ihr zu helfen. Manch ein Mensch in der gleichen Situation hätte die Beine in die Hand genommen und sich nicht mehr umgedreht. Doch der Feyon hatte es auf sich genommen, sie in Sicherheit zu bringen, obgleich sie ihn gefährdete. Seine derzeitigen Kollegen – wenn man die ruchlose Truppe des Kriegsministeriums so nennen konnte – hatten nicht nur ihre Inkompetenz hinreichend bewiesen, sondern auch noch gezeigt, wie verbrecherisch und rücksichtslos sie waren. Es schockierte ihn.

Man führte keinen Krieg gegen Frauen. Auf dieser Welt hatten die Männer das Sagen, und daher war es ihre Aufgabe, Frauen vor den unfreundlicheren Dingen im Leben zu beschützen. Daran hatte er immer geglaubt. Charlotte hatte man belogen, beleidigt, geschlagen und schließlich fast vergewaltigt. Was immer – und aus welchen Gründen auch immer – sie getan hatte, es gab niemandem das Recht, so gegen sie vorzugehen.

Er war froh, daß sie gehandelt hatte. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, wie er dem Grafen zur Flucht verhelfen konnte, ohne sich selbst verdächtig zu machen. Den Gedanken, ein Lebewesen maschinell seiner Lebensenergie zu berauben, fand er unerträglich. Dennoch ging es ihm weniger darum, seinen ehemaligen Kampfgefährten vor einem grausamen Schicksal zu bewahren, als den Fortschritt des Projektes aufzuhalten.

Viel Aufschub hatte er bisher nicht bewirken können, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er sich verdächtig machte, bedeutete das seinen Tod. Doch solange die Jagd auf Fey ergebnislos gewesen war, hatte es an der Maschine keine Weiterentwicklung gegeben.

Das durfte es auch nicht. Hardenburg war ein brillanter Mann, doch er experimentierte mit viel zu vielen unbekannten Faktoren, verließ sich zu sehr auf das unkalkulierbare Wissen des Meisters, den man ihm beigestellt hatte, und dieser hatte keinerlei moralische Skrupel, soweit Asko das beurteilen konnte. Ihm gefiel schlichtweg der Gedanke, Fey durch die Maschine zu heizen. An einer österreichischen Vormachtstellung konnte er kein Interesse haben – er war Ire. Er war aus einem anderen Grund dabei, und das war mit Sicherheit die Eliminierung der Fey. Asko mochte die Geschöpfe keineswegs, doch die Ausrottung einer ganzen Spezies zu planen erschien ihm nicht akzeptabel, und er glaubte nicht, daß Meister Marhanor weniger ambitioniert plante.

Der Mann wußte beängstigend viel über die Sí. Asko kannte nur eine Gruppe, deren Wissen über die Fey eine solche Dimension hatte, die Bruderschaft des Lichts.

Manchmal kam ihm ein unerträglicher Verdacht. Ein halbes Jahr zuvor war das Münchner Refugium dieses Ordens bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er hatte gesehen, wie das Gebäude in Schutt und Asche aufging. Es waren noch Menschen im Haus gewesen, einer davon ein Meister des Arkanen, und Marhanors Antlitz war von Brandnarben entstellt.

Doch das Feuer hätte er nicht überleben können. Oder? Asko wußte es nicht. Fragen konnte er ihn nicht. Seine Kenntnisse würden ihn als Spion entlarven. Der Magier vertraute ihm ohnehin nicht. Nur verdächtigte alle und jeden, und so hörte Hardenburg – der Asko offenbar mochte – nicht auf ihn.

Asko war mit den Jägern ausgezogen in der Hoffnung, außerhalb des Höhlensystems etwas über den Verbleib von Görenczys zu erfahren. Doch er hatte keinen Hinweis gefunden, und es hatte auch keine Gelegenheit gegeben, sich unbemerkt davonzuschleichen. Er hatte gesagt, er wollte mit jagen, also hatten sie ihn mitgenommen. Auf die Feyonjagd.

Verdammt und noch mal verdammt, alles war fürchterlich schiefgegangen, und es wurde immer schlimmer. Sich vorzustellen, daß Arpad mit der jungen Frau im Berg eingeschlossen war, war zutiefst beklemmend. Sie mochten beide tot sein, wäre das besser? Sie mochten verletzt, verschüttet und bewegungsunfähig sein. Das würde ihnen einen grausamen, langsamen Tod bescheren.

Sicher war er nicht, doch er glaubte, sie schreien gehört zu haben, als der Hang über dem Eingang niederprasselte. Das Tosen der Steine war zu laut gewesen, um genau zu hören, doch ihre Furcht, ihre Todesangst hatte ihn erreicht. Er sah ihre lebhaften braunen Augen vor sich, die ihn über den Eßtisch hinweg angeblickt hatten, als von Waydt seine geringschätzige Bemerkung über schachspielende Frauen machte. Die Augen hatten provokativ gefunkelt. Am liebsten hätte er sofort eine Partie gegen sie gespielt. Doch es würde kein gemütliches Schachspiel mit Charlotte von Sandling geben.

Er hoffte, daß sie überlebt hatte und war nicht sicher, ob das ein guter Wunsch war. Im Dunkel des Berges eingekerkert zu sein – ein furchtbarer Gedanke. Möglicherweise würde der Feyon ihr helfen. Ein halbes Jahr zuvor hatte der Mann bewiesen, wie gut er in der Dunkelheit sehen konnte, und bei Tagesanbruch die Vorhänge geschlossen. Selbst während der übereilten Hochzeitszeremonie Delacroix‘ und Corrisandes waren die Vorhänge zu geblieben.

Also mochte der Sí durchaus seinen Weg durch den finsteren Berg finden. Er war unglaublich schnell, stark und widerstandsfähig. Die Frage war nur, würde das Charlotte helfen? Der Bursche war gefährlich, und Asko verstand weder seine Motive noch kannte er seine Ziele. Getraut hatte er ihm nie.

Die Jäger waren sicher, daß der Sí überlebt hatte. Sie ruderten so schnell sie konnten über den See. Ihre Jagdpferde hatten sie wieder im Mietstall eingestellt. Kaum war es hell genug gewesen, waren sie ins Boot umgestiegen, um den langgestreckten See zu überqueren.

Im grauen, verhangenen Morgen hatte Asko sich zur Gaststätte am See umgedreht und ein Gesicht im Fenster erkannt. Corrisande. Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte er es gesehen. Als er seinen Blick genauer auf das Fenster gelenkt hatte, war dort niemand mehr gewesen. Er mußte sich geirrt haben. Sie konnte nicht hier sein, warum auch? Vielleicht hatte sein Geist ihm ihr Bild in den Schatten vorgegaukelt, weil er eben an die unschickliche Hochzeit zurückgedacht hatte, als Delacroix das Mädchen geheiratet hatte, dem Asko nur einen Tag zuvor das gleiche Ansinnen angetragen hatte.

Tatsächlich hatte er sie nicht mehr gewollt, und sie hatte ihn von seinem Wort entbunden. Trotzdem war es ein Schock gewesen, als er feststellte, daß in der Warteschlange noch ein weiterer Verehrer harrte.

Er war Corrisande nicht mehr böse und hoffte inständig, daß er sich getäuscht hatte, daß sie nicht in der Nähe war. Hardenburg würde keine Hemmungen haben, seine Erfindung auch an einem Menschen mit latentem Sí-Erbe auszuprobieren, und wenn Marhanor so mächtig war, wie Asko dachte, würde er ihre Gegenwart erspüren können, sobald sie nahe genug an ihr Versteck kam.

Doch was sollte sie hier? Dies war das schlichte Ende des Salzkammergutes. Wer auf sich hielt, ging nach Ischl oder Aussee. Grundlsee war nur ein Dörfchen, und dieses Gasthaus war nicht die Art Etablissement, in dem man eine Corrisande Fairchild erwarten würde, die Gattin des unverwüstlichen und wohlhabenden Colonel Fairchild und Schwiegertochter Sir Charles Fairchilds, des Inhabers einer Reederei.

Was für ein Glück, daß er sie nicht geehelicht hatte. Seine Familie wäre vor Scham gestorben, wenn ihre Abstammung nach der Hochzeit ans Licht gekommen wäre.

Seine Familie starb auch jetzt vor Scham. Um diesen Geheimauftrag ausführen zu können, hatte man seine Vorgesetzten gebeten, eine glaubhafte Hintergrundgeschichte zu konstruieren, eine gescheiterte Existenz, eine Liste von Lastern und Vergehen. Offiziell war er unehrenhaft entlassen worden. Man hatte ihm versichert, er würde nach dem Auftrag rehabilitiert werden, und er hatte keine Zweifel daran, daß man ihn für den erlittenen Schaden an Ehre und Ruf entsprechend entschädigen würde, so er lebend zurückkam. Falls er in Ausübung seiner Pflicht fiel, würde die Wahrheit über seinen Charakter freilich wohl nicht mehr ans Tageslicht kommen. Es war nicht zu erwarten, daß ihm posthum Rehabilitation zuteil werden würde.

Gewiß hatte er darauf bestanden, als die Bedingungen seines Einsatzes besprochen worden war, eines Einsatzes, der ihn außerhalb bayerischer Jurisdiktion und außerhalb eines erkennbaren Rechtsgefüges stellte. Er war Agent in einem fremden Land, und da die Krone keinesfalls zugeben würde, ihre Hände mit im Spiel gehabt zu haben, war es um so wichtiger, sich nicht erwischen zu lassen.

Als die Nachricht von seiner angeblichen Bestechlichkeit seine Familie erreichte, hatte sein Schwager, ein redlicher Mann und Königlich-Bayerischer Jurist, ihn nicht mehr empfangen. Seine Familie hatte ihn abgeschrieben. Das hatte ihn verletzt, doch er hatte es verstanden. Er konnte nur hoffen, daß es nicht zu spät war, seine Ehre und seine Karriere zu retten, wenn er endlich heimkehren konnte.

Wieder dachte er an den Moment, an dem er Corrisandes Gesicht im Fenster gesehen hatte. Ihr Mann war Geheimagent gewesen. Eine neue Geheimwaffe mochte einen britischen Agenten anlocken. Aber würde er mit seiner Gattin reisen?

Asko hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden. Selbst ein zweiter Blick zum Fenster konnte gefährlich werden. Von Waydt beobachtete ihn genau. Er fragte ihn denn auch gleich, was er erblickt hätte. Ein hübsches Mädchen, hatte er geantwortet. Es war keine Lüge.

„Ich wußte gar nicht, daß Sie so ein Liebhaber des schönen Geschlechts sind“, hatte der Jagdführer zynisch zurückgegeben. „Erst beäugen Sie die blaustrümpfige Charlotte beim Dinner, und jetzt suchen Sie Kammerzofen an Fenstern.“ Er hielt inne und suchte seinerseits die Fenster nach hübschen Mädchen ab. „Nun, das Projekt zwingt uns beinahe zum Zölibat, als wären wir alle Mönche. Sie wissen, daß es ein privates Etablissement in Aussee gibt? Eine Witwe mit ihren Töchtern. Wenn wir den Sí haben, können wir gemeinsam hingehen, und wenn Ihnen sogar Charlotte gefallen hat, dann mögen Sie ja vielleicht Weiber, die es nicht so genau nehmen. Die Mädchen in Aussee machen nicht für jeden dahergelaufenen Feyon die Beine breit. Sie treiben es lieber mit richtigen Männern.“

Asko grinste pflichtschuldig. Er war an den rauhen Männerhumor, der in der Gemeinschaft im Berg herrschte, gewöhnt. Er hörte den Herren zu, wenn sie über Weiber redeten und was man am besten mit ihnen machte. Er kommentierte es nur selten.

Wieder dachte er an Charlotte und den Feyon, dem sie in der Dunkelheit ausgeliefert war. Er erinnerte sich an ihre Panik, als sie nach dem Angriff zwischen ihm und Arpad gestanden hatte und wünschte, er hätte sie nicht mit dem verdammten Sí mitschicken müssen. Doch er hatte keine Wahl gehabt. Jetzt hatte er auch keine.

„Gedenken Sie noch zu rudern, oder beschränken Sie sich darauf, Löcher in den Nebel zu starren?“ herrschte von Waydt ihn an. „Oder würden Sie lieber schwimmen?“

„Verzeihen Sie meine Säumigkeit.“ Asko lächelte entschuldigend. Im eisigen Gletscherwasser zu schwimmen mochte einen so sicher umbringen wie ein Messer im Rücken.