Kapitel 54
Von Görenczy packte. Ganz ohne Gepäck zu reisen mochte allzu auffällig sein. Er hatte sich ein Schläfchen gegönnt, denn die Müdigkeit setzte ihm sehr zu. Lange hatte er nicht geschlafen, vielleicht nur ein, zwei Stunden, dann hatte er sich gezwungen, wieder aufzustehen. Es klopfte an der Tür.
„Herein“, rief er, die Tür wurde geöffnet und die energische Matrone, die ihn herumkommandiert hatte wie ein Feldmarschall, betrat sein Zimmer, im Schlepptau seine eben hinzugewonnene Ehefrau. Seine Augen schweiften unwillkürlich ab zu dem Traum in grüner Seide, und er merkte erst nach ein paar Sekunden, daß sein Mund offen hing.
Die tiefroten Locken der jungen Schönheit waren zu einer modischen Frisur aufgetürmt, ihr Gesicht strahlte vor Aufregung, ihre grünen Augen funkelten, und auf ihren entzückenden Lippen lag ein enthusiastisches Lächeln. Das Kleid mit den cremefarbenen Spitzenapplikationen sah aus, als wäre es speziell für sie angefertigt worden, und er grinste, wenn er daran dachte, daß dies Cérise auch aufgefallen sein dürfte. Vermutlich schäumte sie vor Wut. Das Mädchen trug ein kleines, elegantes Lederköfferchen, das es auf seinem Tisch abstellte.
„Bitte nehmen Sie Platz, Herr Leutnant“, befahl die Matrone. „Wir sind gekommen, um Ihr Aussehen zu verändern. Ich fürchte, Ihr langes Haar wird weichen müssen. Ihr Oberlippenbart auch.“
Udolf, der dem ersten Befehl Folge geleistet und sich gesetzt hatte, wäre beinahe wieder aufgesprungen, doch zwei kleine, bemerkenswert kräftige Hände drückten ihn an den Schultern nieder und hielten ihn auf dem Stuhl. Marie-Jeannette stand hinter ihm und hatte die Führung übernommen.
„Meine Damen, wirklich, ich sehe nicht ein ...“
Ein Kamm ging durch sein Haar, und ihm wurde klar, daß er noch nie von einer Frau gestriegelt worden war. Die Hände, die über seinen Kopf glitten, waren fast liebkosend in ihrer Sanftheit.
„Bitte entspannen Sie sich, mein lieber Gatte!“ säuselte die Besitzerin der zarten Hände, und schon hörte er das Schnippschnapp einer Schere. Ein beängstigend dicker Wust an Haaren fiel zu Boden.
„Hören Sie! Sie können doch nicht ...“
Wieder wurde er unterbrochen, diesmal von Frau Treynstern, die ihn streng ansah und sagte: „Sie brauchen unbedingt eine gute Tarnung. Auch eine Hintergrundgeschichte, etwas, an das Sie sich beide halten können, und einen Namen. Etwas, das Ihnen gleich einfällt, wenn man Sie fragt. Ein leichter Name. Wie wäre es mit Krieger? Das wäre doch passend. Marie-Jeannette hat mich informiert, daß sie für diese Reise gerne Lola heißen möchte, aber wenn man an die noch nicht so lange in der Vergangenheit liegenden Ereignisse in Ihrem eigenen Land denkt, ist dieser Name unpassend. Christine ist ein hübscher Name. Sie können sie Christine nennen.“
„Hören Sie. Ich weiß Ihre Sorge und Unterstützung wirklich zu schätzen, aber bitte seien Sie versichert, daß ich nicht zum ersten Mal auf einer geheimen Mission bin. Ich weiß ganz genau, was ...“
„Halten Sie still, mein Liebling“, schnurrte Marie-Jeannettes Stimme direkt hinter seinem Kopf, „sonst mache ich noch einen Fehler, und Sie haben eine Glatze. Ich will keinen Ehemann mit Glatze.“
„Mein liebes Mädchen ...“
„Lola“, berichtigte das Mädchen.
„Christine“, berichtigte Sophie.
„Wieso kann ich nicht Lola heißen!“ Das Schmollen war dem Ausruf anzuhören.
„Weil es nicht die Art Name ist, den anständige junge Damen tragen, mein Kind.“
„Aber er klingt viel romantischer!“
„Gut möglich. Aber denken Sie daran, daß dieser Name vor kurzem einen König sein Königreich gekostet hat.“
„Wirklich? Welchen?“
„Ludwig I., König von Bayern. Er mußte wegen der Angelegenheit abdanken, vor siebzehn Jahren.“ Leutnant von Görenczy merkte daß er sich in das Gespräch hatte ziehen lassen, anstatt weiter gegen die Behandlung zu protestieren, die ihm widerfuhr. „Aber das ist jetzt nebensächlich. Ich bin kein König, und ich will verdammt sein, wenn ich jemanden an meinen Schnurrbart ...“
„Bitte achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise, Herr Leutnant“, tadelte Frau Treynstern ein wenig steif, „ganz besonders in Gegenwart Ihrer jungen Gattin.“
„War sie schön?“ fragte Marie-Jeannette, während sie das Haar an seinen Schläfen mit einer scharf riechenden Flüssigkeit betupfte.
„Ja. Ich habe ihr Portrait in der Schönheitsgalerie gesehen. Wunderschön war sie, dunkle Haare, tiefblaue Augen. Doch was hat das damit zu tun ... was tun Sie da? Ich möchte, daß Sie sofort damit ...“
„Lebten sie glücklich bis ans Ende aller Tage?“
„Du lieber Himmel, nein. Was aus der Dame wurde, weiß ich nicht, aber unser Ex-Souverän lebt im selbstgewählten Exil in Südfrankreich.“
„Er hätte sie heiraten sollen. Das hätte er tun müssen!“ Marie-Jeannette schmierte ihm Rasierschaum ins Gesicht. „Nicht bewegen. Ich habe keine Übung darin, Herren zu rasieren.“
Sie hielt ihm das Rasiermesser direkt vor die Augen, und er fing ihr Handgelenk, bevor sie ihm damit ins Gesicht fuhr.
„Das tue ich lieber selbst, Mädchen!“
„Gut!“ lobte Frau Treynstern und sah ihm zu, wie er sich vor dem Rasierspiegel positionierte.
„Warum hat er sie nicht geehelicht?“ fragte Marie-Jeannette. „Wenn sie ihn doch sowieso schon das Königreich gekostet hat, dann hätte er sie doch wenigstens ehelichen können. Was für Sinn ergibt es, auf ein Reich zu verzichten und dann nicht die Liebe seines Lebens zu ehelichen?“
„Zum einen war er verheiratet, und zum anderen war sie ganz gewiß keine Frau zum Heiraten“, gab von Görenczy zurück und ging vorsichtig in seinem Gesicht zu Werke.
„Richtig“, nickte Frau Treynstern. „Sie müssen immer daran denken, daß es Frauen gibt, bei denen den Herren der Schöpfung der Gedanke an Ehe gar nicht erst kommt. Herren unterscheiden grundsätzlich zwischen den jungen Damen guter Abstammung, die sie vor den Altar führen und den anderen, bei denen ihnen dieser Gedanke abwegig erscheint. Das wissen Sie, nicht, Kind?“ Ihre Stimme klang allzu nachdrücklich, und Udolf wandte sich ärgerlich um, da er die Erläuterung auf sich bezog.
„Ich muß doch sehr bitten ...“
„Geben Sie mit dem Rasiermesser acht, von Görenczy!“
„Welchem Rasiermesser? Guter Gott! Jetzt sehen Sie sich an, wozu Sie mich mit dem Gerede gebracht haben. Ich wollte mir den Schnurrbart doch gar nicht abrasieren!“
„Das haben Sie auch nicht, mein Lieber“, gurrte das Mädchen. „Überm Mundwinkel stehen noch ein paar Borsten. Wenn Sie mir erlauben ...“
„Bestimmt nicht! Was haben Sie denn mit meinem Haar gemacht? Ich sehe ganz ergraut und alt aus!“
„Das wächst wieder heraus. Keine Sorge, und es ist auch nicht grau. Es ist eigentlich sehr hellblond. Ich war sicher, daß ich von diesem Wässerchen etwas in Mlle. Denglots Necessaire finden würde – und ich hatte Recht, Herr Leutnant!“ Sie klang ausnehmend zufrieden.
„Nennen Sie mich nicht Herr Leutnant!“
„Wie soll ich Sie denn nennen?“
„Was weiß ich? Martin vielleicht.“
„Sehr gut“, lobte Frau Treynstern. „Martin Krieger und Gattin. Das klingt unauffällig.“
„Es klingt häßlich“, jammerte Marie-Jeannette. „Wenn ich schon als seine Ehefrau reisen soll, dann will ich einen hübscheren Namen, und er sollte wenigstens ein ‚von‘ haben, oder ein ‚Graf‘? ‚Herzog‘? ‚Fürst‘?“
„Übertreiben Sie es nicht“, grinste Udolf, „meine süße Christine. Die mich geehelicht hat, obwohl ich kein Herzog bin. Wahre Liebe!“
„Ja“, gab Marie-Jeannette zurück, und aus ihrem Schmollen erwuchsen Grübchen, als sie schließlich kicherte. „Meine Eltern waren der Meinung, Sie wären nicht gut genug für mich. Aber ich habe mich durchgesetzt. Als man uns grausam auseinanderreißen wollte, fiel ich in tiefe Melancholie, und die Ärzte fürchteten um meinen Verstand. Also durfte ich zu guter Letzt doch den niederen Herrn Krieger heiraten, denn sie wollten mein junges Blut nicht an ihren Händen kleben haben.“
Sowohl Udolf als auch Frau Treynstern starrten das Mädchen bewundernd und überrascht an.
„Da soll mich doch gleich der Teu…“ murmelte Leutnant von Görenczy.
Marie-Jeannette fuhr erbarmungslos fort: „Jetzt allerdings finde ich heraus, daß sie wohl doch recht hatten, denn ich reise mit einem Ehemann, der nicht auf seine Redeweise achtet, ganz besonders in Gegenwart seiner jungen Gattin, und ich werde wohl wieder in tiefe Melancholie verfallen müssen und vermutlich an gebrochenem Herzen sterben. Übrigens, was ist aus Lola geworden?“
„Was?“ fragte Udolf irritiert.
„Sie ist in tiefe Melancholie verfallen und an gebrochenem Herzen gestorben“, erwiderte Sophie.
„Ist sie nicht!“ begehrte Marie-Jeannette auf.
„Doch“, bekräftigte die ältere Dame. „Sie emigrierte nach Amerika und starb vor wenigen Jahren in größter Mittellosigkeit. Von seinem Gesicht zu leben, glückt immer nur kurze Zeit, Kind. Auch gibt es nicht viele Monarchen, die die Freuden eines Königreichs für ein Abenteuer mit einer schönen Frau aufgeben, und glauben Sie mir, sie war ganz ungewöhnlich schön. Lola Montez war ihr Pseudonym. Sie hieß in Wirklichkeit Maria Dolores Gilbert und war die Tochter eines britischen Offiziers. Als ihre noble Eroberung abdanken mußte, verlor sie ihren frisch erworbenen Gräfinnentitel und mußte ins Exil.“
„Wie schlimm!“ sagte Marie-Jeannette, „und wie schrecklich unfair!“
„Das Leben ist nie fair zu Frauen, die außerhalb des Comme il faut leben, mein Kind. Ich rate Ihnen beiden, das im Gedächtnis zu behalten.“
Sie wandte sich Udolf zu, der sich aus keinem ermeßbaren Grund auf einmal etwas nervös und schuldig fühlte. Er war neugierig. Wer war diese Frau, die der Scheitelpunkt braver Anständigkeit zu sein schien und doch erstaunlich viel über die skandalöseste Tänzerin ihrer Epoche wußte? Sie war vielschichtiger, als er ergründen konnte, und er hätte gerne ein Sümmchen locker gemacht, um mehr über sie zu erfahren. Nur hatte er im Augenblick kein Sümmchen. In den letzten Wochen war ihm das Glück im Spiel nicht hold gewesen.
„Halten Sie sich ein wenig gebeugt, Leutnant, Sie stehen immer noch da wie ein Offizier.“ Die Matrone betrachtete ihn kritisch. „Gut. Sie sehen wirklich äußerst verändert aus. Reichen Sie Ihrer Ehefrau mal den Arm. So. Sehr fein. Ein herrliches Paar. Die Sonne geht gleich auf, Sie sollten los. Ich werde die Wirtsleute ablenken, während Sie sich ein Boot leihen. Gott segne Sie. Seien Sie vorsichtig, und bleiben Sie anständig!“
„Natürlich, gnädige Frau!“ versicherte Udolf, und der schöne Traum neben ihm knickste und schenkte ihm einen verliebten Blick.
„Wir verlassen uns darauf, daß Sie Hilfe bringen, Herr Grossauer oder Herr Krieger – oder wie auch immer. Das wissen Sie, hoffe ich?“
„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht. Doch ich bin nicht derjenige, der mein weiteres Vorgehen entscheidet. Das ist Ihnen klar, hoffe ich? Aber ich komme auf alle Fälle zurück und bringe Ihnen Marie-Jeannette wohlbehalten wieder.“
Die Kammerzofe strahlte vor Aufregung.
„Wir werden ein Abenteuer erleben!“ rief sie aus.
„Besser nicht“, gab Sophie zurück. „Ich werde dankbar und zufrieden sein, wenn Ihre Reise ganz und gar ohne Abenteuer auskommt.“