Kapitel 14

Die Zeit hatte sich verändert. Er hatte die Fähigkeit verloren, sie zu bemessen. Vielleicht war die Meßgrundlage anders geworden. Anders und völlig unverständlich. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon im Dunkeln lag. Viel zu lange. Tage waren keine Einheiten mehr, definierten sich nicht ohne Licht. Sie bedeuteten nichts. Gott hatte als erstes Tag und Nacht erschaffen. Das ergab Sinn, wenn man darüber nachdachte. Ohne die Erfindung des Tages hätte man am siebenten nicht ruhen können.

Diese Idee beunruhigte ihn, denn sie war weitaus blasphemischer, als er sein wollte. Was war nur geschehen, das ihn so despektierlich gemacht hatte? War er überhaupt je fromm gewesen?

Dunkel konnte er sich erinnern, religiösen Unterricht erhalten zu haben, die Grundlage seines Glaubens, dessen er sich kaum noch entsann. Drei Frauengesichter lächelten seinen Anstrengungen zu. Sie waren attraktiv, alle drei, jede auf ihre Art, jugendfrisch und rein, innig und fürsorglich, alt und weise.

Heilige? Dachte er an Heilige? Er war kein Papist. Heilige sagten ihm nichts. Er war das, was sein Vater auch mit Nachdruck war, ein eingefleischter ... irgendwas. Was, war ihm entfallen. Dabei hätte er sich gerne erinnert, war sich sicher, daß er – könnte er sich nur entsinnen – auch um göttlichen Beistand bitten konnte. So wie man das tat. So wie man ihn das gelehrt hatte.

Sie waren nicht gekommen. Sie hatten ihn mit seinem schwindenden Leben allein gelassen, und er wäre im Salz vergangen, hätte er nicht ein Leben entleihen können. Er hatte es gefunden. Sie hatten einander gefunden, waren eins. Zwillingsbrüder, wie Tag und Nacht, zu einer Einheit zusammengezwungen.

Er wußte nicht, was er da dachte. Unsinnige Gedankenfetzen jagten durch sein Hirn, spiegelten Bilder aus seiner Seele wider, die er nicht verstand, nicht zu ergründen vermochte. Er hatte keinen Verständnishorizont, sie zu begreifen.

Manchmal schien ein Teil seiner selbst zu verschwinden, sich in den Schatten seiner nur noch saumselig flackernden Seele zu verkriechen. Wie eine erlöschende Kerzenflamme war er, eine Lampe, die nur dazu gut war, die Schatten zu betonen anstatt Licht zu geben, und in jedem dieser Schatten lag ein Teil von ihm und wartete auf etwas, an das er sich doch nicht erinnern konnte, oder versteckte sich vor etwas Grauenhaftem, das genauso wenig zu fassen war. Nur daß es ihn nicht finden sollte, war sicher.

Wenn er die fremde Macht durch das Salz kriechen spürte, versuchte er, tot zu sein. Solange er tot war, war er in Sicherheit. Lebend würden sie ihn finden. Doch Salz lebte nicht. Es sah nur so aus, glitzerte im Dunkeln, leuchtete rot im Licht. Irgendwann einmal vor Äonen war er ein Meer gewesen. Das war lange her, so lange – und irgendwann einmal war er ein Junge gewesen. Das schien auch lange her zu sein, länger, als sein Gedächtnis reichte. Er war ein Gefäß für Sehnsüchte und unerwartete Einfälle gewesen, für Ideen und Eskapaden. Doch er war auch Teil des Berges. Seine Seele war Salz, sein Herz Kalk. Sein Leid tröpfelte stetig und unablässig durch den Fels, formte Stalaktiten über ihm und Stalagmiten unter ihm. Er war das Zentrum des Felsens.

Es hatte eine Zeit gegeben, da war er frei durch die Welt gereist, als sein Geist durch die Sternennächte flog, um die Seelen der Menschen zu finden, zu berühren und in ihnen zu malen. Eine Palette voller Träume, gewoben aus den wirren Bildern menschlicher Erinnerung und neu gerichtet.

Ein guter Weber war er. Er war Alb, und die Frauen und Männer in den Tälern respektierten ihn. Sie hatten ihn immer respektiert.

Dabei hatte ein Teil von ihm immer das Gefühl gehabt, niemand nähme ihn so richtig ernst. Sie hatten ihn immer für zu unreif gehalten, seine Pläne für wirr und seine Entscheidungen für undurchdacht. Vielleicht hatten die, die das gedacht hatten, ja Recht behalten. Vielleicht hätte er nicht diese nagende Schuld in sich gespürt, hätte er auf sie gehört.

Statt dessen hatte er ihnen Träume geschickt. Das konnte er noch. Es hatte diese Macht noch nicht ganz verloren. Doch er konnte nicht mehr alle Menschen erreichen, die über dem Salz lebten und deren Leben Teil des roten Steins war. Er war zu sehr tot. Jetzt erreichte er nur noch die, deren Herzen durch das stärkste menschliche Gefühl weit offen waren, die Liebe. Sie spannen ihr eigenes Netz aus Sorge um und für die, die sie liebten. Durch dieses Netz schickte er, woran er sich erinnerte.

Er war den Männern gefolgt. Er hatte den Eingang zur Höhle gefunden. Er war die unterirdischen Tunnel entlanggelaufen, die sich immer weiter in den Berg erstreckten, immer tiefer.

Er hatte den Fremden gespürt, wie dieser immer näher kam. Dessen jugendliche Erregung strahlte durch den Stein und nährte ihn, den Heißhungrigen. Komm, hilf mir, hatte er ihm gesagt, obgleich er wußte, daß das nicht in seiner Macht lag. Er war nur ein Mensch, ein Sterblicher. Ein Atemzug, ein Flügelschlag der Zeit, und er würde zu Staub zerfallen. Jetzt schon war er nur Erde, unterwegs zum Grab.

Sie hatten ihn gehetzt. Er war davongelaufen. Doch man konnte nicht im Finsteren durch die Höhlen rennen. Der Boden war uneben, rutschig und holprig, und Berge türmten sich nicht nur über einem auf. Sie reichten auch tief in die Eingeweide der Erde.

Erde zu Erde, Staub zu Staub. Er fühlte, wie seine zweite Wesenheit fiel, während er selbst durch den Stein sank. Getroffen hatten sie einander und sich aneinander geklammert in dem einen Bestreben, gemeinsam zu überleben. Jeder hielt des anderen Leben fest, und so wurden sie eins.

Jetzt lag er hier und konnte sich nicht erinnern, wer er war und warum und was er ehedem gewesen sein mochte, falls er überhaupt etwas gewesen war. Da war er sich nicht sicher. Vielleicht war er eben erst wiedergeboren worden, war neu, unschuldig und unwissend. Das hätte die Situation vielleicht erklärt.

Sterbliche hingen mit jeder Faser ihres Seins an ihrem Leben. Es war erstaunlich. Doch sie lebten nur für Momente. Kurze, flüchtige Augenblicke. Wie Eintagsfliegen im Sommerwind tanzten sie und waren am nächsten Tag schon tot, und die zerbrochene Hülle, die ihn aufgenommen hatte und die er jetzt war würde allzu bald den gleichen Weg beschreiten, zu seinem Gott gehen, oder das Schicksal erfüllen, das seine Religion ihm vorgab.

Gebirge waren nicht zeitlos. Wasser schon, und doch war es nicht einmal von einem Augenblick zum nächsten das Gleiche. Er hörte sein ewiges Tropfen und Fließen und Brausen. Tief drunten im Dunkel, so weit vom Himmel entfernt, daß dieser nur noch ein Mythos war, im Schwarz des Gebirges wußte er, wann es regnete. Denn das Wasser durchbrach das Gestein, sank durch die Ritzen und klingelte in kristallenen Tropfen immer weiter nach unten, und plötzlich brachen Kaskaden von Wasser durch den Kalkstein, brüllten ihre Macht durch Erde und Himmel und wieder Erde, ungehört.

Mit dem Wasser sprach er nie. Es besaß eine eigene Logik, eigene Ziele, Vorlieben und eigenen Kreaturen, die darin reisten, die Wasser waren, die im Strom flossen, herausschossen und sangen. Sie lebten so flüchtig, daß sie zwischen zwei fallenden Tropfen ein Heim finden konnten, während sie noch durch den Karst rasten.

Sie waren ihm Brüder, und doch würden sie ihm nicht helfen. Er sehnte sich nach ihnen, nach dem Gefühl, Wasser anzufassen. Ein Glas Wasser – was hätte er dafür gegeben!

Was denn? Er konnte die Frage nicht beantworten. Etwas Wichtiges. Trinken. Nur ein Glas Wasser. Er würde nicht verdursten, denn übermütige Tropfen fielen und tauchten vereinzelt in seinen Mund. Manchmal konnte er sie dabei glucksen hören.

Er wollte doch nur nach Hause zurück und eine guter … irgendwas … sein.