Kapitel 61
Treppen hatten McMullen und Delacroix wahrlich nicht erwartet. Gleichwohl waren sie dankbar dafür. Treppen steigen war einfacher als Felswände erklimmen, ganz besonders, wenn man es mehr als nur ein wenig eilig hatte. Doch nachdem sie, wie es schien, einige hundert Stufen in maßloser Hast erklommen hatten, sank McMullen zu Boden. Sein Atem ging in schmerzhaft Stößen. Er saß auf einer Stufe, blickte nach unten und hielt sich die Seite.
„... auch nicht mehr ... so jung wie ...“, keuchte er, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Delacroix’ Linke lag auf der Schulter seines Freundes, während die Rechte sein Messer umklammert hielt.
„Ganz ruhig!“ mahnte der Hüne und stieg vorsichtig drei Stufen tiefer.
„Ganz ... ruhig ...?“ wiederholte der Meister im mißlungenen Versuch, spöttisch zu klingen.
„Ich gehe nachsehen“, sagte Delacroix. Auch er war fertig und außer Atem, doch bei weitem nicht so wie der ältere Mann. Die Panik hatte ihm Flügel verliehen.
Er hatte begonnen, die Fragen des Meisters bezüglich des Zusammentreffens mit seinem inneren Gegenspieler zu beantworten, der Bestie, der er beim Sturz ins Auge gesehen hatte. Magische Rückstände hatte McMullen das Bild genannt. Plötzlich bebte der Berg, und der Boden der kleinen Höhle begann zu glühen. Es war ein kalter Schein, der den Fels unter ihnen rasch durchsichtig werden ließ. Die beiden Männer krallten sich irritiert am Grund fest, in der Erwartung, er verschwände bald vollkommen und würde sie erneut in die Tiefe reißen.
Sie sahen hinab, tiefer und tiefer, durch Gestein, das wie Kristall, dann wie Glas, schließlich wie Wasser wirkte. Dann, mit einem Mal, blickte aus der Tiefe unter ihnen etwas zurück.
Als gelbe Augen auf die Delacroix’ trafen, sprang der Ex-Offizier mit einem heiseren Brüllen auf, zerrte seinen Gefährten hoch, schleppte ihn zum Ausgang der Höhle, während er seine Füße scheinbar auf Nichts setzte. Sie traten in einen Tunnel, fanden eine in den Stein gehauene Wendeltreppe.
„Rennen Sie!“ befahl Delacroix und schob McMullen vor sich, um ihn vor Angriffen von hinten zu schützen. Ehe sie losrannten, warfen sie einen einzigen Blick zurück und sahen, wie ein glühendes Wolfsgesicht mit funkelnden Augen durch den Stein nach oben schwebte und Sekunde um Sekunde näher kam.
Danach hatten sie nicht länger gezögert, sondern waren die Treppe hochgestürmt, die sich unerklärlicherweise in diesem Berg befand. Zu diesem Zeitpunkt war es ihnen egal, woher die Treppe stammte, sie akzeptierten sie als gegeben und nutzten sie zur Flucht.
Nach ein paar Augenblicken hatten sie gespürt, wie etwas hinter ihnen den Fels verließ. Beide hatten sie eine Ankunft gefühlt, der Magier durch seine erhöhte arkane Sensibilität, der Ex-Soldat durch den flammenden Haß, der als Antwort auf ein verwandtes Rufen in ihm brannte.
Keine Sekunde hatten sie angehalten, waren nur weiter emporgestiegen, die rätselhafte Wendeltreppe nach oben. Manchmal hörten sie eine Art Dröhnen hinter sich, konnten jedoch die Distanz nicht ausmachen. Eventuell war es noch weit weg. Vielleicht aber auch nur um die Ecke. Nicht, daß es hier Ecken gab. Die Treppe war rund, und die Stufen verschwanden hinter ihnen und vor ihnen aus dem Blickfeld. Das fremdartige Licht, das die Höhle erhellt hatte, beschien auch ihren Weg und hielt mit ihnen Schritt. Warum das so war, wußten sie nicht, nahmen es fraglos hin.
Der keuchende Magier wies auf Delacroix‘ Messer und versuchte, etwas zu sagen. Allerdings fehlte ihm der Atem, und seine Hand sank wieder herab und krallte sich in die Stufe.
„Ich weiß“, nickte Delacroix. „Damit kann ich es nicht bekämpfen. Das Messer ist nicht aus Kalteisen. Trotzdem gut, daß wir es haben. Wer weiß, wofür wir es brauchen.“
McMullen starrte ihn an.
„... hätten mir mehr erzählen ...“ stieß er hervor, und Delacroix nickte. Sein Schweigen über die ganze Sache hieß, daß der Magier nun nicht wußte, was genau sie da jagte. Er wußte es jedoch selbst auch nicht, und das obgleich er eben diesem Wesen damals als Opfer dargeboten worden war. Doch er war dankbar dafür, gerettet worden zu sein.
Er hätte seinem Kameraden mehr sagen müssen. Vielleicht wären sie dann jetzt der Gefahr nicht so schutzlos ausgeliefert.
Was es bedeutete, wenn die dunkle Wesenheit ihn wieder übernahm, wußte er nicht. Der Tod mochte nicht das Schlimmste sein.
Er stieg eine Stufe hinab. Dann noch eine. Verfluchte Wendeltreppe. Man konnte immer nur einen Halbkreis sehen, ein Viertel nach unten, ein Viertel nach oben. Es kostete ihn immense Überwindung, noch einen und noch einen Schritt weiterzugehen. Jeder Schritt mochte ihn von Angesicht zu Angesicht mit dem Bösen bringen. All seine Kraft und seine Fähigkeiten würden ihm dann nicht helfen.
Zähneknirschend drehte er den Dolch in seiner Hand um, hielt die Klinge gegen sich selbst gerichtet. Es sollte ihn nicht bekommen. Das würde er nicht zulassen. Seine Verbitterung brannte wie ein Leuchtfeuer in ihm, und er vernahm das vertraute Echo des Brüllens und Fauchens in sich selbst. Er kämpfte gegen seinen wachsenden Zorn an, versuchte, sich auf etwas Schönes, Gutes zu konzentrieren.
Corrisande. Ihr Lächeln leuchtete in seinen Gedanken. Im nächsten Moment hörte er sie wieder um Hilfe betteln und schreien, und seine Wut erreichte eine neue Intensität. Instinktiv wußte er, daß er seinen schwarzen Gefühlen Einhalt gebieten mußte, bevor sie ihn übermannten.
Er würgte Ärger und Angst wie bittere Galle hinunter. Noch eine Stufe.
Jetzt sah er es.
Die Treppe, die sie hochgelaufen waren, endete in einer Felswand, als hätte sie nie existiert. Scharfkantiger Stein blockierte den Weg. Irgend etwas, irgend jemand hatte den Zugang für Verfolger versperrt. Doch die Blockade war nicht so fest, wie sie sein sollte. Während er sie musterte, bewegte sich die Wand eine Stufe nach oben. Von der anderen Seite hörte er Kratzgeräusche, die in seiner eigenen frustrierten Wut einen Widerhall fanden.
Er atmete vorsichtig aus.
„Danke!“ sagte er zu niemand Bestimmtem. „Danke für die Chance.“
Du hast eine Aufgabe, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Es war eine Frauenstimme, weder jung noch alt.
„Ich werde mein Bestes tun“, brummte er, drehte sich um und stieg wieder hoch zu McMullen, der immer noch hochrot im Gesicht war und nur fragend eine Braue hob.
„Die Treppe endet in einer Felswand. Gleich dahinter ist es. Ich spüre es. Die Wand folgt uns die Treppe empor. Jemand schützt uns, damit wir eine Aufgabe erfüllen. Welche auch immer.“
„Die Maschine zerstören?“ schlug McMullen vor.
„Möglich. Doch im Moment kommen wir nicht an sie heran. Kommen Sie. Wir müssen wieder los. Ich kann Sie eine Weile tragen, wenn Sie nicht weiter können.“
McMullen schüttelte den Kopf und streckte die Hände aus. Er ließ sich hochziehen und stand leicht schwankend da. Vorsichtig drehte er sich um und begann wieder hochzusteigen. Rennen stand außer Frage. Doch auch Treppensteigen war anstrengend. Ihre Muskeln brannten vor Überbelastung. Ihr Keuchen war das einzige, das man in der nächsten Zeit hörte.
„Also, was wissen Sie über den Kerl?“ fragte der Magier nach einiger Zeit, schaffte es gerade, die Worte zwischen seinen stoßweisen Atemzügen hervorzupressen.
„Sie wissen, daß mich diese gottverdammte Sekte als Kind einem Götzen opfern wollte. Das ist er.“
McMullen nickte, sparte sich den Atem.
„Name?“ fragte er nur.
„Weiß nicht. Angeblich etwas aus Karthago. Mehr habe ich nie erfahren. Ich habe die Namen ihrer Götter nachgelesen, Baal, Tanit, Eshmoun und Melqart. Vielleicht einer von denen – vorausgesetzt, die Bruderschaft hatte mit ihrer Vermutung überhaupt recht. Vorausgesetzt, sie haben mir je die Wahrheit gesagt. Sie wissen, wie sie sind: eiskalte Opportunisten und Lügner, die Gott als Berechtigung für ihre Brutalität ansehen. Wenn man darüber nachdenkt, will man vom Glauben abfallen.“
„... falsche Zeit ... dafür ...“, keuchte McMullen, und Delacroix grinste bitter.
Sie eilten weiter. Nach weiteren endlosen Minuten taumelte McMullen, und Delacroix fing ihn. Er steckte sein Messer weg und wuchtete den Freund auf seine Schulter.
„Wenn wir das hier überleben, machen Sie eine Diät!“ grollte er.
Dann sprach er nicht mehr, konzentrierte sich aufs Steigen und Atmen. Aufwärts ging es, immer weiter, immer im Kreis die Wendeltreppe hoch, die nicht aussah, als nähme sie je ein Ende. Vielleicht hatte sie keins. Vielleicht war sie nicht Teil der Rettung, sondern der Qual. Vielleicht mußte er einfach nur aufgeben. Vielleicht war es seine eigene wütende Sturheit, die den Feind hinter ihnen herlockte.
Seine Kniesehnen klagten bei jedem Schritt über die zusätzliche Belastung. Fast konnte er die Muskeln in seinen Beinen knirschen hören. Schmerz durchdrang ihn und flüsterte, er brauche eine Pause, nur eine kleine Pause.
Er stieg weiter.
Seine Knie gaben ohne Vorwarnung nach, und es gelang ihm gerade noch, ihren Sturz abzufangen. Zwei zitternde Sekunden später saßen sie beide wieder auf der Treppe und sahen nach unten. Die Wand wuchs in ihr Blickfeld.
Das war’s, dachte Delacroix. Doch er hatte nicht genug Ausdauer, seinen Gedanken auszusprechen. Er sah nur seinen Gefährten an, dessen Braue sich beredt hob.
Einige Momente lang rangen sie nur nach Atem. Delacroix nahm sein Messer wieder zur Hand und richtete es sorgsam gegen sich selbst. Seine Aufgabe hatte er verstanden. Das mußte es sein. Nur das konnte die Frauenstimme gemeint haben.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, starrte die Wand an, die langsam die nächste Stufe erklomm. Das Kratzen war eindeutig zu vernehmen. Es ätzte sich in seine Seele wie Fingernägel, die über eine Tafel kreischten. Der Klang hinterließ Narben im Fleisch seines Herzens. Er spürte sie und fühlte, wie es empört seinen Hals emporschlug.
„Es war mir eine Ehre, an Ihrer Seite zu kämpfen“, sagte er mit frostiger Ruhe. Er sah seinen Freund nicht an. „Wenn Sie es hier herausschaffen, bitte ich Sie, Corrisande zu meinem Vater zu bringen. Sagen Sie ihr …“
Er verstummte, konzentrierte sich auf die Messerklinge in seiner Hand und die Pflicht, sie zu führen. Er hatte immer seine Pflicht erfüllt. Das würde er auch diesmal tun. Mehr war es nicht. Schnell töten hatte er immer gekonnt.
McMullens Hand glitt über seine, hielt sie fest. Die Hand war kalt und klamm vor Schweiß.
„Nein!“ befahl er. „Nein. Vollenden Sie nicht das Opfer. Das Ergebnis mag das gleiche sein, aber es ist ihre Pflicht, dagegen anzukämpfen. Sie müssen sich wehren!“
Wie bekämpfte man einen fremden Gott?
Delacroix sah ihn zweifelnd an.
„Sicher?“ fragte er.
„Nein“, war die Antwort. „Nicht sicher. Doch es ergibt mehr Sinn.“
„Aber ich …“
„Ich weiß. Sie hassen es zu verlieren. Sie würden lieber dem Ding die Chancen auf einen Sieg stehlen, indem Sie sich entziehen. Doch es ist keine Schande, gegen einen Götzen zu verlieren – oder was immer es ist. Auch ist mir Ihre Ehre im Augenblick ziemlich gleichgültig, genauso Ihr Ruf als tapferer Kämpfer. Was mich interessiert, ist unser Überleben.“
Delacroix starrte ihn verdrießlich an, fühlte die Wut in sich lodern. Er atmete tief ein.
„Vielleicht. Vermutlich haben Sie recht“, brummte er schließlich heiser.
Sie rappelten sich mühsam auf, als die Wand wiederum näher rückte. Diesmal stiegen sie rückwärts die Treppe hoch, hörten nicht auf, das Nahen des Feindes zu beobachten. Das Kratzen war inzwischen sehr nah. Vor seinem geistigen Auge sah Delacroix die rasiermesserscharfen Krallen, die sich in den Wall hackten, der die einzige Barriere zwischen dem Wesen und seinem angestrebten Ziel war. Es wollte ihn. Er wußte nicht wofür und fragte auch nicht McMullen. Es vorher zu wissen machte keinen Unterschied. Er würde es früh genug erleben.
Noch ein Schritt. Rennen konnten sie nicht mehr. Sie wußten nicht wohin, wußten nicht, wann oder wo die Treppe enden würde.
„Es spürt Sie, da bin ich mir sicher. Es spürt Sie durch die Verbindung, die es zu Ihnen hat“, sagte McMullen. „Zu Ihrer Wut. Fühlen Sie es auch?“
Delacroix nickte nur, biß die Zähne vor Konzentration aufeinander.
„Ich weiß nicht, ob es helfen wird, aber vielleicht können wir es ein wenig betrügen. Sehen sie in meine Augen!“
„Ich lasse mich verdammt noch mal nicht mesmerisieren!“ knurrte der Hüne und blickte bewußt von seinem Gefährten fort.
„Sie haben die Wahl. Es ist – tatsächlich – Ihre Wahl.“
„Meine Wahl?“
„Ich sollte Ihnen keine Wahl zugestehen. Doch ich denke, es ist wichtig, daß Sie es freiwillig tun. Öffnen Sie Ihr Herz. Um unser beider Leben willen, seien Sie nachgiebig und sanftmütig. Nur dieses eine Mal. Ich weiß, das erfordert Mut.“
Delacroix starrte McMullen an. Sie stiegen eine Stufe weiter, dann hielten sie inne.
Jetzt wandte er sich direkt dem Magier zu, blickte in dessen Augen. Der ältere Mann fing seinen Blick und hielt ihn fest. Er streckte seine Hand aus, setzte sie flach auf Delacroix‘ Brust genau über dessen Herz.
„Denken Sie an Ihre Liebe!“
Delacroix focht gegen die plötzliche Invasion seines Selbst. Er wollte nicht die Kontrolle über seinen Willen verlieren. Auch wollte er nicht an Corrisande denken. Es schien ihm, als verrate er sie, wenn er jetzt an sie dachte.
„Nicht wehren! Denken Sie an ihr Lächeln. Konzentrieren Sie sich. Vertrauen Sie mir!“
Da war es, Corrisandes Lächeln, direkt aus seinem Gedächtnis gezogen. Es strahlte ihn an, ihre himmelblauen Augen funkelten, umrandet von ihren langen Wimpern wie von Blütenblättern. Dann änderten sich die Augen. Er kniete neben ihr, wie vor einem halben Jahr, hob den Dolch an ihr Herz und stach zu, spießte ihren zarten Körper auf. Diesmal hielt ihn niemand auf, und er schrie vor wütendem Entsetzen.
Sein Herz hämmerte der Hand seines Freundes entgegen.
„Sie müssen sich zusammenreißen. Es versucht bereits, Sie zu beherrschen. Denken Sie an etwas Romantisches. Herrgott noch mal! Sie haben eine schöne, junge Frau. Sie müssen doch irgend etwas Romantisches erlebt haben!“
Er kämpfte sich von der falschen Erinnerung frei, die damals fast Wahrheit geworden wäre. Romantik. Wie konnte er an Romantik denken, wenn nur ein paar Schritte entfernt ein Monster auf ihm lauerte, das ein Heim in ihm hatte, ein möbliertes Zimmer in seiner Seele, von dem aus es seine Wut in Raserei umschlagen ließ?
Er versuchte sich zu erinnern. Romantik, nicht Leidenschaft. Leidenschaft wäre einfacher in seinen Gedanken wachzurufen, doch Leidenschaft war gefährlich. Er wollte nicht, daß die Liebe, die sie einander gegeben hatten, in seinem eigenen Gemüt in einen brutalen Angriff umgeformt wurde. Das wäre zu simpel. Er mußte sich etwas anderes ausdenken.
Er dachte an ihr Wiedersehen. Als sie im Frühjahr frisch vermählt nach England zurückgereist waren, war ihre Reise eilig und gehetzt gewesen. Nachdem sie einen gefährlichen Kampf überlebt hatten, war es seine erste Priorität gewesen, das gerettete Artefakt in Sicherheit zu bringen. Sechs Menschen, die durch Europa reisten und dabei versuchten, schneller zu sein als irgendwelche Verfolger, boten keine ideale Ausgangssituation für Romantik. Sie hatten nirgends lange verweilt. Es hatte keine Zeit für Intimitäten mit seiner frischgebackenen Gattin gegeben. Sie hätte ihr neues Heim als Jungfrau erreicht, hätte sie sich ihm nicht schon einmal vor der Heirat hingegeben.
In Dover angekommen hatte er ihr eine Kutsche gemietet und sie mitsamt ihrer Zofe nach London verfrachtet mit nichts als einer spärlichen Notiz an seinen Vater. „Das ist meine Frau“, stand darin. „Ich weiß, das kommt unerwartet, und du wirst es kaum gutheißen, doch sie ist meine Liebe und mein Leben. Ich muß noch etwas zu Ende bringen. Sei gut zu ihr.‘ Ein paar Worte der Erklärung noch, und schon war Corrisande unterwegs zu seinem Stiefvater. Gemocht hatte sie das nicht, und die Situation mußte peinlich genug gewesen sein. Eine junge Dame in einer Mietkutsche nur mit Zofe und spärlichem Gepäck kam eines Vormittags ins Haus eines völlig Fremden und erklärte ihm, daß sie irgendwo in Europa dessen Sohn geehelicht hatte und nun hierher beordert worden war, um auf ihn zu warten. Keine andere Frau hätte das mitgemacht.
Er hatte zwei Tage gebraucht, um seinen Auftrag abzuschließen. Erst am Abend des dritten hatte er das Haus am Belgrave Square erreicht, zu spät fürs Abendessen. Hut und Handschuhe hatte er dem Butler zugeworfen, seinen Mantel dem Hausdiener, hatte Befehle bezüglich seines Gepäcks gegeben, während er noch den Korridor durchmaß.
Schon von dort hatte er die Harfe gehört. Sie hatte der Gemahlin seines Stiefvaters gehört.
Er hatte den Salon ganz leise betreten und die häusliche Szene genossen, die sich ihm bot. Sir Charles hatte in seinem Stuhl beim Feuer gesessen und gebannt zugehört. Seine strengen Gesichtszüge hatten ungewohnt weich gewirkt, und ein träumerisches Lächeln, das Delacroix in seiner ganzen Jugend nicht gesehen hatte, hatte auf seinen Zügen gelegen. Corrisande hatte an der Harfe gesessen, seine Liebste, seine Frau, seine kleine Nixe. Sie hatte aufgehört zu spielen, als er eintrat, und ihr Gesicht war in vollkommener Freude erstrahlt. Ihr Blick war so voller sehnsüchtiger Leidenschaft gewesen, daß sein Körper darauf reagierte.
Ganz vorsichtig hatte sie Harfe von sich fortgeschoben, und dann war sie gerannt, auf ihn zu geflogen in einer blauen Wolke von Seide und Spitze, mit wippenden Locken und strahlenden Augen. Er hatte sie geküßt, als wollte er sie nie mehr loslassen, hatte ganz vergessen, daß sie nicht allein waren.
Delacroix konzentrierte sich auf den Moment, da Corrisande von der Harfe zu ihm blickte. Er hielt sich an diesem Bild fest, kostete jedes Detail der Erinnerung aus: Ihre kleinen Hände, die die Saiten losließen. Ihre Augen, die seine suchten. Ihr schöner Mund, der jäh lächelte, erstrahlte wie Sonnenschein. Ihre zarten Füße, die er gerade ausmachen konnte, während sie auf ihn zu rannte.
Das tobende Haßgefühl in ihm flaute etwas ab. Noch immer spürte er sein Herz der Hand McMullens entgegenschlagen. Er fragte sich, wieviel von seinen Gedanken und Gefühlen der Magier lesen konnte. Er begriff, daß der andere ihm beim Konzentrieren half. Ihre Blicke waren miteinander verschmolzen.
„Halten Sie an diesem Gedanken fest“, sagte McMullen. „Ganz fest. Ja, so ist es gut. Die Wand hat sich nicht mehr bewegt. Nein. Sehen Sie nicht hin. Ich halte Ihren Blick. Ich will nicht, daß Sie irgendwo anders hinsehen.“
Wieder malte er sich die gleiche Szene aus. Sie flog auf ihn zu, viel zu schnell für ein achtbares Mädchen, viel zu stürmisch für eine brave Ehefrau und Dame der Gesellschaft. Freude spiegelte sich in ihrem Gesicht und mehr als das. Ein Versprechen von viel, viel mehr. Sie hatte es noch in der gleichen Nacht gehalten.
Delacroix’ Erinnerung wanderte zu der Nacht nach jenem Abend. Er hatte Corrisande schon einmal geliebt, doch war dies die wahre Hochzeitsnacht gewesen.
Eine zweite Hand berührte Delacroix’ Herz, genau neben der ersten, und er brauchte ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, daß die linke Hand des Meisters seinen rechten Arm umklammerte.
Was immer ihn berührte, gehörte nicht zu McMullen.