Kapitel 21
Plötzlich standen die drei Männer in einem Lichtkreis. Wie aus dem Nichts leuchtete ein Lichtschein um sie auf, machte sie zu gut sichtbaren Zielscheiben, während sie selbst nicht feststellen konnten, wer gesprochen hatte.
Drei Paar Hände hoben sich. Delacroix flüsterte einen Fluch. Dann sank McMullen zu Boden. Ein Schuß war nicht zu hören gewesen. Niemand war zu sehen.
Magie. Verdammte Magie.
Der Lichtkegel durchmaß etwa drei Meter. Delacroix stand bewegungslos. Nur seine Augen huschten hin und her. Außerhalb des Lichtkreises, in dem sie standen, konnte er nichts erkennen.
Udolf stand starr, die Zähne zusammengebissen. Gefangen, ehe er ein Abendbrot gehabt hatte, und die Aussicht auf eine weiche, warme Bettstatt war ebenfalls dahin. Ein unausgesprochener Fluch lag in seinem Blick.
„Wer sind Sie?“ fragte eine Stimme auf Deutsch. Der Brite konnte dem Klang eine Richtung zuweisen, doch er würde nicht genug Zeit haben, eine Waffe zu ziehen und zu schießen oder ein Messer zu werfen. Er gab ein zu gutes Ziel ab. Sie waren erstklassige Zielscheiben.
Er hätte sich treten können. Von Anfang an hatte er diese Affäre unterschätzt. So etwas hätte ihm nicht passieren dürfen. Er war Spezialist oder doch zumindest lange einer gewesen, und nun war er blindlings erst in eine Falle getappt und ließ sich jetzt einfangen wie verlorenes Vieh.
Er fragte sich, was mit McMullen war. Der Mann lag bäuchlings auf dem Boden, ohne sich zu regen, und was von Görenczy anging, so war er nach seiner Gefangenschaft vermutlich zu erschöpft, um in einem Nahkampf glänzen zu können.
„Mein Name ist Fairchild“, sagte er. „Wir sind auf der Suche nach einem jungen Angehörigen, der im Gebirge vermißt wird. Vielleicht wissen Sie etwas über ihn? Er ist etwa siebzehn, klein und hat blondes Haar.“
„Suchen Sie immer mitten in der Nacht verschwundene Angehörige?“ Eine neue Stimme. Sie sprach Englisch, und ein irischer Akzent machte sich bemerkbar. Iren waren seit der Kartoffelfäule über die ganze Welt verstreut. Also warum nicht in den österreichischen Alpen? Wahrscheinlich gingen sie hier wie überall ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, rotteten sich zu Banden zusammen und taten etwas Verbotenes.
Die Frage beantwortete er nicht. Zwecklos.
„Bitte, meine Herren“, sagte er statt dessen freundlich, „wir sind nicht an Ihnen interessiert. Wir versuchen lediglich, den Jungen zu finden. Es wird besser für uns alle sein, wenn wir jetzt ins Boot steigen und fortrudern. Wir haben nicht vor, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten.“
Jemand lachte. Nicht der Mann, mit dem er gesprochen hatte. Der Klang kam aus einer anderen Richtung.
„Also haben Sie einen Jungen gesucht und einen ausgewachsenen Mann gefunden, und da haben Sie sich gedacht, der eine ist so gut wie der andere, und sich auf den Heimweg gemacht? Alles mitten in der Nacht?“
Delacroix würdigte auch das keiner Antwort. Es war keine Frage gewesen, nur Sarkasmus.
„Sir“, sagte er, „mein Reisegefährte ist gefallen. Ich werde mich zu ihm hinunterbeugen und nach ihm sehen, wenn es Ihnen recht ist. Er ist nicht mehr der Jüngste.“
„Wir sind alle keine Kinder mehr, Mr. Fairchild, und Sie werden sich nicht rühren, oder meine Begleiter werden Ihnen eine Kugel verpassen. Sie geben ein gutes Ziel ab, sagt man mir.“
Delacroix glaubte nicht, daß die Gruppe groß war. Eine große Gruppe hätte man kommen gehört. Oder? Daß Magie im Spiel war, war eindeutig, sonst wäre McMullen sicher nicht ohnmächtig geworden, als er am nötigsten gebraucht wurde. Nun hatten sie offensichtlich den Meister des Arkanen dazu aufgetan, und er schien McMullen an Können zu übertreffen. Nicht viele konnten das von sich behaupten.
„Ich werde mich nicht von der Stelle rühren“, antwortete Delacroix. „Ich bitte nur um Erlaubnis, mich um meinen Begleiter zu kümmern. Sie werden verstehen, daß ich mir Sorgen um ihn mache.“
Wieder das Kichern. Er konnte die Richtung genau ausmachen. Vielleicht hätte er den Lachenden mit einem Satz erreichen können. Doch er wußte nicht, wie viele Waffen auf ihn gerichtet waren. Also ignorierte er den Amüsierten, legte die Erinnerung sorgfältig ab für eine spätere Abrechnung.
„Sie haben Grund, sich Sorgen zu machen, Mr. Fairchild. Ich glaube kein Wort von dem, was Sie mir erzählen, und Sie sind gestellt und umzingelt. Ich könnte Sie jetzt alle ermorden lassen. Doch dieses Gewässer nutzen Fischer, und ich will den Einheimischen keine Leichname in die Netze treiben. Also. Ich würde gerne mehr von Ihrer Geschichte hören.“ Er machte eine Pause, und Delacroix spürte sein Lächeln. „Man sagt mir, Sie seien der Stärkste in der Gruppe, Mr. Fairchild. Somit fällt Ihnen die Aufgabe zu, Ihren bewußtlosen Begleiter zu tragen. Doch ehe wir den Ort hier verlassen, möchte ich, daß Sie Ihre Taschen ausleeren. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß besorgte Verwandte auf der Suche nach vermißten Knaben bewaffnet durch die Berge ziehen, aber tun Sie mir den Gefallen und stülpen Sie Ihre Taschen nach außen.“
Er hatte eine kleine Pistole bei sich, die er vorsichtig hervorzog und mit zwei Fingern hielt. „Fallenlassen!“ sagte eine neue Stimme, und er gehorchte.
Dann räumte er die weiteren Utensilien aus, ein Schnupftuch, ein Portemonnaie, Munition, eine Karte, ein Schlüsselbund und ein kleines Miniaturportrait Corrisandes. Letzteres steckte er zurück in seine Tasche. Wieder ein Flüstern.
„Ich wiederhole mich nur ungern, Fairchild. Was immer es ist, legen Sie es auf den Boden.“
Er antwortete nicht, legte nur seine Besitztümer vor sich hin. Es war das einzige Bild, das er von Corrisande hatte. Das Bild aufzugeben war ein ärgerlicher Verlust, fast ein Abschied. Es machte ihn noch verdrießlicher.
Unsinn. Er würde das Bild zurückbekommen. Irgendwie würde er aus dieser Geschichte wieder herauskommen. Er war schon in schlimmeren Situationen gewesen. Oder nicht? Wenn der Junge bezüglich der unheimlichen neuen Waffe Recht behalten sollte, die man hier im Gebirge baute, dann war das Szenario viel gefährlicher als angenommen.
Wieder Geflüster. „Gut gemacht, Fairchild. Jetzt leeren Sie bitte auch die Taschen Ihres schlummernden Begleiters und nehmen Sie Ihre Schutzamulette ab. Sogleich.“
Verflucht. Er hatte gehofft, seines behalten zu können, doch der Mann hatte es bemerkt. Delacroix glaubte nicht recht, daß Udolf auch ein Amulett hatte. Er stand nur benommen herum.
Ein Schuß traf den Boden vor ihm, und seine Besitztümer spritzten auseinander. Delacroix sprang zurück. Anscheinend wollten ihm die Leute bedeuten, er käme ihren Wünschen zu langsam nach.
„Bleiben Sie stehen und nehmen Sie den Anhänger ab. Der nächste Schuß wird treffen.“
Er öffnete den Kragen und zog eine Silberkette mit Anhänger heraus. Magische Amulette gab es aus Silber oder Kalteisen. Letztere waren schwer zu bekommen und wurden vor allem von der Bruderschaft des Lichts getragen. Dieser katholischen Geheimgesellschaft hatte er als Knabe angehört, und er haßte sie mit jeder Faser seines Seins. So trug er Silber. Zudem konnte Corrisande Kalteisen nicht ertragen. Es nur zu berühren würde sie töten.
Er zog die Kette über den Kopf und ließ sie fallen. Die Kugel, die seine Besitztümer getroffen hatte, hatte Corrisandes Bild zerstört. Höchstwahrscheinlich Zufall. Oder der Mann, der geschossen hatte, war Scharfschütze. Denkbar war das. Was denkbar war, mußte man in Betracht ziehen. Das würde er so schnell nicht vergessen.
Er stülpte die Taschen nach außen und zeigte seinen in der Nacht verborgenen Kontrahenten das Taschenfutter. Seine Wurfmesser nahm er nicht aus den Ärmeln, versuchte, nicht einmal an sie zu denken, um die Aufmerksamkeit nicht auf sie zu lenken. Er konnte sehr gut Messer werfen. Im Augenblick brachte ihn diese Fähigkeit allerdings nicht weiter. Doch irgendwann würde er sie nutzbringend einsetzen können, vorausgesetzt, sie ließen ihm die Waffen.
„Nun die Taschen Ihres Freundes.“
Delacroix kniete sich neben McMullen. Hastige Bewegungen vermied er tunlichst. Dem schießwütigen Bastard würde er keinen Grund geben, auf ihn zu feuern. Er drehte McMullen um und berührte sein Gesicht mit den Händen. Er war ohne Bewußtsein, und seine Haut fühlte sich klamm an. Wieder hörte er ein Flüstern, dann die irische Stimme.
„Die Taschen, den Anhänger, Fairchild. Ich möchte es nicht wiederholen müssen.“
Er kramte McMullens Besitztümer hervor. Schnupftuch, Taschenuhr, Bleistift, Notizbüchlein und ein Brief. Wenn das Ian McMullens Brief sein sollte, würden diese Leute wissen, daß der Junge sie auf eine Geheimwaffe hingewiesen hatte, die er im Gebirge suchte. Warum trug McMullen Briefe mit sich herum? Immer wieder offenbarte sich, wie nachlässig sie gewesen waren. Sie hatten nicht gut geplant, einen Fehler nach dem anderen gemacht.
Delacroix war übelgelaunt. Sein Zorn richtete sich gegen die unsichtbaren Feinde, die ihn erwischt hatten, gegen den Mann, der Corrisandes Bild zerstört hatte, doch vor allem gegen ihn selbst, weil er ein solcher Tor gewesen war. Bei einem offiziellen Auftrag hätte er nie so viele Fehler gemacht.
Doch diesmal war es anders gewesen. Er blickte zu Leutnant von Görenczy. Die grindigen Kratzer in dessen Gesicht wirkten dunkel gegen seine Blässe. Sein sonst so fescher Zwirbelschnurrbart hing lasch herunter. Seine Miene war nichtssagend.
Doch er stand wie eine Eins, zu stolz, seinen Knien nachzugeben. Bei den Chevaulegers starb man nur im Sitzen, wenn man ein Pferd unter sich hatte.
„Helfen Sie Ihrem Freund, Fairchild. Er sieht zerschlagen aus, und entkräftete Menschen tun dumme Dinge. Leeren Sie seine Taschen und prüfen Sie, ob er ein Schutzamulett trägt.“
Delacroix gehorchte. Das Häufchen privater Besitztümer wuchs an. Noch ein Schnupftuch, ein Gedichtband, zwei Tuben mit Farbe, noch ein Silberanhänger und österreichische Papiere, die Udolf als Luitpold Grossauer auswiesen. Spannend.
In diesem Augenblick schwankte Herr Grossauer ein wenig, fing sich jedoch sofort. Wieder war Geflüster in der Dunkelheit zu hören.
„Du liebe Zeit“, sagte die Stimme aus dem Schatten. „Was für eine Zwangslage. Eine schwierige Entscheidung. Wen von den beiden werden Sie mitnehmen?“
„Wohin?“ fragte Delacroix.
„Wir werden Ihnen unsere Gastfreundschaft angedeihen lassen. Sie waren doch ohnedies unterwegs zu uns, nicht wahr, Fairchild? Manche Wünsche gehen in Erfüllung. Also tragen Sie Ihren Freund oder lassen Sie‘s. Wer nicht mitkann, wird erschossen. Eventuell braucht es ja nicht alle drei von Ihnen, um ein wenig Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Also wählen Sie! Freuen Sie sich über Ihre Macht. Macht über Leben und Tod. Gehen Sie klug damit um.“
„Herr Grossauer, ich fürchte, Sie werden ohne meine Hilfe auskommen müssen“, sagte Delacroix. „Ich muß unseren Freund tragen. Ich werde Ihnen helfen, wo es geht. Aber ich schätze, Sie sollten nicht zurückbleiben.“
Von Görenczy nickte, reckte das Kinn unbeugsam und stur nach vorn. Mit Entschlossenheit schlug er seine Schlacht gegen Ermattung und Schwäche. Guter Mann.
Delacroix bückte sich und hob McMullen auf. Er hob den Schotten auf seine rechte Schulter und hielt sich die Linke frei, um gegebenenfalls Udolf zu helfen. Dabei war er durchaus sicher, daß er keine zwei ausgewachsenen Männer würde tragen können. Zwar war er durchtrainiert und stark, doch dies würde auch ihn überfordern. Der Lichtkreis begann sich zu bewegen.
„Los!“ befahl die Stimme. „Bleiben Sie im Zentrum des Kreises. Wir gehen jetzt zum Kammersee. Wir werden immer direkt hinter Ihnen sein. Also versuchen Sie keine Tricks!“
Tricks. Delacroix‘ Gedanken rasten. Er keuchte unter der Last, die er trug, und fragte sich, welche Chance zur Flucht er hatte.
Hinter ihm konnte er hören, wie jemand ihre Besitztümer durchging. Verdammter Brief.
Nur über eins war er froh: Corrisande war nicht in der Nähe. Sie war sicher in Ischl. Der schreckliche Alptraum, den er in der Nacht vor seiner Abreise über ihr Schicksal gehabt hatte, würde nicht wahr werden.