Kapitel 6

Charly fühlte sich unbehaglich in ihrem blaßgrünen Seidenkleid. Sie war eng geschnürt, viel zu eng, wie sie fand, doch Anna, die wenn nötig als ihre Zofe fungierte, hatte darauf bestanden. Anna hatte kein Blatt vor den Mund genommen, was die Tendenz ihrer Herrin anging, ihr Korsett zu locker zu tragen und in gänzlich unakzeptablen Landtrachten auszugehen oder in Sachen, die es ihr gestatteten, durch die steilen Berge, die sich hinter dem Schlößchen erhoben, zu reiten, zu wandern oder zu klettern. Wenn man meist wie ein Wildfang herumlief, mußte es einem freilich dann unbequem sein, sich anständig anzuziehen, sagte Anna und fügte hinzu, Herr von Waydt suche wahrscheinlich eine Gemahlin und keine Gefährtin fürs Bergsteigen.

Charly hatte wenig zu alldem angemerkt. Es war sinnlos, denn Anna hatte recht. Die Kunst, eine vollendete Dame zu sein, hatte sie nie gänzlich gemeistert, und das war nicht Sevyos Fehler gewesen, obgleich Anna das wortlos anzudeuten schien. Die treue Seele hatte ihr ganzes Leben für Charlys Familie gearbeitet und war somit auch darüber informiert, was sieben Jahre zuvor geschehen war. Sie erwähnte es nicht, niemand tat das, dennoch gab sie ihm die Schuld. Die widernatürliche Kreatur hatte ihre Herrin verdorben.

Doch es war keinesfalls Sevyos Fehler gewesen, daß Charly nie offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden war. Als sie aus dem Mädchenpensionat heimgekommen war, hatte ihre Mutter geplant, sie in den richtigen Kreisen in Wien vorzustellen und dann rasch mit Leopold zu verheiraten. Doch ihre Mutter war gestorben, noch ehe Charly ihre Ballsaison hatte haben können, und nach dem Trauerjahr hatte ihr Vater versucht, sie wenigstens in Bad Ischl vorzustellen. In den Sommermonaten hielt sich dort ohnedies der halbe Hof auf. Also war sie zu einigen Plauderstündchen, Konzerten und informellen Festen gegangen und sogar Ihrer Majestät der Kaiserin persönlich vorgestellt worden. Elisabeth von Österreich, die den Beinamen Sisi trug, hatte ein Sommerhaus in Bad Ischl.

Die freiheitsliebende Kaiserin war nach Charlys Geschmack. Sie ritt gern und gut, stieg auf Berge und hatte, wie man sich erzählte, sogar Geräte mit Gewichten in ihren Räumen installieren lassen, um in Form zu bleiben. Der österreichische Adel betrachtete dies geradezu als Sakrileg, doch allzu offene Kritik an der Kaiserin gehörte sich nicht, und Charly war es möglich gewesen, ihre eigenen Vorlieben mit ähnlichen der Kaiserin zu entschuldigen. Die wenigen Wochen im nahen Bad Ischl waren jedoch alles an gesellschaftlicher Einführung gewesen, was Charly genossen hatte, denn ihr Vater erlitt alsbald einen Unfall, und die Zeit gesellschaftlichen Geplänkels war somit urplötzlich vorbei.

Vermißt hatte sie die adlige Gesellschaft nicht. Sie war zum Schlößchen zurückgekehrt, ohne verpaßten Gelegenheiten nachzuweinen. Während sie stundenlang reiten oder wandern konnte, ohne müde zu werden, hatte sie die dauernden Einschränkungen, die die bessere Gesellschaft jungen Damen auferlegte, als ermüdend empfunden.

„Halten Sie still! Hören Sie auf zu wackeln, oder ich werde es nie schaffen, Ihr Haar hochzustecken“, schimpfte Anna. Bediensteten, die einen sein ganzes Leben lang kannten, gelang es schlichtweg nicht, einen als eine erwachsene Frau anzusehen. Für Anna war Charly immer noch das wilde kleine Mädchen in kurzen Röcken, das immer zu weit von daheim fortstreunte und meist mit zerrissenem Kleidchen wiederkam. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, allzuviel hatte sich nicht verändert, obgleich Charly, die inzwischen die Dame des Hauses war, versuchte, sich etwas rücksichtsvoller zu benehmen.

Doch in diesem Augenblick gab es kein Entkommen. Charly saß vor dem Spiegel und mußte Annas Verschönerungsversuche über sich ergehen lassen. Anna tat ihr Bestes, um ihr Haar kunstvoll aufzutürmen, aber da sie wenig Übung in dieser Kunst besaß, war das Resultat weder überwältigend noch modisch.

Charly besah sich kritisch. Am besten gab sie es auf. Sie würde Leopold ohnedies nicht gefallen. Für eine Frau war sie viel zu groß, fast einen Meter achtzig in Strümpfen. Sie trug immerzu flache Schuhe. Das war unmodern, doch Absätze hätten sie noch größer erscheinen lassen. Sie war gut gebaut, mit breiten Schultern und einem athletischen Körperbau. Ihre Gesichtszüge waren harmonisch, aber unspektakulär, und niemand, der nicht völlig blind war, hätte sie als schön oder liebreizend bezeichnen können. Ihr rebellisches Haar war dunkel und lockig, ihre Augen mittelbraun. Ihre Nase unterstrich ihre Durchschnittlichkeit und war selbst genau das, nämlich durchschnittlich. Ihr Teint war bäuerlich sonnengebräunt. Nicht mit aller Kraft und sämtlichen Segnungen geheimer Verschönerungskunst hätte sie zierlich und vornehm blaß wirken können.

Anna hatte ihr die Augenbrauen gezupft, und die viel zu dünnen Linien wirkten völlig deplaziert in ihrem wenig delikaten Gesicht. Ihre Sonnenbräune hatten sie unter einer Schicht Reispuder versteckt, doch die ließ sie nur scheckig aussehen.

„Fräulein Charlotte, Sie müssen aufhören, dauernd zu zucken. So werden wir nie fertig und bereit, den Herrn von Waydt willkommen zu heißen.“

Charly seufzte.

„Es ist unerheblich, was du tust. Ich fühle mich nicht ‚fertig und bereit‘, und so sehe ich auch nicht ‚fertig und bereit‘ aus. Hätte er nicht noch etwas warten können? Zwei Jahre? Oder drei?“ Sie seufzte erneut. „Obwohl ich dann natürlich immer noch nicht hübscher wäre.“

„Unsinn. Sie sind hübsch genug!“ schimpfte Anna, die sie mit den Augen der Ersatzmutter sah, denn sie hatte sie von klein auf heranwachsen sehen. „Sie mögen keine Schönheit sein, aber die Welt quillt nicht eben über vor betörenden Schönheiten. Sie sind gesund, intelligent und wissen sich anständig zu benehmen, wenn Sie wollen, und häßlich sind Sie überhaupt nicht. Sie haben ein äußerst charmantes Lächeln. Also lächeln Sie!“

Charly zwang ihren Mund zu einem Grinsen und zuckte vor ihrem eigenen Spiegelbild zurück.

„Großer Gott. Wie sinnlos!“ klagte sie und wurde sofort ermahnt, den Namen Gottes nicht zu mißbrauchen und besser darauf achtzugeben, was sie sagte.

Das mußte sie in der Tat. Onkel Traugott nahm nie ein Blatt vor den Mund, und in letzter Zeit hatte sie angefangen, seinen lockeren Sprachstil nachzuahmen. Es war keine bewußte Entscheidung. Es war schlichtweg bequem zu sagen, was man meinte und zu meinen, was man sagte.

Doch das würde nicht gehen. Eine wohlerzogene junge Dame konnte nicht gut ihre Sätze mit einem langgezogenen „Großer Gott!“ anfangen.

Sie setzte sich aufrecht hin und bemühte sich um den Gesichtsausdruck, den man ihr im Pensionat eingebleut hatte. Ein zartes Lächeln, ein herablassender Blick, eine Maske perfekter Beherrschung. Aufrechte Haltung, ihr Kinn angehoben, ihre Schultern zurück.

Das half etwas. Ihr grünes Kleid machte sie bleicher, als sie war, und ihr Dekolleté präsentierte in runder Fülle das, was die Herren der Schöpfung anscheinend gerne sahen. Es war ihr bestes Attribut. Doch so etwas konnte man natürlich nicht sagen.

Anna versuchte, ihre Frisur mit einer seidenen Rose zu zieren.

„Nein!“ wehrte sich Charly. „Ich bin nicht der Typ für so etwas.“ Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie Blumen im Haar getragen hatte. Damals war sie so jung gewesen, und ihr Spiegel hatte noch keine Macht über sie gehabt. Sie hatte sich in und mit den Augen ihres Spielgefährten gesehen. Durch seinen Blick hatte sie sich nie unvollkommen und tölpelhaft gefühlt.

„Großer ... gute Güte! Ich wünschte, es wäre schon alles vorbei.“

Anna ignorierte ihren Ausruf und wühlte in der Schmuckschatulle.

„Wie wäre es mit dem grünen Turmalin-Set?“ fragte sie. „Es gehören zwei Anstecknadeln dazu. Eine könnten wir in Ihr Haar setzen – wenn Ihnen Seidenblumen nicht gefallen.“

Charly seufzte.

„Findest du nicht, du übertreibst? Es ist eine Jagdgesellschaft. Eine Clique junger Herren, die – offiziell – Onkel Traugott besuchen, nicht mich. Sie haben sicher nicht einmal formelle Abendgarderobe dabei. Das Dinner ist informell. Wir werden eine Kleinigkeit essen, und dann werden sie erwarten, daß ich sie eine Weile mit ihren Zigarren und Herrengesprächen allein lasse. Was immer die beinhalten mögen.“

Sie hatte sich vorgenommen zu lauschen. Sie wollte wissen, worüber Herren sprachen, wenn keine Damen anwesend waren. Das Schlößchen war ein altes Bauwerk voller winkliger Gänge und vergessener Kamine und Hintertreppen. Lauschen war leicht, wenn man wußte, wo.

Ihr war klar, daß ihr Vorhaben ein wenig skandalös war und keinesfalls zu dem Benehmen paßte, das sie an den Tag legen sollte. Doch eventuell würden die Männer ja über sie sprechen. Sie hätte gern gewußt, was sie über sie sagten, selbst wenn es vermutlich nicht schmeichelhaft war.

Sie beging nicht den Fehler, ihre ungebührlichen Pläne Anna zu unterbreiten. Die Gute würde keine Zeit haben, sich darum zu kümmern, wo Charly abgeblieben war, und selbst wenn, rief sich Charly ins Gedächtnis, schließlich war Anna ihre Bedienstete und nicht umgekehrt. Also würde sie akzeptieren, was Charly tat. Schließlich war sie erwachsen. Sie war die Dame des Hauses, und nicht nur das: Das Schlößchen gehörte ihr sogar, selbst wenn die finanziellen Transaktionen immer noch zum größten Teil Onkel Traugott abwickelte. Doch der hatte begonnen, sie zu unterweisen, um zu ihrem Wissen, wie man einen Haushalt führte, auch noch das, wie man ein Anwesen mit Ländereien und ausgedehnten Wäldern verwaltete, hinzuzufügen. Es war leicht, wenn man einen scharfen Verstand hatte, und den hatte sie. Wenigstens das. Onkel Traugott hatte gesagt, ihre Intelligenz stehe der eines Mannes in keiner Weise nach – ganz egal, was man so sagte. Vielleicht würde Leopold sie ja so akzeptieren können, als Gleichgestellte.

Sie bezweifelte es. Es konnte nicht allzu viele Männer auf der Welt geben, die das schafften. Es war einfacher zu glauben, alle Frauen wären schwach, dumm und albern. Nur ein sehr intelligenter und weltoffener Mann würde akzeptieren, daß – gab man ihnen nur die Möglichkeit, anders zu sein – sie auch anders sein konnten, und nur ein sehr mutiger Mann würde eine Frau so akzeptieren können, wenn ihm der Spott seiner Kameraden sicher war.

Lange nicht alle Männer, das wußte sie, waren von so überlegener Intelligenz, und ob Leopold es war, wußte sie nicht. Groß waren ihre Hoffnungen nicht.

Sie versuchte, ihre Erinnerungen an ihn zu ordnen, um ein Bild in ihrem Kopf zu formen. Oft hatte sie ihn nicht getroffen, und da er ein paar Jahre älter war als sie, hatte es auch keine Kinderfreundschaft zwischen ihnen gegeben. Zudem war Sevyo viel interessanter gewesen. Wann immer die von Waydts ihre Eltern besuchen gekommen waren, hatten die Erwachsenen gehofft, die Kinder würden genug Gemeinsamkeiten entdecken, um harmonisch miteinander umzugehen.

Aber das war nie geschehen. Sie waren gemeinsam losgezogen, doch hatten sich immer sehr schnell getrennt. Der Junge hatte keine Lust gehabt, sich mit einem Mädchen abzugeben, und sie hatte ihn meist einfach stehenlassen und war zu Sevyo gegangen.

Einmal hatte er ihre Puppe geköpft. Das hatte ihn ihr unsympathischer gemacht. Doch die grausame Tat hatte einen interessanten Aspekt, jetzt, wo sie als erwachsene Frau darüber nachdachte. So viel Mühe hatte er sich gegeben, um etwas Böses zu tun.

Ihre Eltern hatten erklärt, das sei eben so, weil er ein Junge war. Jungs waren wild und taten manchmal Dinge, die sie nicht tun sollten, zerbrachen zum Beispiel die Spielsachen kleinerer Schwestern. Sie sollte es nicht so ernst nehmen.

Nur war er nicht ihr großer Bruder und hatte nicht aus Versehen ihr Spielzeug zerbrochen. Er hatte eine Guillotine gebaut und sie zur Hinrichtung formell eingeladen. Dann hatte er die Puppe in ihrem Beisein enthauptet.

Sie konnte sich genau daran erinnern. Seltsam. Jahrelang hatte sie nicht daran gedacht. Als sie damals weinend in den Wald gelaufen war, hatte Sevyo sie getröstet, ihr den Schmerz genommen und ihr Gemüt beruhigt. „Du wirst dich daran erinnern, wenn du mußt“, hatte die wunderschöne, weise Frau gesagt und Charly im Arm gehalten, bis sie zu weinen aufgehört hatte.

Sie fragte sich, warum die Erinnerung nun wieder aus den Tiefen ihres Gedächtnisses aufgetaucht war. Vielleicht war es natürlich, schließlich kam Leopold zu Besuch, und nach und nach kamen viele Erinnerungen wieder an die Oberfläche, gute und schlechte. Er hatte mit ihr auf einem Ball getanzt, als sie für die Ferien aus dem Institut heimgekommen war. Er war ein guter Tänzer. Sie hatte ihr erstes Ballkleid an, und er hatte ihr Komplimente gemacht, als sei sie eine richtige erwachsene Dame und nicht nur ein Schulmädchen, das die Ferien zu Hause verbrachte. Das war nett gewesen.

Sie waren jetzt beide erwachsen. Sie spielte nicht mehr mit Puppen, und er würde keine mehr entführen und ermorden.

Trotzdem wünschte sie, sie hätte sich nicht gerade jetzt daran erinnert.