Kapitel 18
Von Görenczy atmete scharf ein, als das Seil in seinen Rücken schnitt und ihn und Delacroix zusammenzog wie ein Liebespaar. Er krallte die Finger in die Kleidung des größeren Mannes, denn er wollte keinesfalls zurückbleiben, nur weil es ihm nicht gelang sich festzuhalten. Er war lang genug hier gewesen. Engel und Heilige Nothelfer mußten den Briten hierher gesandt haben – und wahrscheinlich seine Regierung. Pech. Doch daran wollte er gerade nicht denken. Er wollte hier raus, und Delacroix und McMullen würden ihn rausholen, und dann würden sie ihm was zu trinken verschaffen und etwas zu essen und ein warmes Bett. Alles andere mußte warten.
Natürlich war viel zu tun. Längst hätte er Bericht erstatten müssen. Doch er wußte nicht mehr als vorher. Die Nachricht, auf die er gewartet hatte, hatte ihn nie erreicht, und er hatte keine Vorstellung davon, wie lange er in diesem Loch festgesteckt hatte. Es kam ihm vor wie Jahre, doch es konnten nicht mehr als ein paar Tage gewesen sein.
Seine Füße hatten den Boden verlassen. Er spürte, wie das Gewicht seiner selbst und Delacroix‘ zusammen schwer an dem Seil zog. Es knarzte und schnitt in seine Seite, wobei es ihm vorkam, als fände es genau die Stelle, die am meisten wehtat. Doch er verbiß sich jeden Klagelaut. Vor einem wie Delacroix zeigte man keine Schwäche. Zu peinlich.
Man rettete ihn. Das war die Hauptsache. Er konzentrierte sich darauf. Die Höhle, in die er gestürzt war, lag nicht weit unter der Oberfläche. Während seiner Gefangenschaft hatte die Sonne zu ihm hinuntergeschienen, als wolle sie sich über ihn lustig machen. Komm schon raus, schien sie zu sagen. Klettere hoch, es sind nur ein paar Meter. Was tust du da in den Schatten?
Die Höhle hatte die Form eines Tropfens. Der enge Einlaß oben öffnete sich zu einem Rund. Die Wände waren eben und hingen über. Wie poliertes Glas sahen sie aus. Jemand hatte diese Höhle zu einem ausbruchsicheren Kerker geformt.
Wer immer diese Falle gebaut hatte war offenbar sehr sicher, daß niemand daraus entkommen konnte. Es war niemand nachschauen gekommen. Selbst dann nicht, als er nach ein, zwei Tagen verzweifelt genug gewesen war, laut um Hilfe zu brüllen. Gefangengenommen zu werden war ihm weitaus angenehmer erschienen, als an Kälte und Hunger zu verrecken.
Er war dankbar für das Bächlein gewesen, das an der einen Höhlenseite entlang floß. Es hatte sein Verdursten verhindert. Viel Wasser führte es nicht, doch es hatte ihn überleben lassen.
An den Toten hatte er sich nach einer Weile gewöhnt. Er hatte ihn inspiziert. Ein Mann mittleren Alters. Der Sturz hatte ihm das Genick gebrochen. Wahrscheinlich war er sofort tot gewesen. Er hatte den Mann durchsucht. Ausweise hatte er nicht dabei gehabt. Das einzig Interessante waren ein Baedeker über Österreich und eine grob gezeichnete Umgebungskarte gewesen.
Er spürte Delacroix‘ Arme. Der Mann gab sich Mühe, ihm die Rippen nicht allzu sehr zusammenzudrücken. Vermutlich wußte er, wie sich solch eine Verletzung anfühlte. Dennoch hielt er ihn sicher, wie ein Liebhaber. Auf peinliche Weise war es fast beschützend. Aber von Görenczy waren Peinlichkeiten im Moment einerlei. Er wollte nur raus hier.
Die Luft veränderte sich. Er spürte den Nachtwind. Der Geruch des toten Körpers unter ihm nahm ab. Er hatte ihn schon eine Weile nicht mehr bewußt wahrgenommen, doch jetzt bemerkte er, daß der Geruch immerzu in seiner Nase gewesen war.
Sie brauchten ein paar Augenblicke, um ihre Beine auf den Boden zu bekommen. Irgendwie waren sie zu eng ineinander verstrickt. Schließlich rollten die Männer von dem Überhang fort über den Boden. Er gab ein Zischen von sich, als der Brite über ihn hinwegrollte.
McMullen befreite sie von dem Seil. Sie lagen keuchend auf dem Fels. Dann stand Delacroix auf und streckte ihm die Hand hin. Udolf ließ sich hochhelfen. Seine Beine waren steif, doch er fühlte sich sehr viel besser.
„Danke“, sagte er und achtete darauf, seine Stimme fest und stark klingen zu lassen. „Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich ...“
„Wir wollen zum Boot gehen“, unterbrach McMullen. „Höflichkeitsfloskeln müssen warten. Sie waren in einer magischen Falle. Es ist möglich, daß Ihr Entkommen bemerkt wurde. Können Sie gehen?“
„Ja. Ich denke schon. Natürlich.“
„Ich kann Ihnen helfen“, versicherte Delacroix. „McMullen hat Recht. Wir sollten uns beeilen.“
Sie kletterte über die Felsen zu dem Ort, an dem der Pfad zurück über den steilen Hügelkamm und danach zum Toplitzsee führte. Udolf hatte sein Boot in den Büschen versteckt, so gut es ging, doch vermutlich hatten sie es trotzdem gefunden. Es gab nicht viele Möglichkeiten, an diesem Ende des Toplitzsees etwas zu verstecken. Es war ein regnerischer Sommer gewesen. Der Wasserstand der Seen war ungewöhnlich hoch, und damit war die Anlegefläche für Boote noch mehr zusammengeschrumpft.
Er fand es unglaublich, daß niemand nachgesehen hatte, was sie da gefangen hatten. Unfaßbar. Wenn das, was seine Auftraggeber argwöhnten, tatsächlich zutraf, dann sollte man immerhin annehmen, daß die Leute, die auszuspionieren er geschickt worden war, an jedem, der sich in ihr Gebiet verlief ein ganz außerordentliches Interesse haben müßten. In ihrer Situation hätte er zumindest versucht, Gefangene zu befragen.
Vielleicht hatten sie das ja noch vorgehabt. Eventuell wollten sie einfach so lange warten, bis er schwach und mürbe genug war, um keine Gegenwehr mehr zu leisten. Er hatte keine Zweifel, daß er bei einem Verhör weitaus zugänglicher gewesen wäre, als er mit seiner Ehre hätte vereinbaren können, wenn er noch länger dort unten geblieben wäre. In der Tat hätten sie ihn jedoch vielleicht bald nicht so sehr zugänglich als vielmehr ziemlich tot gefunden.
Böser Gedanke. Er strauchelte, und Delacroix ergriff seinen Arm. Seine Knie waren noch wackelig. Er mußte sich konzentrieren, damit sie nicht nachgaben und er sich einfach auf den Boden setzte. Er war Leutnant der Chevaulegers. Sein Regiment, das Königlich Bayerische 3. Chevaulegers-Regiment Herzog Karl-Theodor, war für seine draufgängerischen Soldaten bekannt. Schwäche zeigte man nicht. Unter keinen Umständen. Nie – und schließlich war ihm ja auch nicht viel geschehen. Ein bißchen Hunger, Durst, Todesangst und Verzweiflung – das war gar nichts, und seine Wunde war auch nicht mehr als ein Kratzer.
Der Weg zum Toplitzsee erschien ihm länger als zuvor. Auf dem Hinweg waren es nur ein paar Minuten gewesen, vielleicht eine Viertelstunde. Dabei hatte er noch seine Malausrüstung getragen, obgleich der Trampelpfad durch den Bergwald, erst steil auf den Hügel, dann wieder steil hinunter, nicht so einfach zu meistern war, wenn man Staffelei und eine Leinwand auf dem Rücken trug. Alles, um seine Tarnung als Landschaftsmaler aufrechtzuerhalten.
Gemalt hatte er immer gern, und er konnte es recht gut. Als man ihn in die Berge geschickt hatte, um dort stunden- und tagelang auf eine Nachricht zu warten, hatte sich als Tarnung ein Maler angeboten. Landschaftsmaler gab es hier viele, und weiß Gott nicht alle waren große Meister.
Sein Atem schien ihm laut durch die Stille der Nacht zu hallen, eben so wie seine Schritte, obgleich sie durch einen Teppich an Moos und Blättern gedämpft waren. Er wunderte sich nicht, daß er kein Geräusch von McMullen vernahm. Als Meister konnte er vermutlich Geräusche magisch vermeiden. Doch Delacroix war auch kaum zu hören, und der massige Mann machte nicht den Eindruck, als könne er sich mit solcher Leichtigkeit bewegen.
Wieder fragte er sich, was die Briten hier taten. Soweit er wußte, hatte Delacroix nach seiner Heirat den Dienst quittiert. Also warum hatte man ihn geschickt, und wie hatten sie herausbekommen, daß in diesem versteckten Winkel des Gebirges etwas Interessantes vorging?
Er fragte sich nicht, welches Interesse die Britische Krone an dem, was hier ablief, hatte. Militärische Geheimnisse waren immer für mehr als ein Land interessant.
Nur war es ihm noch nicht einmal selbst gelungen, etwas herauszufinden. Doch das war auch nicht seine Aufgabe. Er sollte nur Informationen weitergeben. Nur hatte er keine bekommen. Er hatte die Seen aus allen möglichen Winkeln und zu jeder Tages- und Nachtzeit gemalt, aber erfahren hatte er nichts. Statt dessen war er in den Fels gefallen.
Es konnte nicht mehr weit sein, dachte Udolf. Der Toplitzsee mußte jeden Augenblick vor ihnen auftauchen. Dann würde er es sich im Boot bequem machen und Delacroix die Aufgabe überlassen, sie in Sicherheit zu rudern. Zu einem Abendbrot, einem Grog und einem warmen Bett. Mehr wollte er nicht.
Er mußte herausfinden, was die Briten hier suchten. Es war seine patriotische Pflicht, doch bitte erst nach dem Essen.
Der Wald öffnete sich zum Seeufer hin. Das Wasser glitzerte im Sternenschein. Jetzt mußten sie nur noch diesen See überqueren und dann noch einmal bergab zum nächsten, dem Grundlsee, wandern.
Hier gab es einfach zu viel Wasser. Das sah bei Sonnenschein malerisch aus, schmale, dunkle Seen, umkränzt von steilen Bergen. Trotzdem hätte er im Augenblick die Annehmlichkeiten einer modernen Großstadt vorgezogen. Eine gepflasterte Straße, eine Mietdroschke, ein exzellentes Hotel.
Ischl war nett. Kultiviert und fortschrittlich hatte es gewirkt. Der halbe Wiener Hof kam zur Entspannung oder zur Jagd dorthin, und nicht wenige Bayern. Er war nicht aufgefallen.
Die Kaiserin persönlich kennenzulernen war eine große Ehre gewesen, obgleich das Treffen geheim war und er nie würde behaupten können, ihr offiziell vorgestellt worden zu sein. Die junge Monarchin war so hübsch wie imponierend. Kaiserin eben. Doch sie war auch eine Wittelsbacher Prinzessin, und das machte sie zur gebürtigen Bayerin.
Die Sache war abstrus. Die Kaiserin war bestürzt. Gerüchte waren ihr – oder doch eher ihrem Gatten, obwohl dieser in den Gesprächen nicht Erwähnung fand – zu Ohren gekommen, es gäbe innerhalb der österreichischen Armee eine Gruppierung, die ihre ganz eigenen Ziele verfolgte. Nun war es schwierig, im eigenen Kriegsministerium nach Verschwörern zu suchen, wenn man nicht wußte, wer diese waren. Wem sollte man trauen? Wer mochte dazugehören, wer nicht?
Der Unsicherheit war die Kaiserin mit einer ebenso beherzten wie ungewöhnlichen Maßnahme begegnet, indem sie die Hilfe ihres Vaters, des Herzogs in Bayern, in Anspruch genommen hatte. Ein bayerischer Ermittler konnte kein österreichischer Revolutionär sein, und so war von Görenczy eine höfliche Leihgabe seines eigenen Landes und durch Eid gebunden, zum Schweigen verpflichtet gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten und reportpflichtig einzig und allein der Kaiserin selbst oder ihrem Verbindungsoffizier. Ein offizieller Auftrag war dies nur in gewisser Weise, denn sollte er gefangen werden, würde die Kaiserin keinesfalls zugeben, einen Ausländer auf das eigene Kriegsministerium angesetzt zu haben, und auch seine bayerischen Vorgesetzten würden ihn nicht schützen, denn sie wußten nur, daß man ihm von höchster Stelle Sonderurlaub für eine private Angelegenheit gewährt hatte. Höchstwahrscheinlich starben sie alle vor Neugier. Ihr Pech.
Sie hatten Delacroix‘ Boot erreicht. Es erschien mit einer solchen Plötzlichkeit vor ihren Augen, daß es nur magisch hatte versteckt sein können.
„Herr im Himmel, bin ich müde“, murmelte er. „Delacroix, Sie sind dran mit Rudern. Ich werde mich darauf beschränken, dekorativ dazusitzen und Ihnen zuzusehen.“
„Keine Bewegung!“ erschallte eine Stimme hinter ihm, und der Bayer brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß weder Delacroix noch McMullen gesprochen hatten.
„Hände hoch. Wir haben Sie im Visier!“