Kapitel 13

Charly stand am Waschtisch, goß sich Wasser über die Hände und versuchte, die letzten Blutspuren zu beseitigen. Sie waren klebrig und rochen seltsam. Sie hatte ihr Abendkleid ausgezogen und durch ein einfaches Hauskleid ersetzt, das vorn zu knöpfen war und mit dem man ohne Korsett auskam. Ihren Schmuck hatte sie auf die Frisierkommode geworfen. Als sie den Turmalinschmuck von sich gerissen hatte, war ihre sorgfältig aufgetürmte Frisur abgestürzt. Sie hatte sich nicht darum gekümmert.

Jetzt legte sie einen nassen Waschlappen auf Auge und Wangenknochen. Männer rauften gern, das wußte sie. Sie prügelten sich zum Vergnügen. Es war ihr nicht klar gewesen, wie sehr es schmerzte, wenn man getroffen wurde. Ihr linkes Auge war fast zugeschwollen. Sie konnte damit nicht richtig sehen. Ihr Lid und die Haut um ihr Auge waren dunkellila.

Der Mann hatte sie hart getroffen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen wäre, hätte Meyer nicht eingegriffen. Wenigstens hatte er eine Ahnung von Anstand und Benimm, auch wenn er zu einer Mörderbande gehörte. Sie hatte ihn gemocht – ehe all das geschehen war. Sehr sogar. Auch jetzt machte er noch einen verantwortungsvolleren Eindruck als die anderen.

Verantwortlich war er außerdem. Mitverantwortlich für Mord. Genau wie Leopold, der Sevyo verraten hatte, der gesagt hatte, sie sei ihm versprochen gewesen … und das stimmte sogar. Heiraten würde sie ihn nie. Niemand konnte sie dazu zwingen. Oder doch?

Sie war sich nicht mehr so sicher. Sie sah wieder in den Spiegel, musterte ihr geschwollenes Gesicht. Attraktiver hatte es sie weiß Gott nicht gemacht. Egal. Es war nichts im Vergleich zu dem, was sie dem Sí angetan hatten. Sie sah noch seine anmutigen Bewegungen vor sich, sein Blut und seine Schmerzen. Sie erinnerte sich an den Blick aus seinen ausdrucksstarken dunklen Augen. Einen Moment lang hatte sein Blick ihre Seele getroffen.

Sie mußte doch etwas tun können! Zum Beispiel aus dem Fenster klettern. Es konnte nicht schwer sein, den Baum zu erreichen, der dicht davor stand, selbst wenn sie im Dunkeln die Äste nicht genau würde erkennen können. Doch was dann? Das Schlößchen lag hoch über dem Altausseer See, auf halber Höhe zum Gipfel und nicht allzu nah an Altaussee. Der lange Weg durch die Dunkelheit mochte nicht gefährlich sein, doch was konnte sie tun, wenn sie das Dorf erreichte?

Die Obrigkeit war daran interessiert, den Salzhandel zügig und ohne Probleme voranzubringen. Es gab mehr Beamte, die sich um die Organisation der Minen und Transporte kümmerten als Polizisten, und selbst wenn es ihr gelänge, einen Gendarmen aus seiner wohlverdienten Nachtruhe zu reißen, würde das nicht viel nützen. Wenn Leopold im Auftrag des Kriegsministeriums unterwegs war, würden die örtlichen Beamten nur strammstehen und eine gute Verrichtung wünschen.

Es nützte nichts, ins Dorf zu fliehen. Doch irgend etwas mußte sie tun. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie gehört hatte, und sich einen Reim darauf zu machen. Wahrscheinlich hatten sie den Verletzten in den Keller gebracht. Sie war sicher, die Kellertür gehört zu haben.

Dann fiel es ihr wieder ein. Der alte Käfig war noch dort. Der, den der Freund ihrer Eltern damals mitgebracht hatte, um Sevyo gefangen zu nehmen. Doch sie hatten ihn nicht gefangen, sondern ermordet. Sie fragte sich, ob es ein magischer Käfig war, etwas, in dem man die Fey gefangen hielt.

Charly wußte kaum etwas über Sí. Sie hatte einem von ihnen so nahegestanden, und doch reichte ihr Wissen jetzt nicht aus, etwas zu unternehmen. Leopold dagegen hatte genug Wissen, um zu zerstören. Höchstwahrscheinlich hatte er auch über den Käfig Bescheid gewußt, obwohl er nicht hatte sicher sein können, daß sie ihn nicht längst hatte fortwerfen lassen. Das hätte sie tun sollen, doch sie hatte gar nicht an das Ding gedacht. Sie ging selten in den Keller. Das Gesinde erledigte gemeinhin Aufgaben, die einen in den Keller zu den dunklen, kleinen Kabäuschen führten.

Wenn er im Keller war, konnte sie ihn erreichen. Leopold wußte viel, aber nicht alles. Er war nie in ihrem Ankleidezimmer gewesen, denn es hatte keine Tür zum Flur, war nur durch ihr Schlafzimmer erreichbar. Von diesem Zimmer führte eine alte Hintertreppe hinunter. Der Zugang war vernagelt und übertapeziert, doch vielleicht würde sie ihn öffnen können.

Sie nahm ihre Lampe und eine Schere und lief hinüber ins Ankleidezimmer. Sie wußte, an welcher Stelle die Tür verborgen war und fuhr mit der spitzen Schere daran entlang. Die Tapete zerriß mit einem trockenen Geräusch. Rauf, rüber, runter. Sie kratzte mit den Nägeln an der Tür, suchte nach den Konturen. Sie spürte, wo die Scharniere saßen, doch es gab keinen Griff, nur ein Loch im Holz. Ihre Finger hakten sich ein und zogen, aber die Tür war verschlossen, hatte sich jahrelang keinen Millimeter bewegt, nicht seit den Tagen ihres Großvaters, der das Schlößchen nach seinen Vorstellungen hatte umbauen lassen. Sie tastete am Holz entlang und spürte Nagelköpfe. Sie brauchte Werkzeug.

Sie sah sich fieberhaft im Zimmer um und ergriff schließlich die Ofenzange aus Messing. Dazu nahm sie auch noch die kleine Schaufel von hinter dem Ofen. Sie setzte beide gegeneinander und versuchte, eine Art Hebelwirkung zu erzeugen. Weder das eine noch das andere Werkzeug war dazu geeignet. Sie rutschten immer wieder ab, und ein Fingernagel nach dem anderen brach und riß ein. Zweimal riß sie sich die Hand auf, und wieder hatte sie Blut an den Händen, diesmal ihr eigenes. Die Erinnerung an sein Blut auf ihrer Haut ließ sie nur umso verbissener an der Tür zerren.

Sie stöhnte vor Ungeduld, zitterte vor Erschöpfung. Sie war keine schwache Frau, doch diese Arbeit lag außerhalb ihres Erfahrungshorizontes.

Dann löste sich die Tür plötzlich ein Stück, sie klemmte ihre Finger zwischen Tür und Rahmen und lehnte sich rückwärts, wobei sie ihre Füße gegen die Wand stemmte und ihr eigenes Gewicht als Zugkraft zu Hilfe nahm. Beinahe fiel sie, als die Tür plötzlich knarrend aufschwang. Sie stand außer Atem vor der dunklen Türöffnung. Es roch modrig und nach Staub.

Was nun? Sie wirbelte herum, zurück zum Waschtisch, säuberte ihre Hände. Sie zog eine Decke von ihrem Bett und Leinen aus ihrem Aussteuerschrank. Schnell war es für einen Verband in Streifen gerissen. Sie warf alles in ihr Körbchen. Dazu ein Fläschchen Wasser. Es war einmal Hustensaft darin gewesen, doch es war das einzige Gefäß, das sie finden konnte. Eine Schere noch, für den Verband und vielleicht auch als Waffe. Der Gedanke, jemanden mit einer Schere anzugreifen, war ihr unangenehm, und so versuchte sie, die Gefahr, gefaßt zu werden, ganz aus ihrem Geist zu verbannen.

Sie nahm nur eine einzelne Kerze im Kerzenhalter sowie ein paar Streichhölzer mit und betete leise, die Kellertür möge nicht auch vernagelt und verschlossen sein. Wissen konnte sie es nicht. Sie mußte es versuchen.

Im letzten Augenblick nahm sie noch die Kohlenschaufel, wickelte sie in ein Handtuch und legte sie auf den Korb. Dann begann sie ihren Abstieg.

Die Treppe war viele Jahre lang nicht benutzt worden und war verstaubt und voller Spinnweben, die ihr ins Gesicht griffen oder in der Kerzenflamme kurz aufflammten und verbrannten. Sie hatte Angst, die offene Flamme könnte ein Feuer entfachen, doch die Flammen verschwanden immer nach wenigen Sekunden und halfen nicht einmal dabei, sich im Dunkeln zurechtzufinden.

Ihr Herz blieb beinahe stehen, als sie an der Küche vorbeikam, die sich unterhalb des Ankleidezimmers befand. Die alte Tür war auch hier fest verschlossen, doch Charly vernahm Männerstimmen, nah und deutlich, und sie war sich sicher, daß die Geräusche, die sie machte, nicht minder klar vernehmlich waren.

Kurz überlegte sie, ob sie lauschen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Es war von größerer Dringlichkeit, dem Feyon zu helfen. Graf Arpad. Wenn sie ihm überhaupt helfen konnte. Wenn er noch lebte und sie zu ihm vordringen konnte, ohne daran gehindert zu werden. Sie huschte weiter.

Auf den letzten Stufen stolperte sie fast, denn sie sah nicht, daß jemand dort Kisten gestapelt hatte. Sie raffte ihre Röcke mit einer Hand, während sie mit der anderen die Kerze hielt und versuchte, behutsam durch das Hindernis zu balancieren. Wenn man den Treppenaufgang in Kellerhöhe als Abstellplatz nutzte, lag es nahe, daß die Tür hier nicht vernagelt sein würde.

Sie behielt recht. Vorsichtig öffnete sie die Tür und zuckte zusammen, als sie in den Scharnieren quietschte. Das Geräusch schien durch das ganze Haus zu gellen. Sie trat schnell ein und schloß die Tür hinter sich. Nun befand sie sich im Hauptgang des Kellers. Mehrere Türen führten in verschiedene Kelleräume und Abstellplätze. Sie hörte Schritte, die gleich um die Ecke kommen würden.

„Wer da?“ ertönte eine Männerstimme. Sie kannte sie nicht. Wer immer es war hatte sie entweder gehört oder ihren Lichtschein gesehen.

Wenn sie sie jetzt wieder fingen, würden sie sie schlagen, und vielleicht würde diesmal niemand mehr eingreifen. Sie wußte nicht, wer da auf sie zukam, doch es konnte nur einer der Mörder sein. Einen Atemzug lang stand sie starr vor Schreck. Dann ließ sie den Korb fallen, ergriff die Schaufel, nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, sie aus dem Handtuch zu wickeln. Sie schwang sie mit aller Kraft gegen die Gestalt, die um die Ecke bog. Das Gerät traf heftig ein Gesicht.

Der Mann brach mit einem Klagelaut zusammen, und noch während er fiel, schlug sie ihn ein zweites Mal, diesmal auf den Hinterkopf. Er blieb reglos liegen, mit dem Gesicht nach unten. Sie überprüfte nicht, wer es war, konnte nicht viele Details in dem armseligen Kerzenlicht ausmachen und wollte sich auch nicht näher mit ihm beschäftigen oder den Feind, den sie zur Strecke gebracht hatte, gar anfassen. Hoffentlich hatte sie ihn nur bewußtlos geschlagen. Sie hatte nicht die Nerven zu überprüfen, welchen Schaden sie angerichtet hatte. Sie hoffte, daß sie nicht zur Mörderin geworden war.

Sie war gekommen, um zu helfen und würde tun, was zu tun war, also nahm sie ihren Korb auf und ging weiter. Sie entsann sich, in welchem Raum der Käfig stand.

Die Tür war verschlossen, doch der Schlüssel steckte, und sie öffnete sie und trat ein. Dann zog sie den Schlüssel ab und sperrte sich selbst mit ein.

Das Kerzenlicht erleuchtete den gestapelten Plunder nur unvollkommen, doch sie konnte den Käfig deutlich ausmachen. Er stand an einer Wand, und in ihm lag eine dunkle Gestalt in Ketten wie zu einem Ball zusammengerollt auf ein paar Brettern, die als Boden in den Käfig gelegt worden waren.

Sie setzte die Kerze ab und auch ihren Korb.

„Graf Arpad“, murmelte sie, erwartete jedoch im Grunde keine Antwort von dem Schwerverletzten. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sie kennen mich nicht. Ich bin Charlotte von Sandling. Bitte glauben Sie mir, ich wußte nichts von dem, was diese Monster mit Ihnen vorhatten. Ich wußte nicht einmal, daß Sie eingeladen waren.“

Sie kniete sich vor den engen Käfig und untersuchte ihn näher. Dann kam ihr der Gedanke, daß der Mann eventuell gar nicht mehr lebte. Sie faßte durch die Gitterstäbe und berührte sein Gesicht. Er bewegte den Kopf ein wenig und küßte ihre Handfläche. Seine Lippen liebkosten ihre Haut. Sie zuckte zusammen und hatte plötzlich Angst.

„Sie sind bei Bewußtsein“, wisperte sie und fühlte sich ausgesprochen dumm. Sie hatte gehofft, daß er sie verstehen würde, doch wirklich daran geglaubt hatte sie nicht.

„Ja“, entgegnete er. Seine Stimme klang sanft und angestrengt, verriet die Schmerzen, die er litt.

„Ich will Ihre Wunden versorgen“, sagte sie. „Deshalb bin ich hier, und ich will alles tun, was ich kann, um Sie aus dieser Lage zu befreien.“

„Ich kann Ihnen da wenig helfen.“ Er klang nicht wie jemand, dem man gerade dreimal in die Brust geschossen hatte. Seine Stimme wirkte angespannt, und er rang zwischen den Worten nach Luft, doch er klang kohärent, und es ging ihm offenbar gut genug, um mit ihr zu sprechen. Sie konnte so viel Widerstandskraft kaum fassen. Nach einem weiteren rasselnden Atemzug fuhr er fort: „Man hat mich mit Ketten gefesselt. Der Käfig ist kalteisenverstärkt. Ich muß ihn nur anfassen, um zu verbrennen und zu sterben. Die Nähe des Materials allein bereitet mir Schmerzen und macht mich hilflos.“

Sie hatte von dem Material noch nie gehört. Doch sie zweifelte nicht an seinen Worten. Er mußte mehr darüber wissen als sie.

„Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“ fragte sie. „Ich möchte Ihnen versichern, daß ich bereit bin, absolut alles und jedes zu tun, um Sie in Sicherheit zu bringen. Sie sind als Gast in mein Haus gekommen. Ihr Wohlergehen ist meine Verpflichtung.“

Er blickte ihr ins Gesicht – sie fühlte es mehr, als daß sie es sah – und es war ihr peinlich, daß es so aussah, wie es eben aussah. „Haben Sie versucht einzugreifen?“ fragte er. „Hat man Sie geschlagen?“

„Ja, aber das ist jetzt nicht wichtig.“ Sie fummelte an dem Riegel herum, der den Kasten verschlossen hielt. Es war ein bißchen umständlich, jedoch nicht schwierig, ihn zu öffnen. „Das sieht ganz einfach aus“, sagte sie.

„Sie können ihn anfassen, ohne zu verbrennen. Ich nicht. Unten am Boden ist ein zweiter Riegel, den müssen Sie auch noch öffnen.“

Der zweite Riegel bewegte sich nicht so einfach wie der erste, und sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, als noch ein Fingernagel sich nach hinten bog und brach. Doch dann zog sie die Klappe auf.

„Gutes Mädchen“, lobte er, und sie war plötzlich unbeschreiblich stolz. „Ich fürchte, Sie müssen mich herausziehen. Bitte seien Sie vorsichtig und kommen sie nicht mit mir an die Stäbe. Sonst halten Sie bald einen ziemlich toten Mann in Händen.“

Er wand und schlängelte sich innerhalb des Käfigs herum und zischte dabei vor Schmerz. Er hörte auf, sich zu bewegen, als er mit dem Kopf in ihre Richtung lag.

„Glauben Sie, Sie schaffen es? Sind Sie stark genug?“

Sie holte tief Luft.

„Ich bin nicht schwach, Graf Arpad“, antwortete sie. „Allerdings gebe ich zu, daß ich Angst habe, Sie dabei noch schlimmer zu verletzen. Doch wir haben nicht viel Zeit. Draußen war ein Posten. Ich habe ihn mit meiner Kohlenschaufel auf den Kopf geschlagen, aber ich weiß nicht, wann er wieder aufwachen wird.“

Sie sah, wie ein leichtes Lächeln über seine Züge glitt.

„Sie sind eine Frau nach meinem Herzen. Haben Sie keine Angst um meine Verletzungen. Solange Sie mich nicht mit dem Kalteisen in Berührung bringen, kann alles heilen.“ Er holte tief Luft, bereitete sich auf das Martyrium vor. „Jetzt.“