Kapitel 5
Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens. Normalerweise schlief Cérise zu dieser Zeit noch. Sie hielt nichts von frühem Aufstehen. Zu wenig Schlaf schadete der Schönheit.
Sie überprüfte noch einmal ihr Aussehen. Ihr blaßgrünes Seidenkleid unterstrich die Farbe ihrer Augen, und die honigfarbene Spitze brachte das Gold in ihrem hellblonden Haar besonders gut zur Geltung. Ihre Kopfbedeckung war eine zauberhafte Kreation aus der gleichen grünen Seide, Paradiesvogelfedern und Goldspitze. Ihr Stil war exquisit, und sie war sich dessen bewußt. Allerdings hätte man auch bei großzügigster Auslegung diesen Aufzug nicht als Vormittagsgewand bezeichnen mögen.
Bedauerlich, daß Delacroix nicht da war. Oder Mr. Fairchild, wie er mit richtigem Namen hieß. Als sie noch seine Geliebte gewesen war, hatte er überwiegend unter seinem Decknamen agiert. Doch nun war er anständig und seriös geworden. Als könnte Delacroix das je! Seriosität und Delacroix – zwei unüberbrückbare Gegensätze. Unvorstellbar.
Sein Frauchen paßte außerordentlich gut zu ihm, dachte sie mit leiser Häme. Ihre Vergangenheit und ihre Herkunft waren genauso bizarr wie seine, bei all ihrer ostentativen Wohlanständigkeit. Sie waren wie für einander gemacht, der großgewachsene, wuchtige Delacroix und die kleine, süße Corrisande, das niedliche, elfengleiche Mädchen, das zu einem kleinen Teil ein Feyon war.
Kaum einer wußte davon. Cérise hatte es niemandem gesagt. Einen Sí würde sie nie verraten, schon gar nicht, da ihr eigener Liebster auch dieser Gattung entstammte. Torlyn. Ihr Herz krampfte sich bei dem Gedanken an ihn zusammen.
Sie entnahm ihrem Réticule einen kleinen Spiegel und überprüfte noch einmal ihre Wirkung. Sie sah besorgt und abgehetzt aus. Jedenfalls nicht so schön, wie sie gerne ausgesehen hätte. Auf keinen Fall so hübsch wie sonst.
Egal. Fast. Andere Dinge waren wichtiger.
Als sie den Colonel – im Geiste betitelte sie Delacroix immer noch so – mit seiner Frau in Bad Ischl hatte ankommen sehen, hatte sie ihn nicht angesprochen oder auf sich aufmerksam gemacht. Delacroix war Vergangenheit, und wie sie sich seiner jungen Ehefrau gegenüber verhalten sollte, wußte sie auch nicht, obgleich sie sie kennengelernt hatte, als das Mädchen noch Corrisande Jarrencourt gewesen war. Es war unwahrscheinlich, daß ein Mann seiner Frau von früheren Affären erzählte. Oder doch? Es wäre ihm zuzutrauen gewesen, so etwas gänzlich Unglaubliches zu tun. Wie auch immer – sie hatte den Gedanken, sich mit den beiden zu treffen, degoutant gefunden. Manche Dinge beließ man besser in der Vergangenheit. Zudem legte Delacroix seiner ehemaligen Geliebten gegenüber immer ein eklatant schlechtes Benehmen an den Tag, und es ging nie ohne einen heftigen Streit ab.
Das mochte sich natürlich geändert haben. Oder auch nicht.
Sie blickte wieder verkrampft in den Spiegel. Gewiß nicht in Hochform. Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihr Lächeln wirkte müde. Doch das tat nichts zur Sache. Delacroix war nicht da, hatte die Hausangestellte gesagt, und konnte sie nicht so sehen, und selbst wenn er dagewesen wäre, so wäre es ihm vermutlich erschreckend gleichgültig gewesen, ob sie Ringe unter den Augen hatte oder nicht. Das allein war unerfreulich genug.
Gleichwohl wollte sie so gut aussehen, wie sie konnte. Das wollte sie immer, doch besonders jetzt, da sie der Ehefrau ihres einstigen Liebhabers begegnen würde. Unerklärlicherweise war es ihr wichtig, besser auszusehen als die kleine, hübsche Person mit den großen blauen Augen, die das Herz des wilden Recken erobert hatte. Denn das war es letztlich, was Delacroix war, ein Kämpe, ein Kämpfer, ein Krieger, stark, entschlossen und einfallsreich, mutig und leidenschaftlich.
Die Tür öffnete sich, und ihr wurde klar, daß sie sich keine Sorgen hätte machen müssen. Corrisande sah furchtbar aus. Sie war blaß, verhärmt und hatte etwas Verlorenes an sich. Tatsächlich wirkte sie krank, und die Ringe unter ihren Augen waren ganz gewiß übler als die Cérises. Ihr dunkelblaues Kleid ließ sie zusätzlich blaß wirken. Eine schlechte Wahl.
Die Sängerin lächelte.
„Guten Morgen, Mrs. Fairchild“, grüßte sie. „Es tut mir leid, daß ich so früh störe, doch ich muß mit Delacroix sprechen. Es ist ausnehmend wichtig.“
Die kleine, blauäugige Frau blickte sie streng an und deutete auf einen Stuhl.
„Guten Morgen“, antwortete sie mit einem porzellanenen Lächeln. „Nehmen Sie doch Platz. Philip ist nicht da. Es tut mir leid.“
Die Stille zog sich. Keine der beiden rührte sich vom Fleck. Sie standen nur da und starrten einander an in dem Versuch zu ergründen, was die jeweils andere wollte. Hinter ihrer bockigen Bewegungslosigkeit tobte ein lautloser Revierkampf. Cérise wußte, daß sie auf fremdem Gebiet wilderte. Bedeutungslos. Sie würde das hier ausfechten, wenn es sein mußte.
„Oh“, sagte sie nach einer Zeit und schenkte ihrem Gegenüber ein leutseliges Lächeln. „Wann kann ich ihn erreichen?“
Mrs. Fairchild senkte den Blick.
„Ich weiß nicht“, sagte sie, und diesmal waren Besorgnis und Furcht in ihrer Stimme unverkennbar. „Ich weiß es einfach nicht“, wiederholte sie, dann setzte sie sich mit einem Mal auf einen Stuhl, noch bevor ihr Gast saß, ein eklatanter Bruch der Etikette, der Cérise überraschte und wütend gemacht hätte, wäre ihr nicht aufgefallen, daß die Gemahlin ihres einstigen Liebhabers zitterte.
Wenn dies ein Duell war, hatte Delacroix’ Frauchen es gerade verloren. Doch Cérise kostete ihren Sieg nicht aus. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dazu.
„Was ist geschehen?“ fragte sie freundlich und spürte mit einem Mal allzu deutlich Corrisandes Panik.
Mrs. Fairchild rang um Fassung.
„McMullen brauchte seine Hilfe, um seinen im Gebirge vermißten Neffen zu finden. Er ist abgereist. Er sagte, er sei bald zurück. Aber ich habe nicht einmal eine Nachricht von ihm. Keinen Brief. Nichts.“ Ihr Blick war immer noch auf den Teppich zu ihren Füßen gerichtet, dann sah sie in die schönen, grünen Augen der Sängerin. „Ich mache mir Sorgen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie sind weiter ins Gebirge gereist, an einen Ort namens Aussee. Es ist nicht weit. Er hat versprochen, Nachricht zu senden.“
„Er ist mit McMullen zusammen?“ fragte Cérise.
„Sie sind gemeinsam losgeritten. Sie wollten an den Ort, von dem der letzte Brief des Jungen kam. Ehe er spurlos verschwand – und sein Lehrer dazu.“
Cérise spürte, daß das noch nicht alles sein konnte. Sie kannte McMullen, hatte den freundlichen Meister des Arkanen bei der Arbeit erlebt, als sie noch mit Delacroix zusammen gewesen war. Manchmal hatte sie den britischen Offizier damals bei seinen geheimen Aufträgen unterstützt und war ihm mehr als nur seine Liebste gewesen.
„Ich würde mich nicht um ihn sorgen“, fuhr Corrisande fort. „Es kann sein, daß sie einige Tage brauchen, um alle zu befragen und überall zu suchen. Doch ...“ Sie hielt inne, schöpfte tief Luft und fuhr dann fort: „... es mag albern klingen, aber ich hatte einen ganz furchtbaren, sehr realistischen Traum. Er war in Gefahr. Ich bin aufgewacht und spürte, daß ... er verloren war. Unwiederbringlich. Es hat mich sehr mitgenommen.“ Sie sah etwas verlegen aus. „Sie halten mich wahrscheinlich für eine dumme Gans, daß ich mich von einem Alptraum so erschrecken lasse.“
Cérise lächelte nicht. Zum einen wußte sie, daß die zierliche Frau weit mehr Schneid hatte, als man ihr zutraute, wenn man sie so sah. Zum anderen konnte sie genau nachvollziehen, wie Corrisande sich fühlte.
Sie fühlte sich ganz genauso.
„Ich halte Sie nicht für eine dumme Gans“, erwiderte sie. „Ich bin gekommen, weil ich mir Delacroix’ Hilfe bei der Suche nach Graf Arpad erhoffte.“ Arpad war der Name Torlyns, den er Menschen gegenüber gebrauchte und den auch sie benutzte, wenn sie über ihn sprach. Der Name Torlyn blieb ein Geheimnis. „Er hat versprochen, hierzusein. Ich habe in Ischl eine Reihe Konzerte gegeben. Sein Kommen und Gehen ist gelegentlich etwas unerwartet, doch er hatte versprochen, hierzusein, und auf seine Art ist er verläßlich, selbst wenn sein Leben nicht in geregelten Bahnen verläuft.“
Die letzte Aussage war falsch. Einige Dinge waren bei Torlyn über alle Maßen geregelt und zudem gefährlich. Normalerweise gelang es Cérise jedoch, die Erkenntnis über seine Besonderheit aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie war seine Liebste und nicht … was auch immer.
Sie fuhr fort.
„Wie Sie würde auch ich mir normalerweise keine Sorgen machen. Er ist stark, schlau und weiß sich wohl zu schützen. Doch wie Sie hatte ich in der letzten Nacht einen schrecklichen Traum, der mich in den frühen Morgenstunden geweckt hat und mich nicht mehr ruhen ließ. Er schien so viel mehr zu sein als nur ein Traum.“
Die beiden Frauen sahen einander gespannt an, als hätten die Alpträume sie in eine seltsame Komplizenschaft gezogen.
„Arpad war in einem Gebirge“, fuhr Cérise fort. „Er lief glitzernde, enge Tunnel entlang, immer tiefer nach unten in die Erde. Er verblutete. Blut rann aus ihm heraus, in salzigen Rinnsalen, formte kleine Bäche im Fels. Er starb langsam, und ich versuchte, ihn zu erreichen, doch er ging einfach nur immer weiter, verlor dabei immer mehr Blut, trocknete aus ...“ Sie hielt inne, als sie feststellte, daß ihre Gastgeberin noch eine Spur blasser geworden war.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte sie.
Corrisande blickte peinlich berührt zur Seite.
„Bitte machen Sie sich keine Sorgen um mich, Mlle. Denglot“, bat sie. „Mir ist in letzter Zeit häufiger etwas unwohl. Es hat nichts zu sagen. Ignorieren Sie es.“
Die Sängerin blickte der Frau ihres ehemaligen Liebhabers ins blasse, abgespannte Gesicht und wußte plötzlich Bescheid. Sie grinste schief.
„Sie sind guter Hoffnung?“ fragte sie, doch es war weniger eine Frage als eine Feststellung, eine recht unverschämte und viel zu private dazu. Der Zustand Corrisandes ging sie rein gar nichts an. Dennoch fühlte sie einen kleinen Stich von Eifersucht. Nicht, daß sie gerne schwanger gewesen wäre, Gott behüte, und schon gar nicht von Delacroix. Ihre Karriere ließ ihr zu so etwas keine Zeit, und zudem war sie unverheiratet. Es war also undenkbar.
Doch sie hatte nicht einmal die Wahl. Die Geliebte eines Feyons zu sein hatte seine Vor- und Nachteile. Ein Familienleben im üblichen Sinne würde sie nie haben können.
Corrisande errötete.
„Ja“, gab sie zu und klang alles andere als beglückt. „Wir wollen nicht davon sprechen. Es geht mir gut.“
Doch Cérise konnte das Thema nicht einfach so fallenlassen.
„Sie erwarten ein Kind – und Delacroix verschwindet einfach in die Berge und läßt Sie allein ohne Nachricht in diesem eher zweitklassigen Etablissement? Mon Dieu, das sieht ihm ähnlich!“ Sie klang verärgert.
„Aber nein, bitte glauben Sie nicht, er sei gefühllos mir gegenüber. Ich habe ihm noch gar nichts ...“
„Sie haben es ihm nicht gesagt?“
„Nein.“
Die Sängerin starrte das Mädchen entgeistert an. Delacroix’ Gemahlin wirkte immer so jung, daß man unwillkürlich dazu neigte, sie wie eine Debütantin zu behandeln und ihr Ratschläge zu erteilen, die sie gar nicht brauchte. Sie war tatsächlich jünger als Cérise, doch wahrscheinlich nicht mehr als ein oder zwei Jahre – nun ja, drei möglicherweise. Ihr Fey-Erbe beeinflußte ihren Alterungsprozeß ausgesprochen positiv. Cérise war neidisch auf diese Gabe. Aber neidisch oder nicht, sie hatte kein Recht, der Gattin ihres Liebhabers Ratschläge für die Ehe zu erteilen. Dreist wäre das und aufdringlich.
Sie tat es trotzdem.
„Sie müssen es ihm sagen! Er hat ein Recht, es zu wissen. Er wäre gar nicht erst in die Berge verschwunden, wenn er das gewußt hätte.“
Zu ihrem Unbehagen begann Mrs. Fairchild auf diesen Satz hin zu weinen. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, und ihre Schultern zuckten.
„Wenn er stirbt, ist es mein Fehler“, würgte sie zwischen einzelnen Schluchzern hervor.
„Du lieber Himmel! Natürlich nicht!“ beeilte Mlle. Denglot sich zu versichern und wünschte sich weit, weit weg. „Das habe ich doch nicht so gemeint. Bitte beruhigen Sie sich, Mrs. Fairchild!“ Sie hielt inne, unsicher, wie sie mit der unangenehmen Situation umgehen sollte. „Corrisande!“ fuhr sie dann fort. „Ich darf Sie doch so nennen? Schließlich habe ich Sie im Frühjahr auch so genannt, bevor ... bitte ...“ Sie blickte etwas hilflos auf die weinende Frau vor ihr.
Dann kniete sie sich neben Delacroix’ feingliedrige Ehefrau und nahm sie am Arm.
„Corrisande! Reißen Sie sich zusammen! Sie sind doch eine tapfere Frau! Sie haben die Außenmauer unseres Hotels erklommen, um uns zu warnen, und es hat dabei geregnet, und Ihre Hände waren gefesselt. Sie haben es trotzdem getan. Also verkneifen Sie sich jetzt bitte irgendwelche nervösen Zustände. Delacroix würde den Schock seines rücksichtslosen, männlichen Lebens bekommen, wenn er wüßte, daß Sie sich inmitten einer Krise Zeit für einen Weinkrampf gönnen.“
Sie spürte, wie die andere Frau mit Macht um Fassung rang.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Corrisande nach einer Weile und wischte sich die Tränen ab. „Ich hätte mich nicht so gehenlassen dürfen. Es ist unentschuldbar. Doch in letzter Zeit scheine ich unter schrecklichen Launen zu leiden.“
„Nun“, erwiderte Cérise trocken, „Unausgeglichenheit und Gemütsschwankungen gehören zu Ihrem Zustand dazu.“
„Ach ja?“ fragte Corrisande.
„Wußten Sie das nicht?“
Die junge Frau lächelte verschämt.
„Ich weiß nicht viel über – den Zustand.“
„Meine liebe Corrisande, in diesem Fall schlage ich Ihnen dringend vor, einen Arzt oder eine Hebamme aufzusuchen, die Ihnen darüber Auskunft gibt.“ Cérise hatte wenig Verständnis für Frauen, die sich mit ihren geschlechtsbedingten Eigenarten nicht befaßten. Britinnen waren besonders lebensfern, wie sie fand, und gaben aus lauter Schamhaftigkeit vor zu glauben, daß der Storch die Kinder brachte und sexuelle Leidenschaft etwas war, das man am besten ignorierte.
Allerdings glaubte Cérise nicht, daß die junge Frau die geschlechtliche Seite der Ehe besonders gut ignorieren konnte. Nicht mit einem Ehemann wie Delacroix. Er war heißblütig, sexuell aktiv und über alle Maßen leidenschaftlich – wie sie sehr genau wußte. Ein feuriger, wilder Liebhaber war er gewesen. Doch sie vermißte ihn nicht. Torlyn bot mehr, als ein menschlicher Mann je bieten konnte.
Corrisande errötete wieder.
„Nun, als wir England verließen, wußte ich es noch nicht, und später ... war es zu spät.“ Die Aussage klang ein wenig verworren, doch Cérise verstand. „Außerdem kenne ich keine Ärzte oder Hebammen, die sich darauf spezialisiert haben, Frauen zu behandeln, die nicht ... nicht ganz ...“ Sie atmete tief durch. „Die keine Menschen sind. Ich weiß nicht, wen ich fragen soll.“
„Oh“, flüsterte Cérise und begann zu begreifen. „Ist es das, was Ihnen Sorgen bereitet?“
Corrisande nickte und fuhr fort: „Ich hatte gehofft, den Aufenthaltsort Graf Arpads zu erfahren. Er ist der einzige Feyon, den ich kenne, und könnte mir sicher die eine oder andere Frage beantworten. Es ist so frustrierend, wenn man nichts über sein Erbe und dessen mögliche Auswirkungen weiß. Falls es Ihnen nichts ausmacht, daß ich ihn um Rat bitte.“
Cérise erhob sich und begab sich zurück zu ihrem Stuhl.
„Keineswegs. Doch ich weiß nicht, wo er ist“, sagte sie. „Ich bin mir auch nicht sicher, ob er der richtige Ansprechpartner für Sie ist, wenn es um Dinge wie Geburt geht.“ Der Gedanke erschien ihr sonderbar. Sie stellte sich eine Visitenkarte vor: Graf Arpad, Raubtier und Geburtshelfer. Oder besser „Accoucheur“ – das klang modern und allemal eleganter. Sie verdrängte die abstruse Vorstellung aus ihren Gedanken. „Ich könnte mir vorstellen, daß seine Erfahrung auf diesem Gebiet nicht groß ist. Aber wer weiß?“ fügte sie etwas trocken hinzu. „Schließlich müssen Sí sich ja auch irgendwie reproduzieren. Wir haben das nie erörtert.“
Corrisandes Wangen brannten. Die Sängerin lächelte.
„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „müssen wir ihn zuerst finden, und Delacroix auch, und natürlich McMullen.“
Corrisande nickte.
„Ich erzähle Ihnen besser alles, was ich weiß“, sagte sie. „Es ist nicht viel. Philip und McMullen sind mit wenig Hintergrundwissen nach Aussee gefahren, und ich weiß nicht, was wir tun könnten, außer ihnen nachreisen.“
Sie berichtete über die Briefe, die McMullen ihr und Philip gezeigt hatte.
„Sehen Sie“, fügte sie hinzu, „viel ist da nicht, was einem weiterhelfen könnte. McMullens Neffe war – oder ist – ein unvorsichtiger Junge. Man kann allzuleicht im Gebirge verlorengehen. Die Alpen sind hoch und wild. Es ist jedoch das Verschwinden des begleitenden Hauslehrers einige Tage später, das die Sache so verdächtig erscheinen läßt, und unsere Träume sind einander so ähnlich, daß ich nicht umhin kann zu glauben, daß sie eine Bedeutung haben. In meinem Traum war Philip auch in diesen glitzernden Höhlen unterwegs und drang immer tiefer in den Berg vor, und ich fühlte ganz deutlich, daß er in eine Falle lief.“
Cérise sah, wie sich Corrisandes Hände in die Armlehnen ihres Stuhles krallten. Ihre Knöchel waren weiß.
„Was nun?“ fragte die Sängerin schließlich.
Die Frauen schwiegen.
„Mlle. Denglot“, begann Corrisande nach einer Weile.
„Nennen Sie mich Cérise“, unterbrach die Primadonna, und Corrisande nickte, ohne auch nur darüber nachzudenken, daß es ungehörig war, auf so vertrautem Fuße mit der Exgeliebten ihres Gatten zu verkehren.
„Cérise, so wie ich das sehe, können wir entweder hier sitzen, warten und beten, daß sie von allein wieder auftauchen oder versuchen, sie zu finden. Wenn unsere Alpträume nichts weiter bedeuten und sie in Sicherheit sind, dann müssen wir uns auf nicht mehr gefaßt machen als ihren Unwillen und ihren Spott. Doch wenn unsere Sorge berechtigt ist, dann würden wir uns nie verzeihen, wenn wir nicht versucht hätten, ihnen zu helfen.“
Cérise nickte.
„Das heißt, wir müssen reisen, und gefährlich mag es auch werden“, gab sie mit einem besorgten Blick zu bedenken. „Geht es Ihnen gut genug dafür?“
„Ja“, antwortete Corrisande. „Ich werde tun, was getan werden muß. Ich will, daß mein Kind einen Vater hat.“
Einen Augenblick lang sagten sie beide nichts. Dann holte Corrisande tief Luft.
„Eines müssen Sie noch wissen“, sagte sie. „Philip hatte einen furchtbaren Angsttraum, ehe er abreiste. Er war sehr beunruhigt. Er bekommt manchmal solche Alpträume, seit er damals als Junge diese Begegnung hatte ...“
„Ich weiß“, erwiderte die Sängerin und merkte dann, daß sie damit zuviel gesagt hatte. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich.
„Ich weiß, daß Sie das wissen“, sagte Corrisande verschämt. „Ich weiß, daß Sie einander nahestanden, und ich weiß, wieviel Sie ihm bedeutet haben. Ich versuche, nicht eifersüchtig zu sein.“
„Seien Sie es nicht. Es ist lang her.“ Immerhin eineinhalb Jahre. „Ich habe Arpad, Sie haben Delacroix, und so haben wir jede, was wir wollen. Versuchen wir, Freundinnen zu sein. Wir haben ein gemeinsames Ziel, und wir sind starke Frauen, die wissen, was sie wollen, und lieber losziehen und dafür sorgen, daß es geschieht, als zu Hause am Stickrahmen sitzen. Wir müssen zusammenarbeiten – auch wenn Sie im Augenblick ein wenig launisch sind und ich die meiste Zeit ein kleines bißchen skandalös bin.“
Sie hielt inne und sah Corrisande an, die ihr zulächelte. „Hat Delacroix gesagt, was er geträumt hat? Vielleicht wäre es gut, das zu wissen.“
„Nein“, flüsterte Corrisande. „Er ist schrecklich verschwiegen, was seine Träume angeht.“
„Er hält sie für eine Schwäche und haßt es, Schwäche zu zeigen“, nickte Cérise.
Corrisande biß sich auf die Lippen. Es war erschreckend, wie gut die Frau ihren Ehemann kannte.
„Hat er Ihnen seine Träume erzählt?“ fragte sie und fürchtete sich zugleich vor der Antwort. Sie wollte nicht, daß Philip seine Ängste mit dieser Frau geteilt hatte und mit ihr nicht.
„Nein, kein einziges Mal“, antwortete Cérise. „Er sagte nur, daß sie die Zukunft vorhersagen, dabei aber so wirr sind, daß er die Botschaft nicht deuten kann.“
Corrisande nickte. Das war in etwa auch das, was er ihr gesagt hatte.
„Ja“, sagte sie. „Sie bieten sinnbildlich-verzerrte Einblicke in bevorstehende Ereignisse, deren Inhalt man erst begreift, wenn diese eingetroffen sind. Ich wünschte, er würde sie mir erzählen.“
Sie sah so unglücklich aus, daß die Sängerin ihr die Hände entgegenstreckte, die sie dankbar ergriff.
„Er wird es Ihnen irgendwann sagen“, beteuerte Cérise. „Gewiß.“
„Vorausgesetzt, wir finden ihn – sie.“
„Natürlich finden wir sie. Haben Sie schon dejeuniert? Ich auch nicht. Wir sollten uns Frühstück kommen lassen und planen, was zu tun ist.“
Corrisande lachte. Wahrscheinlich würde sie auf die Nähe, die ihr Mann und diese unglaublich schöne und talentierte Frau miteinander genossen hatten, immer ein wenig eifersüchtig bleiben. Dennoch konnte sie nicht umhin, sie auch zu mögen. Doch auch wenn sie sie nicht gemocht hätte, wäre das einerlei gewesen. Sie waren jetzt ein Team.