Kapitel 2

Er hatte sie Charly genannt. Er – oder sie? Sie hatte es nie gewußt. Charlotte von Sandling hatte es als Kind nicht wichtig gefunden zu wissen, welches Geschlecht ihr Freund, ihre Freundin hatte. Manchmal erschien er als Junge, manchmal als Mädchen, je nachdem, was sie spielen wollten. Ein paar Mal, immer wenn sie nach Rat gesucht hatte, war er als junge Frau erschienen, schön und liebenswert, vertrauenswürdig, verläßlich und weise.

Einmal war er als Mann gekommen. Das hatte sie sehr verunsichert. Sie hatte keine Angst gehabt, doch als er sie anlächelte, war etwas in ihr erwacht.

Damals war sie vierzehn gewesen. Mit einem Finger hatte er ihr die Wange gestreichelt und gelächelt, und sie hatte verstanden, daß sie nicht für immer ein Kind bleiben würde, daß sie älter werden würde, erwachsen, und daß er dann für sie da sein würde, dieser Mann. Der Gedanke war ein wenig beängstigend, doch auch spannend und verlockend gewesen. „Charly, meine Charly“, hatte er gesagt, „du wächst so schnell heran. Aber noch bist du zu jung.“ Dann hatte er sich in das Mädchen verwandelt, mit dem sie so oft und gerne gespielt hatte, dort im Wald, bei seinem Baum.

Sie hatte nie jemandem von ihm erzählt. Dennoch hatten sie es herausgefunden und seinen Baum verbrannt. Sie hatte ihn schreien und sterben hören und gewußt, daß kein Erwachsener irgendwelche Gewissensbisse dabei verspürte. Sie hatte gekämpft, gebettelt und geweint, doch man hatte ihr nicht zugehört, sondern sie eingesperrt und gesagt, es sei so für sie am besten. Den Fey könne man nicht trauen. Sie sollten gar nicht existieren, hatte ihr Vater gesagt, und sie solle nie jemandem von ihrer Begegnung erzählen, denn andere Menschen hörten so etwas nicht gerne. Die meisten würden ihr gar nicht glauben und sie für eine Lügnerin halten, aber die, die ihr glauben würden, würden sie für etwas noch viel Schlimmeres halten. Wofür, hatte er nicht gesagt.

Sie trauerte um ihn und verlor viel von ihrer Fröhlichkeit. Lange lächelte sie nicht mehr. Man steckte sie in ein teures Institut für höhere Töchter, wo man sie lehrte, ein sittsames, braves Mädchen zu sein, fromm und gehorsam. Dort sollte sie lernen, später einem geeigneten Mann eine gute Frau zu sein, und wer dieser Mann sein sollte, das hatten ihre Eltern auch schon festgelegt: Leopold von Waydt.

Gegen die Disziplin des Instituts hatte sie aufbegehrt und sich den Lerninhalten verschlossen, die ihr so widersinnig und unwahrhaftig erschienen. Nutzlose Informationen für einen fühlenden, denkenden, intelligenten Menschen mit einem unabhängigen Wesen. Nach einiger Zeit gab sie auf, vergrub ihre Erinnerungen tief in sich und lernte, so zu sein, wie man es von ihr verlangte. Oder zumindest so zu scheinen. Ihre kleinen Fluchten nahm sie sich, wann immer es opportun war.

Es machte keinen Unterschied. Sevyo war tot, und niemand würde je so sein wie er.

Jetzt saß sie auf der kleinen, kreisrunden Waldlichtung, den Rücken an den Stamm ihrer Lieblingseiche gelehnt. Kein neuer Baum hatte den Platz des verbrannten eingenommen. Als respektierten sie das Grab eines hölzernen Freundes, wuchsen die Bäume um Sevyos zerstörtes Heim herum, das sie versteckten, jedoch nicht einnahmen. Blumen wuchsen auf der Lichtung, die niemand gepflanzt hatte. Sie sprossen einfach aus der Erde und verwandelten Sevyos Aschegrab in ein Blumenbeet.

Wenn sie seine Blumengruft besuchte, sah sie ihn in ihrem Gedächtnis ganz klar vor sich, erinnerte sich an die Spiele, die sie gespielt hatten, und an die Dinge, die er sie über das Leben und über die Natur gelehrt hatte. Darüber, was Freiheit bedeutete. Er hatte sie gelehrt, mehr auf Inhalt als auf Worte zu achten, die Gefühle anderer deutlicher zu erkennen und zu bemerken, wenn jemand sie manipulieren oder mit einem Zauber belegen wollte. All das hatte ihr mehr bedeutet als höfliche Konversation, exzellente Manieren, die Fähigkeit, einem Haushalt vorzustehen und eine gute Gastgeberin zu sein.

„Sevyo“, sagte sie, denn sie sprach immer mit ihm, wenn sie ihn an seinem Ort besuchte, obgleich sie wußte, daß er tot und unwiederbringlich verloren war, „ich kann heute nur kurz bleiben. Wir werden übermorgen Gäste haben, und es ist schrecklich viel zu tun. Leopold kommt.“

Sie machte eine Pause und ringelte eine dunkelbraune Haarsträhne, die ihrer allzu nachlässigen Frisur entkommen war, um ihren Finger. Ihr Haar war andauernd in Auflösung begriffen. Sie wußte wahrlich nicht, wie es anderen Damen gelang, ihre Frisur in Ordnung zu halten.

„Ich nehme an, er kommt, um um meine Hand anzuhalten.“ Sie schnitt eine Grimasse und grinste dann. „Oder vielleicht, um mich zu begutachten und dann zu entscheiden, ob ich ihm zur trauten Zweisamkeit passe. Unsere Eltern sind nicht mehr am Leben, und sie haben unsere geplante Verehelichung nicht vertraglich festgehalten. Vielleicht mag er mich ja nicht.“

Sie sagte das ohne Reue. Sie hatte Leopold einige Male gesehen, als er noch ein Knabe war. Etwas älter war er als sie, wohlerzogen und ansehnlich. Nur hatte sie sich nicht für ihn interessiert, denn damals hatte Sevyo noch gelebt. Fast immer hatte sie den schlaksigen, dunkelhaarigen Jungen schlichtweg ignoriert.

„Wahrscheinlich könnte ich es schlechter treffen. Er stammt aus einer guten Familie, ist intelligent, gutsituiert und hat, soweit ich weiß, eine aussichtsreiche Stellung beim Kriegsministerium. Er kann mir Sicherheit bieten – und vielleicht ist er ja interessant. Er war viel auf Reisen, sogar auf einer Afrikaexpedition. Vielleicht hat ihn das ein bißchen aufgeschlossener gemacht als seine Eltern. Das wäre aber nicht schwer. Verknöchertes Volk.“ Sie streckte die Zunge heraus wie ein ungezogenes Kind und lächelte dann über ihr eigenes Benehmen. „Wenigstens muß ich ihn nicht heiraten, wenn ich ihn nicht mag. Ich bin jetzt volljährig.“

Gott sei Dank. Wenn es nach ihren Eltern gegangen wäre, hätte sie Leopold sofort nach Abschluß ihrer Schule geheiratet, noch mit siebzehn. Doch dann war ihre Mutter krank geworden und gestorben, und man konnte nicht heiraten, wenn man in Trauer war. Kurz darauf hatte ihr Vater einen Sturz vom Pferd nicht überlebt. Er hatte sich den Hals gebrochen. Wieder Trauerzeit, wieder keine Hochzeit, und inzwischen war Leopold zu einer Expedition ins Innere Afrikas aufgebrochen, vermutlich, um etwas Nützliches zu tun. Charly nahm an, daß die Erforschung der Erde prinzipiell nützlich war. Jedenfalls war er beschäftigt und weit weg gewesen und hatte nicht auf eine rasche Beendigung der Trauerzeit gedrängt.

Tatsächlich hatte Charly nicht sehr getrauert. Sie hatte ihre Eltern nur selten gesehen. Ihr Vater war politisch aktiv gewesen, und ihre Mutter hatte ihn bei seinen Ambitionen unterstützt, war eine exzellente Gastgeberin und ein gut funktionierendes Rädchen im Getriebe der besseren Gesellschaft gewesen. Meist hatten Charlys Eltern in Wien gelebt, während Charly auf dem Lande aufwuchs, in den Bergen nahe Aussee, wo der Familienstammsitz lag. Sie nannten das Gebäude das Schlößchen, doch es war eher ein Gut mit Weiden und Wäldern, Ländereien, die der Familie ihren nicht unerheblichen Wohlstand einbrachten.

Sie war in der Obhut von Gouvernanten aufgewachsen, und was sie an Liebe und Sicherheit gebraucht hatte, hatte ihr Sevyo gegeben. So hatte sie ihre Eltern nicht sehr vermißt, als sie noch lebten und noch weniger, als sie schließlich gestorben waren. Sie hatten Sevyo getötet, das hatte sie ihnen nie verziehen.

Solange sie noch unmündig gewesen war, war ihr Onkel ihr Vormund gewesen. Er war zu ihr ins Schlößchen gezogen. Er war ein freundlicher Mann, ruhig und belesen. Er hatte seine Bücher und seine modernen politischen Ansichten mitgebracht, Meinungen, die ihn 1848 bei den Aufständen fast das Leben gekostet hätten. Eine gescheiterte Revolution, niedergeknüppelt und vergessen. Heute, siebzehn Jahre später, behielt Herr von Sandling seine Meinungen für sich, sprach nur in sehr privatem Rahmen darüber.

Charly und er verstanden sich von Anfang an. Er war nicht der Meinung, an ihr herumerziehen zu müssen und hinderte sie nicht daran, frei ihrer Wege zu gehen, was unverheirateten Mädchen oft als Wildheit ausgelegt wurde. Es machte ihm nichts aus, daß sie in Stiefeln und kurzen Trachtenröcken durch die Wälder und Berge rings um die Seen strich. Er hatte ihr nicht verboten, seine Bücher zu lesen, obgleich viele davon für junge Damen ungeeignet waren. Er hielt Unbildung nicht für eine Tugend, bei jungen Frauen nicht und auch bei sonst niemandem, und war zudem ein begnadeter Schachspieler, und Charly liebte es, gegen ihn zu spielen. Ab und zu gewann sie.

„Es würde mir vielleicht gar nicht soviel ausmachen, Leopold zu heiraten, wenn ich dann nicht von hier fort müßte. Ich würde es entsetzlich vermissen, wenn ich nicht mehr hierherkommen könnte.“

Sie sah sich um und genoß die rötlichen Herbstfarben des Waldes. Hier war es so schön, und die Pracht der Bäume erinnerte sie an ihren Fey-Freund. Seine Haarfarbe hatte sich immer der Jahreszeit angepaßt: Hellblond im Frühling, warmes Braun im Sommer, Feuerrot im Herbst. Im Winter war sein Haar weiß gewesen. Nur seine Augen hatten sich nie verändert. Blaßgrau waren sie gewesen, wie unpolierte Silbermünzen.

„Vermutlich gehört es sich, zu heiraten und Kinder zu haben. Arterhaltung und so fort. Ich denke nur, ich hätte es vorgezogen, von dir geliebt zu werden.“ Sie seufzte und nahm ein besonders schön gefärbtes Blatt auf, das von einem Baum in ihren Schoß geschwebt war.

„Ich bin nicht traurig“, fuhr sie fort und blickte auf das Blatt, das sie in der Hand drehte, „wirklich nicht. So ist es eben. Ich werde heiraten, Kinder bekommen. Ich habe den Vorgang ehelicher Pflichten in einem von Onkel Traugotts medizinischen Folianten nachgelesen. Die Köchin hat mich dabei erwischt. Es war ihrer Gemütsverfassung nicht zuträglich. Onkel Traugott ist da weniger verbohrt. Wahrscheinlich ist er dankbar, daß ich mir die nötigen Kenntnisse ohne seine Unterweisung aneigne. Anders wäre es uns beiden schrecklich peinlich. Mama hat nie über so etwas gesprochen.“

Sie sah zu dem Dach aus prächtigem Herbstlaub über ihr auf, Ocker, Purpur, verblassendes Grün. Die Morgensonne brach durch die Lücken im Blätterhimmel, und Sonnenstrahlen tanzten auf ihrem ausgewaschenen Alltagskleid.

„Wenn er mich wirklich heiraten will, dann weiß ich wenigstens, was auf mich zukommt. Ich muß allerdings sagen, es ist desillusionierend, so etwas sachlich und explizit in einem Buch zu lesen.“ Sie zog eine Grimasse. „Ich hatte mehr Romantik erwartet. Wenn man es nüchtern betrachtet, ist es nicht anders als die Paarung von Tieren, und die ist mir nicht fremd, schließlich leben wir auf dem Lande. Zucht. Stuten und Hengste. Bullen und Kühe. Männer und Frauen.“ Sie hielt inne und lächelte verlegen. „Ich sollte solche Dinge nicht sagen. Aber ich weiß, du wärst nicht schockiert. Du warst nie schockiert. Deine Meinung zu all dem wäre mir wichtig gewesen.“ Sie preßte das Blatt an ihre Wange. „Deine Liebe wäre mir wichtig gewesen. Mit dir wäre es mehr gewesen als ... Zucht.“

Sie stand auf und strich über ihr einfaches, unmodisches Kleid. Zweiglein und Blätter hingen daran fest.

„Ich muß fort“, seufzte sie. „Er kommt mit einer ganzen Gesellschaft. Übermorgen. Ich muß noch meine guten Kleider in Ordnung bringen und mein Haar. Damit ich attraktiv aussehe, wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Eine Jagdgesellschaft. Das gibt uns immerhin einen Vorwand, einander zu sehen, ohne daß es so wirkt, als würde er zur Begutachtung der Ware anreisen. Dennoch sind acht Gäste auf einmal viel, wo wir so zurückgezogen leben. Die Köchin hat jetzt schon Zustände. Ich hätte gar nicht herkommen sollen. Aber wer weiß ...“

Sie konnte den Satz nicht beenden. Sie wußte nicht, ob sie je hierher zurückkommen konnte, wenn sie erst verheiratet war. Sie würde ihr Zuhause vermissen und ihren sanftmütigen Onkel, der zu Lebzeiten ihrer Eltern nie auch nur die Schwelle des Anwesens hätte überschreiten dürfen. Doch am allermeisten würde sie diesen Ort vermissen mit all seinen Erinnerungen an Vertrauen und Freundschaft, Fröhlichkeit und Liebe.

„Vielleicht mag er mich ja gar nicht“, sagte sie und klang dabei weder hoffnungsvoll noch bekümmert. „Ich bin weiß Gott keine Schönheit. Nicht so wie du, und man hat mir immer gesagt, mein Benehmen sei unelegant und undamenhaft. Ungeschickt. Wahrscheinlich habe ich den künstlichen Charme, den sie mir in St. Theresiens höherer Töchterschule im wahrsten Sinne des Wortes eingebleut haben, schon unterwegs wieder verloren. Schade, sie haben sich solche Mühe gegeben, mich zum perfekten Damenautomaten zu machen. Obgleich die eigentliche Mühe natürlich bei mir lag.“

Sie drehte sich langsam um sich selbst. Das tat sie immer, bevor sie den Ort verließ.

„Ich komme zurück, wenn ich kann“, sagte sie. „Das verspreche ich.“