Kapitel 39
Delacroix konnte unterdessen fast alles um ihn herum erkennen. Es war dunkel, und was er sah, war noch unscharf. Sie waren in einer natürlichen Höhle. Sie hatte einen engen Eingang, den man mit Metallstreben und einem Tor mit Eisendraht verschlossen hatte. Hinter dem Tor sah man einen gewundenen Weg, keinen gehauenen Stollen, sondern einen natürlichen Spalt im Kalkgestein. Von weiter weg drang schwaches Licht heran. Die Lichtquelle konnte er nicht ausmachen, doch es sah nicht nach Tageslicht aus.
Sie waren innerhalb eines Berges voller Löcher. Das Schloß in der Tür würde er aufbekommen, sofern es nicht zauberisch verstärkt war. Versucht hatte er es noch nicht. Erst würde er McMullen zu Rate ziehen. Es ergab keinen Sinn, seine Fertigkeiten im Schlösserknacken preiszugeben, solange seine Freunde noch nicht in der Lage waren, mit ihm zu fliehen. Er konnte einen Krug mit Wasser ausmachen, den ihre Gastgeber ihnen zusammen mit einem Stück dunklem Brot hingestellt hatten. Er faßte Udolf an der Schulter und schüttelte ihn.
„Grossauer! Aufwachen. Man hat uns etwas zu essen gebracht.“
Der Mann drehte sich um, blinzelte in die Dunkelheit, versuchte, etwas zu erkennen.
„Ich kann etwas sehen“, sagte er und gähnte.
„Ich auch“, entgegnete Delacroix. „Ist das gut oder schlecht?“
„Gut, denke ich“, gab Leutnant von Görenczy zurück, setzte sich auf und schnitt eine kleine Grimasse, als er seinen Oberkörper dabei bewegte.
„Geht es Ihnen besser, Herr Grossauer?“
„Mir geht es gut. Wenn ich etwas gegessen habe, werde ich wieder frisch und munter sein.“
„Möglich“, sagte Delacroix. „Dennoch: Übertreiben sie es nicht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht durch zu hastiges Essen oder Trinken ein jähes Unwohlsein auslösen würden. Die Annehmlichkeiten dieses Kerkers sind ziemlich beschränkt.“
„Ich danke Ihnen für Ihre selbstlose Fürsorge. Sie sind zu freundlich. Ich werde mich befleißigen, nicht unbeherrscht zu schlingen.“
Delacroix stand auf und holte Krug und Brot.
„Guten Appetit!“ wünschte er und gab das Brot von Görenczy, während er selbst erst einmal einen Schluck Wasser nahm. Es war frisch und sehr kalt. Direkt aus einem Bergbach, schätzte er.
Von Görenczy brach ein Stück Brot ab und kaute sorgsam darauf herum. Delacroix kniete sich neben McMullen und schüttelte auch ihn. Er war sich nicht sicher, ob er den Meister ansprechen sollte, doch es nicht zu tun, mochte verdächtiger wirken.
„McMullen“, rief er. „McMullen? Möchten Sie einen Schluck Wasser?“
Der Magier öffnete die Augen und blinzelte.
„Ah“, machte er und dann: „Oh.“
Er griff nach dem Krug und trank.
„Danke“, sagte er. „Wo sind wir? Was ist passiert? Warum ist es so dunkel?“
Delacroix starrte ihn an und versuchte, seinen eigenen Blick scharf zu stellen. Es gelang ihm nicht.
„Ein paar Leute haben uns gefangengenommen und in eine Höhle gesperrt. Sie haben uns magisch geblendet, doch der Zauber klingt schon ab. Es scheint einen Zauberer zu geben, einen Forscher und einige Bewaffnete. Was sie von uns wollen, kann ich nicht einschätzen.“
Er hoffte, klargemacht zu haben, daß sie eventuell belauscht wurden. Sie mußten ihre Worte mit Vorsicht wählen. Delacroix sah in der Nähe niemanden, doch wenn er den Magier vom Vorabend richtig einschätzte, würde er nicht allzu nah sein müssen, um sie zu überwachen.
„Möchten Sie Brot? Man hat uns etwas gegeben.“
„Wie charmant. Aber nein danke. Ich bin nicht hungrig. Wasser reicht.“
Das Gespräch versiegte. Die drei wußten nicht so recht, was sie sagen konnten, ohne sich zu verraten. Schließlich fuhr McMullen fort: „Haben Sie sie nach Ian und dem Hauslehrer gefragt?“
„Daß wir die beiden suchen habe ich erwähnt. Sie schienen mir nicht zu glauben.“
„Ich glaube es ja selbst kaum“, erwiderte McMullen. „Wir hätten gar nicht herkommen sollen. Die Chancen, sie zu finden, standen von Anfang an schlecht. Wer mögen diese Leute sein?“ Er nahm noch einen Schluck Wasser.
„Höchstwahrscheinlich Schmuggler“, schlug Udolf vor. Seine Stimme hatte die übliche tollkühne Klangschärfe zurück. Schlaf, Nahrung und Wasser hatten ihn erfrischt. In seinem Alter erholte man sich schnell. „Es gibt hier einen alten Steig nach Italien. Man hat auf ihm einst Salz befördert. Vielleicht ist er für Schwarzhandel in Gebrauch? Das würde einiges erklären.“
„Sie haben keinen Grund, uns hier festzuhalten. Wir sind keine Zöllner, und es interessiert mich nicht im mindesten, wer was wohin schmuggelt, um welche Steuern zu umgehen.“ Das war speziell an etwaige Lauscher gerichtet. „Ich weiß noch nicht einmal, was man von hier schmuggeln sollte. Hier gibt es Salz, keine Diamanten.“
„Eventuell können wir sie ja überzeugen, daß sie nichts von uns zu fürchten haben?“ schlug McMullen vor.
„Das habe ich schon versucht. Sie halten uns für verdächtig.“
Die drei Männer blickten einander an.
„Tut mir leid“, sagte McMullen schließlich. „Ich kann mich kaum an gestern erinnern. Die Welt wurde dunkel, und ich bin erst jetzt erwacht.“
„Ich habe Sie bis hierher getragen“, erklärte Delacroix, „und bevor ich Sie noch einmal irgendwohin trage, sollten Sie tunlichst dem Shortbread eine Weile nicht zusprechen.“
„Meine Herren“, unterbrach Udolf. „Gespräche über Kekse werden uns nicht weiterbringen.“
Delacroix unterdrückte ein Schmunzeln. Von Görenczy klang allzu ungehalten. Offenbar hatte er seit ihrer letzten Begegnung an schauspielerischem Talent hinzugewonnen.
„Richtig“, pflichtete er bei. „Nichts von all dem hier ergibt Sinn. Doch ich hoffe, wir werden vernünftig mit den Leuten reden können. Sie hätten uns längst töten können. Statt dessen haben sie uns hierher gebracht. Sicher nicht grundlos.“
„Ich habe jedenfalls die Nase voll“, schimpfte von Görenczy. „Ich bin Künstler und kein Höhlenmensch. Abenteuer mögen ersprießlich zu lesen sein, aber mein Medium ist das Licht, und ich falle von einer geheimnisvollen Höhle in die nächste!“
„Sie malen Landschaften?“ fragte Delacroix.
„Landschaften und Portraits“, antwortete Udolf. „Die Gegend hier ist berühmt. Fabelhafte Bergwelt. Freilich hatte ich nicht damit gerechnet, sie von innen zu erkunden.“ Er machte eine ausladende Geste und zischte schmerzhaft.
„Alles in Ordnung?“ fragte McMullen. „Wie geht es Ihren Verletzungen?“
„Weiß ich nicht. Ich brauche einen Mediziner und keine Höhlenexpedition.“
Delacroix stand auf und ging zur Gittertür.
„Hallo!“ rief er ins Dunkel. „Ist da jemand? Wir sollten reden. Das ist alles nicht notwendig.“
Er erhielt keine Antwort.
Er deutete McMullen mit einer Geste an, daß er das Schloß knacken wollte, doch der Meister schüttelte den Kopf. Das hieß, es war zauberisch verstärkt. Pech. Delacroix war Meister im Knacken von Schlössern. Doch er war kein Zauberer. McMullen und er hatten viele Jahre zusammengearbeitet. Magie aufzuheben, Mesmerismus abzuwehren, Illusionen zu entlarven – das gehörte zu McMullens Obliegenheiten. Er war gut, ein willensstarker Meister des Arkanen. Nicht, daß es nie einen Stärkeren gegeben hätte, doch bislang hatten sie sich gemeinsam immer wieder aus allen mißlichen Lagen befreien können.
Dennoch hatten sie ihre Grenzen. Delacroix mochte ein noch so starker Kämpfer sein, gegen eine Gruppe Bewaffneter hatte er – zumal blind – keine Chance, und McMullen hatte auch schon sehr nachhaltig seine Grenzen zu spüren bekommen, zuletzt, als sie ein halbes Jahr zuvor gegen zwei Fey gekämpft hatten, deren Macht die des Magiers bei weitem übertroffen hatte. Ohne Cérises dunklen Grafen und Corrisandes Opfermut hätten sie das nicht überlebt. Delacroix war damals sicher gewesen, daß Corrisande sterben würde, und sie selbst hatte ebenfalls nicht daran gezweifelt.
Er verdrängte gewaltsam die Erinnerung an die Szene aus seinem Gedächtnis. Er wollte nicht daran denken, daß sie fast für ihn gestorben wäre. Er wollte überhaupt nicht an sie denken, außer daran, daß sie weit weg und in Sicherheit war.
Nur war sie das nicht. Seine Frau war ins magische Feuer getreten, um ihn zu retten, da waren sie noch nicht einmal ein Paar gewesen. Wenn er nicht bald zurückkam, würde sie nicht in Ischl bleiben und warten. Sie würde ihm nachreisen und wieder für ihn durchs Feuer gehen. Zorn flammte in ihm auf – über sich selbst, daß er sich hatte schnappen lassen, aber auch gegen seine Gegner, die die Unverschämtheit besaßen, ihn einzusperren und dann zu ignorieren.
„Gottverdammich!“ brüllte er in den Gang jenseits der Gitter. „Zeigen Sie sich! Reden Sie mit uns! Sie haben kein Recht, uns gefangen zu halten. Wenn Sie Geld wollen, das läßt sich machen. Aber kommen Sie aus Ihren Löchern und reden Sie!“
Von etwas weiter weg hörte er, wie Glas mit leisem Klirren zerbrach. Es wurde finster.
Einen Augenblick herrschte Ruhe. Dann sprach Udolf sehr ruhig. Delacroix hörte ihm das Bemühen an, sich eisern zusammenzunehmen.
„Waren Sie das? Oder hat man uns wieder geblendet? Können Sie etwas sehen? Ich nämlich nicht.“
„Da geht es Ihnen wie mir“, sagte McMullen. „Ich sehe auch nichts. Ich hörte Glas brechen. Ich bin sicher, es ist eine Lampe kaputtgegangen.“
„Solange es keine Magie ist.“
„Ich weiß nichts über Magie, Herr ... Grossauer. Ich bin nicht abergläubisch. Wir sind in einem Höhlensystem. Da ist es nun mal dunkel.“
McMullen versuchte, seinen Beruf geheim zu halten. Konnten Meister des Arkanen einander ausmachen?
Er wußte es nicht, und fragen konnte er nicht. In völliger Finsternis war an Flucht nicht zu denken. Sie konnten noch nicht einmal Fluchtpläne besprechen, solange möglicherweise jemand lauschte, und wenn er hier nicht herauskam, würde Corrisande ihm nachreisen. Dann würde ihr Blut wie in seinem Traum die Seen rot färben.
„Verfluchtes Gesindel!“ brüllte er. „Lassen Sie uns gefälligst raus. Ich habe die Nase voll von diesen Spielchen!“
McMullens Stimme erreichte ihn durch das Dunkel.
„Beruhigen Sie sich, Fairchild. Mit Ihrem Gezeter werden Sie nichts ausrichten.“
„Das wird er in der Tat nicht,“ sagte eine Stimme von außerhalb der kleinen Höhle, und ein kleiner Lichtschein fiel aus einer Klappenlaterne in die Zelle, machte dabei die Gefangenen sichtbar, den Mann draußen aber nicht. „Wir sollten dies ruhig angehen, wie vernünftige Leute.“