Kapitel 35

Asko war müde. Die Nacht hatte er ohne Schlaf auskommen müssen. Es gab keine Abkürzung zur Höhle jenseits des Kammersees. Erst mußte man den Grundlsee überqueren, dann zwei, drei Meilen bergauf durch den Wald laufen, denn der Wasserlauf zwischen Grundlsee und Toplitzsee war stromaufwärts nicht schiffbar und wurde nur stromabwärts für den Transport von Baumstämmen benutzt.

Am Toplitzsee mußten sie wieder übers Wasser. Eine ganze Reihe Plätten, die flachen Boote der Region, hatten sie zur Verfügung. Sie unterschieden sich in nichts von denen der örtlichen Fischer. In diesen Nachen ruderten sie etwa eine Meile. Der Toplitzsee war ein geheimnisvoller See, sehr tief und unergründlich. Er schien sich bis in die Eingeweide der Erde zu erstrecken, und Asko fühlte ein Prickeln im Nacken, obgleich er sonst stolz darauf war, sich vor keinen immateriellen Gefahren zu fürchten und keinem Aberglauben nachzugeben. Daß er überhaupt an die Sí glaubte, hing damit zusammen, daß er persönlich dem einen oder anderen begegnet war, und es wäre schwierig, dem Zeugnis der eigenen Augen zu mißtrauen. Magie und Feyonspuk hätte er am liebsten gar nicht in seiner Welt geduldet, und diese ganze Gegend schien davon überzuquellen. Selbst wenn Meister Marhanor die dazugehörigen Fey nicht aufspüren konnte.

Jenseits des Toplitzsees mußte man nur noch eine Anhöhe überwinden, um zum Kammersee zu gelangen, der bereits mitten in der Wildnis lag. Auf der anderen Seite gab es eine kleine Grasfläche, ansonsten war der kleine See von hellen Kalksteinfelsen eingesäumt. Über diese mußte man klettern, um dorthin zu gelangen, wo die Berge steil hinter dem See aufragten. Der Eingang des Höhlensystems war magisch verborgen.

Es hatte sie einige Zeit gekostet, alle verräterischen Spuren ihres Besuches im Schlößchen zu beseitigen, und da das Landhaus auf halber Höhe am Berg über dem Ufer des Altausseer Sees lag, kam man nicht umhin, erst wieder nach Altaussee zurückzureiten, von dort nach Aussee und dann, auf der anderen Seite des Berges wieder in Richtung Grundlsee. Der Tag brach an, als sie den See erreichten, und Corrisandes Gesicht am Fenster hatte ihn beunruhigt.

Der Weg über die Seen hatte sie weitere Zeit gekostet. Erst am späten Morgen erreichten sie ihren Berg, frustriert, wütend, müde, ausgelaugt und zu allem Überfluß ohne den erhofften Fang. Statt dessen hatten sie drei Männer verloren, deren Leichen sie im Wald hatten verbergen müssen, da sie sie nicht gut durch die Dörfer tragen konnten, ohne aufzufallen.

Von Waydt hatte lediglich dem örtlichen Verbindungsmann eine Nachricht zukommen lassen, wo die Toten zu finden seien, und alles Weitere dem Einheimischen überlassen. So konnten die Toten geborgen werden, ohne daß man sie mit der Gruppe Jäger in Verbindung brachte. Die Einheimischen waren ohnehin schon mißtrauisch genug.

Die Sache war idiotisch und schlecht organisiert. Darüber hätte von Orven sich freuen sollen, denn jeder Fehler, jeder Schnitzer ließ den Erfolg des Projekts unwahrscheinlicher werden. Hardenburg ging langsam die Zeit aus, und seinen Vorgesetzten im Kriegsministerium vermutlich die Geduld. Zudem waren ihnen allen die Fey ausgegangen, und seit letzter Nacht drohte das selbe Schicksal die Jäger zu ereilen. Allerdings hatte Asko keinen Zweifel, daß das Ministerium rasch für Nachschub sorgen würde.

Von Waydt war anmaßend und strebsam. Mit Sicherheit war er auch Patriot. Doch, so fand Asko, vielleicht gab es ja Grenzen dessen, was man für sein Land zu tun bereit sein sollte. Wenn es die Ehre der Heimat verletzte, dann sollte man es besser lassen.

Er fragte sich, woher dieser ungewöhnliche Gedanke kam. Er war selbst Soldat, gewohnt, Befehle zu befolgen, ohne sie zu hinterfragen. Er hatte nie bezweifelt, daß das Wohl seines Landes über seinem eigenen stand, auch über seinen Wünschen und Ideen. Aber – und das wurde ihm zusehends klar – eventuell nicht über seinem Gewissen. Länder konnten kein Gewissen haben, es bedurfte ihrer Bewohner und ihrer Regierung, die Werte, die ihnen heilig waren, auch aufrechtzuerhalten.

Die österreichische Kaiserin – oder durch sie der Kaiser selbst – mochte diese Verantwortung spüren und hatte nicht gezögert, ihr Land gegen geheime Machenschaften im eigenen Lager zu verteidigen, mit zugegeben ungewöhnlichen Mitteln. Die Revolutionäre, wenn man sie denn so nennen konnte, waren Meister der Geheimhaltung. Asko vermutete, die Krone hätte längst gehandelt, hätte sie die genaue Identität des Mannes an der Spitze dieses Unterfangens gekannt.

Doch bisher war es ihm nicht gelungen, die Informationen, die er hatte, weiterzuleiten, oder auch nur die Identität des Befehlshabers zu ermitteln. Ohne Kontakt nach außen konnte er nur raten, was er tun sollte, und hatte nichts als sein Gewissen und sein Pflichtbewußtsein, um Entscheidungen zu treffen, die ihm nicht leicht fielen. Er war kein Österreicher. Er war ein gegnerischer Spion in einem fremden Land und baute auf nichts als auf seinen Instinkt.

Diesem vertraute er nicht besonders. Er war ein nüchterner, rationaler Mann, der sich nur selten von Instinkten leiten ließ. Das letzte Mal, als er seinem Instinkt gefolgt war, hatte er um Corrisandes Hand angehalten, die, wie sich herausstellte, nicht nur von einem Feyon abstammte, sondern zudem einen anderen liebte. So viel zum Instinkt. Er taugte nicht viel oder versagte jedesmal, wenn ein Fey-Element in die Gleichung kam, weil diese Geschöpfe so unberechenbar und unverständlich waren. Die Wahrheit an sich war dann auf einmal nicht mehr erkennbar, verwandelte sich in ein Füllhorn vager Möglichkeiten, die alle unbeweisbar und zudem unverständlich waren. Sein analytischer Verstand wehrte sich gegen diese Art von Wahrnehmung. Gut war gut, böse war böse, und ein Mann mußte den Unterschied erkennen können, damit er das Richtige tun konnte und nicht in einem Sumpf an Zwischentönen versank.

Er war froh, daß der Sí entkommen war und ihm somit noch mehr Zeit gab, sich zu überlegen, was zu tun sei. Er brauchte diese Zeit, denn er hatte keine Idee, wie er vorgehen sollte. Überhaupt setzte sein Vorgehen voraus, daß er wußte, was Hardenburg und das Team weiterhin vorhatten.

Sie saßen zusammen, die ganze Gruppe, der Professor, der Meister, sechs Techniker und Helfer, vier Feyonjäger. Anfangs waren sie wohl mehr gewesen, doch es war zu schwierig, eine allzu große Gruppe in einer so entlegenen Gegend aufrecht zu erhalten. Sie brauchten Nahrung. Jeden Tag holte einer der Männer eine Kiepe Proviant und brachte Neuigkeiten mit.

Asko hatte sich für diesen Dienst gemeldet, doch man hatte ihn ihm verweigert. Er hatte nicht darauf bestanden, denn das hätte ihn verdächtig gemacht. Also wußte Asko nicht, ob der Proviantmann zu Ladners Poststation ging, um seine Last aufzunehmen, oder ob er in Gössl Beistand fand. Vielleicht mußte er auch bis nach Grundlsee, oder ihm kam ein einheimischer Helfer entgegen.

Manchmal fragte sich Asko, warum er sich je auf Spezialeinsätze hatte schicken lassen. Menschen zu überwachen war nichts, was er gerne tat. Er war kein guter Lügner, und an den Schmerz, den seine Tarngeschichte seiner Familie bereitet hatte, durfte er gar nicht erst denken. Jedenfalls war jetzt mitten in einer Lagebesprechung nicht der Augenblick, darüber nachzudenken.

„Sie hatten ihn und haben ihn wieder verloren“, resümierte der Professor. „Das ist schlecht. Ich kann nicht begreifen, wie Ihnen so etwas passieren konnte.“ Sein Ärger war allzu deutlich.

„Sie sind schwer zu halten“, kommentierte der Meister mit einem gönnerhaften Lächeln. „Man braucht Spezialisten, um es zu bewerkstelligen. Ich würde lieber keine zusätzliche Hilfe von draußen dabeihaben, doch vielleicht sollten wir diese Option noch einmal bedenken. Ich kenne eine Gruppe Männer, die das Spezialwissen dazu haben. Haben Sie wenigstens herausgefunden, um was für eine Art von Kreatur es sich handelte?“

Von Waydt kochte fast vor Zorn und Frustration. Er vergaß sein gutes Benehmen und fuhr sich mit den Händen durchs dunkle Haar.

„Ein Feyon. Ein mächtiger Feyon. Meyer hat ihm ins Herz geschossen, und trotzdem ist er schon eine Stunde später entkommen.“

„Das sagt gar nichts“, tadelte der Meister. „Sie können fast alle eine Schußwunde überleben, sofern die Kugel nicht aus Kalteisen ist, und in diesem Fall brauchen Sie sich nicht die Mühe zu machen, auf sein Herz zu zielen.“

„Das weiß ich auch“, donnerte von Waydt und sprang von seinem Schemel auf. Möbel waren Mangelware in der Höhle. Es war angenehm gewesen, in der vergangenen Nacht wieder einmal auf einem Polsterstuhl zu sitzen, in einem gefällig eingerichteten Zimmer, mit einer jungen Dame, die einen über den Tisch hinweg anlächelte. Sie hatte ein offenes, bezauberndes Lächeln gehabt.

„Sie wissen es, weil ich es Ihnen beigebracht habe“, antwortete der Meister bissig, wobei es ihm gelang, seine Stimme gleichermaßen herablassend und eisig klingen zu lassen. „Wie konnten Sie ihn entkommen lassen? Hatten Sie nicht gesagt, man hätte einen kalteisenverbrämten Käfig im Haus?“

„Hatten wir. Jemand hat ihm herausgeholfen. Verteufeltes Weibsstück.“

„Eine Frau?“

„Leopold von Sandlings Nichte. Sie muß eine Vorliebe für diese ekelhaften Kreaturen haben. Sie hat ihn herausgelassen und ist nun bei ihm. Es wäre beileibe besser, wir unterhielten uns darüber, wie die beiden noch zu fangen sind, statt uns damit aufzuhalten, was wie schiefgegangen ist. Geschehen ist geschehen. Sie sind in die alte Mine entflohen, und der Eingang ist verschüttet. Sie sitzen im Berg fest. Vielleicht kann man von innen durch die Höhlen an sie herankommen. Diese Berge sind wie Kaninchenbauten. Irgendwann finden sie vielleicht eine Öffnung nach draußen.“

„Höchstwahrscheinlich sind sie längst tot“, unterbrach Asko. „Der halbe Berg ist über dem Eingang heruntergekommen, und sie waren eben erst eingetreten. Das Durchhaltevermögen der Fey mag groß sein, aber unter ein paar Tonnen Fels verschüttet zu liegen würde auch so ein Lebewesen aufhalten.“

„Das können Sie nicht wissen!“ fauchte von Waydt. Seine grünlichen Augen blitzten vor Zorn. „Sie selbst wollten doch unbedingt, daß wir sie ausgraben und retten, und jetzt sollen sie auf einmal definitiv tot sein?“

„Höchstwahrscheinlich, habe ich gesagt.“

„Meine Herren! Ihr Gestreite hilft uns nicht weiter“, unterbrach der Professor. „Wir wollen vernünftig sein. Schließlich handelt es sich hier um ein akademisches Unterfangen, und wir täten gut daran, analytisch an die Sache heranzugehen. Lassen Sie mich zusammenfassen. Sie haben den Sí gefangen, und es war ein echter, richtiger, wirklicher Sí. Er ist mit Hilfe einer weiteren Person entwischt, die er mitgenommen hat. Beide mögen unter ein paar Tonnen Gestein begraben sein oder auch überlebt haben. Sie haben drei Männer verloren, zwei im Haus und einen beim Bergrutsch.“

„Bedeutungslos“, fuhr der Meister dazwischen, der wirkte, als sähe er sie alle mit seinen leeren Augen an. Keiner der Männer blickte ihm ins Gesicht. Er war kein schöner Anblick, doch darüber hinaus vermittelte er den Eindruck, sehr wohl zu wissen, wenn jemand ihn ansah. „Das Einzige, das wichtig ist, ist herauszufinden, ob der Feyon lebt und im Berg gefangen ist – und ob wir an ihn herankommen. Ich werde mich in mein Quartier zurückziehen und einige Messungen vornehmen. Ich brauche dazu Ruhe, denn arkane Messungen erstrecken sich nur selten über ein so großes Gebiet. Wir reden immerhin von fünf oder zehn Meilen, soweit ich weiß. Ich bin nicht sicher, ob das jemals von einem einzelnen Meister auch nur versucht wurde. Ich brauche jemanden mit einem Kompaß, damit ich in die richtige Richtung messe. Von Waydt, Sie können mir helfen. Ich hoffe, diese Aufgabe wird Sie nicht wieder überfordern. Wenn ich die Lebensaura der Kreatur feststellen kann, werde ich einen Bann über den Berg legen. Das wird eine noch größere Herausforderung sein, und ich werde einige Zeit dazu brauchen. Wir können nur hoffen, daß sie keinen Ausgang finden, ehe ich damit fertig bin. Doch wenn der Berg hohl ist und ein lebender Sí darinnen, dann können wir ihn eventuell noch bekommen. Die Frage ist, kommt man durch die Höhlen bis hierher? Wenn ich den Berg dichtmache und es gibt keine Verbindung zu diesem Höhlensystem, dann werden sie in der Dunkelheit verenden. Sollte es jedoch eine Verbindung geben, dann können wir uns darauf verlassen, daß der Sí sie findet. Diese Kreaturen können meist im Dunkeln sehen, und ihr Orientierungssinn ist in jeder Hinsicht übernatürlich. Seine Selbsterhaltungsinstinkte werden ihn zum einzigen Ausgang locken: zu uns.“

„Was wird aus der jungen Dame?“ fragte Asko und wünschte, er hätte den Mund gehalten.

Von Waydt schnaubte verdrießlich.

„Einerlei“, sagte er. „Außer Sie interessiert das hier niemanden, und warum es Sie interessieren sollte, ist völlig unverständlich. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir jetzt schon unser Testobjekt, könnten unseren Testlauf durchführen und dieses Projekt endlich erfolgreich abschließen. Sie mag nicht gewußt haben, daß sie mit ihrer Aktion ihr Land verraten hat, aber sie sollte doch so viel Anstand haben zu wissen, daß sie die menschliche Rasse verraten hat.“

Asko sah in die ärgerlichen, grünlichen Augen des Oberjägers. Er mochte von Waydt nicht. Er war eine Spur zu fanatisch in allem, was er tat oder fühlte. Er kannte keine Mäßigung, keine Skrupel, keine Grenzen. Was immer er wollte, würde er ohne Bedenken durchführen.

„Sie wußte nur, daß ein Mann in ihrem Haus erschossen wurde. Was sie getan hat, mag falsch gewesen sein, aber es zeigt, daß sie Mut und Entschlossenheit besitzt.“

„Tut mir leid, wenn ich Ihnen die Illusionen rauben muß, Meyer, doch ich kann Ihnen versichern, daß nicht mehr dazu gehörte als weibliche Geilheit und eine widernatürliche Vorliebe für ebenso widernatürliche Kreaturen. Sollten die beiden den Bergrutsch überlebt haben, dann bin ich mir sicher, daß sie ihm freudig jeden Dienst angedeihen läßt, den er von ihr erfragt und vermutlich noch mehr darüber hinaus.“

„Ich finde Ihre Haltung zutiefst anstößig.“

„Ich finde Ihre Haltung zutiefst naiv. Sie vergessen, daß ich die Dame mein halbes Leben kenne.“

Das war nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht war sie ja so, wie Waydt andeutete. Asko mochte es nicht glauben, doch er hatte auch nicht geglaubt, daß Corrisande Feyonblut in den Adern hatte und einen anderen Mann bevorzugte. Was Frauen anging, versagte seine Einschätzung. Es war immerhin möglich, daß Fräulein von Sandling nichts als eine Hetäre mit einer Vorliebe für nichtmenschliche Partner war.

Doch egal. Wie immer Charlotte von Sandlings Moralbegriffe auch aussehen mochten, sie verdiente es trotzdem nicht, elend in der Finsternis zu verenden. Asko erinnerte sich ihres zitternden Körpers nach dem Angriff auf sie. Würde eine Frau mit entsprechender geschlechtlicher Erfahrung so reagieren?

„Wenn Sie der Meinung sind, sie sei eine verkommene Frau, verstehe ich umso weniger, daß Sie versäumt haben, ihr mitzuteilen, daß Sie Ihre Verlobung als gelöst betrachten.“

„Ich muß mich Ihnen gegenüber nicht rechtfertigen.“

„Ich bin auch gar nicht an irgendwelchen fadenscheinigen Erklärungen interessiert, von Waydt. Unabhängig davon bleibt die Frage, was wir mit Fräulein von Sandling tun, sollte sie sich bei dem Feyon befinden.“

„Meine Herren!“ fuhr der Professor dazwischen. „Wir werden sehen, was kommt, und uns entsprechende Gedanken machen, wenn es nötig werden sollte. Kümmern wir uns lieber darum, diese Kreatur zu bekommen – mit oder ohne die Frau, egal was sie ist. Hure oder Opfer – sie ist nicht unser Problem.“

Marhanor meldete sich erneut zu Wort.

„Wir haben in der Tat andere Prioritäten. Wenn ich meine Kunst dazu verwende, das Geschöpf ausfindig zu machen, brauche ich dafür meine volle Konzentration. Andere Sprüche werde ich nicht mehr erneuern können.“

„Was ist mit den Gefangenen?“ fragte einer der Techniker.

„Welche Gefangenen?“ fragte Asko, bestürzt, daß immer mehr Unschuldige in diesen Wahnsinn mit hineingezogen wurden, für deren Tod er mit verantwortlich sein würde, wenn er nicht bald etwas unternahm – nur was?

„Dieser Fairchild und die beiden anderen.“

Asko hielt beharrlich an sich, um keine Miene zu verziehen. Sie hatten Delacroix. Dann hatte er sich Corrisandes Gesicht doch nicht eingebildet. Bald würde die junge Frau Witwe sein. Schrecklich, nach nur einem halben Jahr im Ehestand.

Doch wenn Delacroix hier war, hieß das, daß auch andere Nationen von den Vorgängen Wind bekommen hatten. Eindrucksvoll. Das Unterfangen war noch nicht einmal dem Kaiser bekannt, aber die Briten hatten schon ihren besten Mann auf die Sache angesetzt.

Da fiel ihm ein, daß Delacroix nach seinem letzten Auftrag den Dienst quittiert hatte. Er war jetzt Privatier, und seine Frau hatte er auch hierher mitgenommen. Das hätte er nicht getan, wenn er in offiziellem Auftrag hier wäre. Oder?

Asko hätte es nie getan. Doch Delacroix war anders. Er hatte eine ungewöhnliche Meinung bezüglich Frauen. Er dachte, man unterschätze sie bei weitem. Er hatte Corrisande einer Gefahr ausgesetzt, die sie fast getötet hatte, während Askos Instinkte dahin gingen, Frauen unter seine Fittiche zu nehmen und vor der bösen Welt zu beschützen. Er sah beschämt an sich hinunter und erinnerte sich daran, wie Charlotte ihn gegen das Schienbein getreten und aus dem Weg gedrängt hatte.

Sie hatte sich gegen ihn gewehrt. Sie hatte mutig gegen sie alle gekämpft, getreten, gekratzt, gerungen und von Waydt und dessen Leute ungestüm beleidigt. Ihr Mut war ungebrochen gewesen, bis der elende Widerling versucht hatte, ihr die Ehre zu rauben.

Er fragte sich, ob sie noch lebte. Vielleicht war sie im Steinhagel gestorben. Er stellte sich vor, wie sie in der Finsternis lag, mit gebrochenen Knochen schmerzerfüllt auf den Tod wartete, ganz allein, wie sie hilflos diesem Schmerz ausgeliefert war, und den Aufgriffen von Nagetieren und Aasfressern. Der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zuende zu denken. Sie durfte nicht so sterben. Niemand durfte das.

„Was ist?“ fragte Hardenburg.

„Ich wußte nicht, daß wir Gefangene haben. Was machen wir mit ihnen? Wie sind sie hierher gekommen?“

„Es gibt keinen Grund, warum Sie sich mit unseren Gästen auseinandersetzen sollten“, ermahnte der Meister. „Die gehen Sie nichts an. Ich bin noch nicht dazugekommen, sie auszuhorchen. Doch das werden wir tun, und dann werden wir entscheiden, was mit ihnen anzufangen ist. Sie kümmern sich um die Maschine, damit sie bereit und in Schuß ist, wenn wir den Feyon fangen. Ich kümmere mich um die Befragungen. Bleiben Sie weg von der Zelle.“

Asko nickte unterwürfig.

„Sehr wohl, Meister“, sagte er. Doch ihm war gar nicht wohl bei der Sache.