Kapitel 3
Die Höhlen funkelten rot und weiß, als hätte jemand sie mit Milliarden kleiner Edelsteine verziert. Corrisande Fairchild sah ihren Ehemann an, der durch die Gänge schritt und immer tiefer in den Fuß des Berges vordrang. Der Weg führte bergab und niemals mehr bergauf. Zackige, scharfe Felsmesser bedrohten den verletzlichen Körper aus Fleisch und Blut. Sie versuchte, die Vorstellung von sich zu schieben, die spitzen Vorsprünge würden ihm jäh und arglistig durch die Haut ins Fleisch fahren, um ihn zu zerfetzen.
Wasser sickerte durch den Fels, sammelte sich wie ein heimlicher Feind hinterrücks zu einer Springflut, um ganz plötzlich jeden Eindringling in seinem finsteren Reich zu ertränken. Sie hörte die Fluten, doch er vermochte das nicht. Er lief in eine Falle. Sie versuchte, ihn zu warnen, rief ihm nach. Er hörte sie nicht. Da war kein Geräusch. Niemand war da, nicht einmal sie. Philip war allein. Er verlor sich immer tiefer im Fels, immer weiter schritt er, eine großgewachsene, finstere Gestalt, die mit der Dunkelheit verschmolz, beobachtet von verborgenen Augen, die raubtierhaft gelb schimmerten, geradeso wie seine eigenen. Er war unterwegs zum Mittelpunkt der Erde, und plötzlich wußte sie mit absoluter Sicherheit, daß er von dort nie zurückkehren würde. Der Tod lauerte im Zentrum des Berges, wartete dort auf ihn und umschlich ihn. Die schmalen Tunnel, die zu ihm hinabführten, führten nicht wieder hinauf ins Licht, sondern würden ihn zu nichts als Schatten in der Dunkelheit zermahlen.
Sie schrie wieder seinen Namen, und abermals hörte er sie nicht, lief nur einfach immer weiter, ohne jemals zu ihr zurückkehren zu können. Er starb in der Finsternis, verendete hilflos in tiefster Schwärze, und sie war machtlos, konnte nur zusehen, wie er seinem Untergang entgegenschritt.
Corrisande lag starr auf dem Rücken in dem harten Bett, die Hände in die Laken gekrallt, als müßte sie sich festhalten, um nicht zu fallen. Sie schlug die Augen auf. Der graue Frühmorgen half ihr nicht, den Alpdruck des Traumes von ihrer Seele zu nehmen. Sie bebte. Nur ein Traum, redete sie sich ein und spürte dabei noch deutlich den Trennungsschmerz, die Trauer um den Verlust. Nur ein Traum. Doch was für einer! Er versank nicht in der nachtwandlerischen Irrealität, blieb in ihren Gedanken, stark, seherisch und sehr wirklich. Eine Erinnerung, kein Hirngespinst. Wissen, das ihr erhalten bleiben würde.
Sie versuchte, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Die Pension, in der sie in Bad Ischl abgestiegen waren, war eher ein Gasthof als ein stilvolles Etablissement. Die besseren Hotels und Gästehäuser waren ausgebucht.
Das machte ihr nichts aus. Vielmehr, es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn Philip bei ihr gewesen wäre, wenn sie seinen warmen Körper neben sich hätte spüren und in seinen Armen hätte ruhen können. Doch er war fort.
Sie schloß die Augen in der Hoffnung, der Raum würde dann aufhören, sich zu drehen, während Wellen von Übelkeit durch ihren Körper schwappten. Aber in ihrem Kopf kreiselte die Welt weiter. Sie atmete flach und behutsam, hatte Angst, ihr Magen würde sich umdrehen, wenn sie zu tief einatmete.
Es würde gleich aufhören, oder doch in absehbarer Zeit. Es hatte ja auch am Vormorgen aufgehört, am Morgen davor und an all den anderen Morgen, an denen Philip noch bei ihr gewesen und sie heimlich und still im Dunkeln aus dem Bett gekrochen war, in der Hoffnung, er würde nicht wach.
Natürlich hätte sie es ihm sagen müssen, doch zuerst war sie nicht sicher gewesen, dann hatte sie es nicht glauben wollen, und schließlich fand sie es auch noch schwierig, sich überhaupt damit abzufinden. Sie erwartete ein Kind, und ihr Mann war fort.
Ein halbes Jahr waren sie jetzt verheiratet, und sie hätte damit rechnen müssen. Philip war ein heißblütiger Mann. Beide genossen die ausgeprägte Körperlichkeit des jeweils anderen. Sie liebten einander so sehr, daß es schon fast ungewöhnlich war, und natürlich wollten sie Kinder. Nun, er jedenfalls. Sie hatte gehofft, die Produktion von Stammhaltern würde noch etwas auf sich warten lassen. Sie war nicht einmal sicher gewesen, ob sie würde empfangen können. Sie war kein Mensch.
Ihre Eltern waren normale Menschen. Doch in ihr hatte sich ein kleiner Anteil Feyonblut, ein Erbe aus uralter Zeit, bemerkbar gemacht. Erst seit einem halben Jahr wußte sie es. Manchmal nannte Philip sie sein Nixchen. Es machte ihm nichts aus, daß seine Frau weniger – oder mehr – als ein Mensch war. Ihre unheimliche Abstammung war keinesfalls augenscheinlich, solange sich nicht jemand auf die Kunst verstand, arkane Messungen in ihrer unmittelbaren Nähe durchzuführen.
Sie war also kein richtiger Mensch, und nun war sie in anderen Umständen. Der Gedanke, was sie da in sich trug, erfüllte sie mit Angst. Philip hatte in seiner Jugend selbst ein schreckliches Erlebnis der übernatürlichen Art gehabt, und dieses Ereignis hatte ihn von Grund auf verändert, nicht nur sein Wesen und seinen Lebensweg, sondern auch sein Aussehen und seine ganze physische Ausstrahlung.
Sie waren beide keine gewöhnlichen Menschen, und niemand konnte wissen, was sie unter dem Herzen trug. Fragen konnte sie auch niemanden. Man konnte nicht zu einem Doktor oder einer Hebamme gehen und sagen: „Entschuldigen Sie, ich kann unter Wasser atmen, und mein Mann sieht mit den gelben Augen eines monströsen Götzen. Können Sie mir sagen, ob das Einfluß auf unsere Kinder haben wird?“
Wenn er nur wieder bei ihr gewesen wäre! Sie waren nach München gereist, um böse Erinnerungen auszutreiben. So wie man nach einem Sturz vom Pferd gleich wieder aufsteigen mußte, hatte Philip gesagt. Sie hatte zugestimmt. Um die Alpträume zu bekämpfen, ihre wie seine.
Nach ihrer hastigen Hochzeit hatten sie keine Flitterwochen gehabt. Also waren sie im Herbst ersatzweise nach München gefahren, dorthin, wo sie einander gefunden hatten. Es hätten nette Ferien werden können.
Doch dann war McMullen angekommen. Der Meister des Arkanen hatte besorgt ausgesehen – und ihr gegenüber zudem schuldbewußt. Er kam mit schlimmer Kunde und einer Bitte um Hilfe.
Ihr Mann hatte den aktiven Dienst quittiert, nachdem sie geheiratet hatten. Als Offizier hatte er das unstete Leben eines Spezialagenten geführt, als Detektiv, als Spion, als Mann für spezielle Aufgaben. Sein Werdegang beinhaltete eine armselige Kindheit als Dieb und Einbrecher und ein späteres Leben als adoptierter Sohn eines englischen Gentlemans. Die Kenntnis zweier so unterschiedlicher Welten machte ihn für Sondereinsätze besonders geeignet.
Seine Vergangenheit war so undurchsichtig wie die seiner Frau, doch sie hatten ihr unstetes Leben aufgegeben, um angesehene Angehörige der guten Gesellschaft zu werden, und obgleich niemand Philip mehr befehlen konnte, für sein Land auf gefährliche Abenteuer zu gehen, hatte er nun doch auf einmal eine Art Auftrag. McMullen war ein Freund, und er brauchte Hilfe.
Philip hatte mit ihr darüber gesprochen. Er wußte, daß sie Geheimnisse bewahren konnte, daß er ihr mehr an Erklärung schuldete als ein „Ich muß es tun. Mach dir keine Sorgen.“
Sie machte sich aber Sorgen. Sie wußte, er war stark, erfinderisch und umsichtig, doch sie wußte auch, daß die Angelegenheit gefährlich werden konnte. Zwei Menschen waren spurlos verschwunden, McMullens junger Neffe und sein Privatlehrer, der seinen Schützling auf dessen „Grand Tour“, der üblichen transeuropäischen Bildungsreise für junge Herren, begleitete. McMullen wollte sie wiederfinden, und er brauchte Unterstützung: Philip mit seiner Spezialausbildung.
Ein Hilferuf eines Freundes. Das konnte man nicht ignorieren.
Sie hatten gepackt und den Zug nach Österreich genommen, so weit der in die Berge fuhr. Dann hatten sie sich eine Kutsche gemietet und schließlich mit einem Boot den Traunsee überquert. Bis nach Bad Ischl waren sie gekommen, in das hochklassige Alpenbad, in dem sich der österreichische Hochadel zur Sommerfrische versammelte. Hier war sie schon seit einigen Tagen.
„Ich komme bald zurück“, hatte er versprochen, dann war er fortgegangen, hatte ihr Angebot, mitzukommen und zu helfen, abgelehnt. „Bald“ war ein schwieriges Wort. Es konnte vieles bedeuten. Sie hatte auf den nächsten Tag gehofft, doch da war er noch nicht gekommen, und auch nicht am übernächsten oder überübernächsten. Jeder Tag war vergangen und zur Nacht geworden, und er war ohne eine Nachricht, ohne ein Lebenszeichen ausgeblieben.
In der vergangenen Nacht hatte sie den Alptraum gehabt, und dieser handelte ausnahmsweise nicht von ihrer Gefangenschaft bei der Bruderschaft des Lichts, jenem obskuren Orden religiöser Fanatiker, der die Welt von den Fey befreien wollte. Diesmal war der Traum gänzlich anders gewesen, mehr wie eine Vision dessen, was geschah und was auf sie zukam.
Sie sprang aus dem Bett und stolperte durchs Zimmer, fiel beinahe in der Dunkelheit. Sie schaffte es gerade noch bis zum Waschgeschirr, ehe ihr Magen rebellierte und ihr übel wurde.
Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie fühlte sich grauenhaft, und gleichzeitig war ihr ihre physische Reaktion etwas peinlich. Kinder waren ein Segen, hieß es, doch im Moment sah sie sich außerstande, mit dieser Erkenntnis konform zu gehen. Je mehr man darüber nachdachte, desto logischer wurde, warum die Natur manche sinnlichen Genüsse so besonders angenehm gemacht hatte. Ohne die Verlockung körperlichen Vergnügens hätten Frauen vermutlich sonst spätestens nach der ersten Schwangerschaft für den Rest ihres Lebens den Zölibat bevorzugt.
Sie dachte an ihren Ehemann und seine Küsse und lächelte reuig. Den Zölibat würde sie nie wählen. Sie seufzte, kroch zurück ins Bett und fiel noch einmal in unruhigen Schlummer. Es schien ihr, als wären nur Augenblicke vergangen, als es an der Tür klopfte. Eine Stimme mit starkem österreichischem Akzent drang durch das Holz.
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Da ist Besuch für Sie. Ich habe gesagt, daß Sie noch nicht auf sind, aber sie besteht darauf, Ihren Herrn Gemahl zu sprechen.“
„Wer?“ fragte Corrisande durch die geschlossene Tür und versuchte, ihre verschlafenen Gedanken zu sammeln.
„Eine Mademoiselle Denglot. Sie sagt, sie will mit Ihnen sprechen, falls der Herr Gemahl nicht da ist.“
Cérise Denglot, die ehemalige Geliebte Ihres Gatten. Es war unverfroren von der schönen Opernsängerin, zu dieser unmöglichen Morgenstunde einen Besuch bei ihrem Exliebhaber und dessen Frau zu machen.
Corrisande würde sie selbstverständlich nicht empfangen. Es ziemte sich nicht, die ehemalige Angebetete seines Ehemannes willkommen zu heißen. Es war unmöglich, skandalös schon fast. Besonders, da sie sich so schlecht fühlte und vermutlich noch schlechter aussah. Die Sängerin würde wie immer großartig aussehen und sie selbst bleich und verhärmt. Alptraumzerfressen. So wollte sie der Dame auf keinen Fall begegnen.
Philips voreheliche Romanzen machten ihr nichts aus. Es hatte mehr als nur eine Dame seines Herzens gegeben. Doch Cérise war weitaus mehr gewesen als nur die gutaussehende Ablenkung eines wohlsituierten Herrn: eine echte Partnerin. Eine mutige, selbständige Frau, die er nicht nur geliebt hatte, weil sie schön und verfügbar, sondern weil sie in vielen Dingen ein ganz besonderer Mensch war.
Er war sehr ehrlich gewesen. Corrisande wünschte fast, er hätte die Angelegenheit etwas mehr verbrämt. Doch sie verstand, daß seine Offenheit zum Ziel hatte, ihr zu verdeutlichen, daß das, was er für sie als seine Ehefrau empfand, wieder etwas ganz anderes war.
Dennoch würde sie Cérise nicht empfangen. Schon gar nicht zu so nachtschlafender Zeit. Sie würde sie abweisen. Es gab keinen Grund, anders zu handeln. Absolut keinen.
„Sagen Sie ihr, ich werde so schnell wie möglich bei ihr sein, und bringen Sie mir frisches Waschgeschirr – ich fürchte, ich habe dieses beschmutzt. Ach, und schicken Sie mir meine Zofe.“
Corrisande rappelte sich mühsam auf und schloß die Augen, während das Zimmer um sie herum sich drehte. Nicht schon wieder.
„Bitten Sie Mademoiselle Denglot, auf mich zu warten. Ich werde mich beeilen. Bieten Sie ihr ein paar Erfrischungen an.“
Cérise Denglot, die beste und schönste Sopranistin der Welt, stattete ihr einen Besuch noch vor dem Frühstück ab. Dafür gab es gewiß einen guten Grund. Oder, was wahrscheinlicher war, einen schlechten.