Kapitel 44
Udolf hastete den schmalen Tunnel entlang und versuchte dabei, alles auszublenden, was nicht zu seiner Hauptaufgabe gehörte: aus dem Höhlensystem zu entkommen, um seinen Bericht abzugeben. Nicht einfach. Der Höhlenboden war uneben, und er mußte achtgeben, wo er hintrat. Gleichzeitig lauschte er nach Geräuschen, falls ihm jemand entgegenkam.
Er hatte dem Toten die Schußwaffe abgenommen, doch er wußte, daß ein Schuß alle in der Höhle sofort alarmieren würde. Es war nett von McMullen gewesen, ihm die Waffe zu überlassen, doch jetzt, da er darüber nachdachte, hätte sie wohl besser bei Delacroix bleiben sollen. Im Berg konnte Udolf sie sich nicht zunutze machen, und wenn er damit erst einmal durch den Wasserfall getaucht war, würde das Schießpulver ohnehin naß sein. Vorausgesetzt, er kam so weit.
Es wurde heller, und er ahnte, daß er bald die Haupthöhle erreichen würde, die er unentdeckt durchqueren mußte. Circa dreizehn Männer, hatte Asko gesagt, doch das beinhaltete ihn und die beiden, die sie eben außer Gefecht gesetzt hatten. Vielleicht hätten sie sich die Zeit nehmen sollen, einen besseren Plan auszuarbeiten. Doch die Zeit war knapp. Die Abwesenheit der beiden Männer würde bald auffallen. Trotzdem war er sicher, daß sie einen Fehler gemacht hatten. Sie hätten McMullen und Delacroix nicht im Berg lassen dürfen, allein mit der Gefahr, ohne Proviant, ohne Waffe außer Delacroix‘ Messer und den Zauberkräften eines Meisters, der wiederum seinen Meister gefunden hatte.
Er fühlte sich schuldig. Es war denkbar, daß er überlebte, seine Retter jedoch nicht. Die Erkenntnis schmerzte ihn, doch er war zum Denken zu müde. Auch waren ausgeklügelte Pläne nicht seine starke Seite, und überhaupt war es jetzt zu spät.
Er mußte Ischl erreichen. Noch war er nicht da, und im Moment war die Gefahr, in der er sich befand, nicht geringer als die für Delacroix und McMullen. Es war ein weiter Weg nach Ischl, und sobald man seine Flucht bemerkte, würde er die Verfolger auf dem Hals haben.
Noch immer war er ausgehungert und ermattet, und ihm war kalt. Doch das tat nichts zur Sache. Seinen Rippen ging es besser, und er war stark genug, zu tun, was getan werden mußte, allerdings nicht stark genug, eine ganze Gruppe Männer im Nahkampf zu besiegen. Einen vielleicht. An Schlaf war auch nicht zu denken. Also dachte er nicht daran. Auch nicht an Abendbrot, Frühstück und dazwischen ein warmes, gemütliches Bett.
Die Mission war ein Desaster. Seine Tarnung war so gut gewesen, und dann war er in diese gottverdammte Grube gefallen. Es irritierte ihn immer noch, daß sie ihn darin hätten sterben lassen, ohne auch nur nachzusehen. Natürlich war er ein Spitzel. Doch er hätte auch einfach nur ein Landschaftsmaler sein können, so wie der Tote, mit dem er die Grube geteilt hatte, nur ein Lehrer war, ohne Wissen um die Machenschaften, die ihn töteten.
Die Erfindung selbst klang böse, unmenschlich und skrupellos. Er glaubte kaum, daß sie funktionieren könnte, doch Asko hielt es für möglich, und der war ein sehr guter Techniker. Von Görenczy versuchte, sich die schiere Anzahl von Fey vorzustellen, die das Militär fangen mußte, um die Waffe im Kriegsfall nutzbar zu machen. „Hexenjagden“ gewaltigen Ausmaßes würden stattfinden. Die Bruderschaft würde auf ihre Kosten kommen.
Er dachte an Arpad. Er respektierte den Mann, auch wenn Asko das nicht konnte. Asko und seine Voreingenommenheit. Doch selbst er hatte den Gedanken nicht gemocht, Geschöpfe als Munition zu verheizen. Warnen Sie ihn, hatte er die Briten gebeten, doch die würden ihn wahrscheinlich nicht treffen – und was hatte es mit dem Mädchen auf sich? Askos Stimme hatte mehr als nur besorgt geklungen.
Udolf ging nun vorsichtig, denn der Tunnel wurde immer heller, und gleich würde er in der Haupthöhle sein. Er hielt an und lauschte. Ein Geräusch von Metall auf Metall klang an sein Ohr, dann Stimmen. Er versuchte angespannt, mehr wahrzunehmen. Eine Stimme gehörte Asko.
„Wo sind alle hin?“ fragte Asko jemanden.
„Also“, begann eine rauhe Stimme, „eine Gruppe von vier Leuten geht gerade los. Meister Marhanor hat eine Fey-Emanation wahrgenommen – aus Richtung der Poststation. Also sind sie los.“
Asko schnaubte verächtlich.
„Die wievielte schwache Fey-Emanation mag das sein? Dutzende waren es schon. Im See, im Forst, auf dem Mond, und nie hat man was gefunden. Die hätten auch hierbleiben können.“
„Stimmt“, gab die Stimme zurück. „Sie sind auch nicht gern gegangen, so spät. Doch der Meister bestand darauf. Er sagt, er spürt den Feyon, der Ihnen und den Jägern entkam, im Berg. Er ist noch drin und braucht noch eine Weile hierher, und weil Meister Marhanor den Berg blockiert, konnte er mit der Vierergruppe nicht mitgehen. Das hätte er sonst gern getan.“
„Höchstwahrscheinlich wieder nichts.“
„Ich wünsche ihnen Glück. Zwei Sí wären besser als einer.“
Udolf hörte wieder Metall auf Metall.
„Sind sie schon lange weg?“ fragte Asko. „Ich habe bis jetzt geschlafen. Ich habe sie nicht gehen sehen.“
„Sie gehen eben los.“
„Sehen Sie“, sagte Asko. „Da. Das meine ich. Sehen Sie die Schrauben? Sind sie nicht verrostet?“
„Ich sehe nichts. Warum sollten sie verrostet sein?“
„Sie müssen genauer hinsehen. Klettern Sie hier rauf. Ich helfe Ihnen. Hier. Lehnen Sie sich direkt hinein!“
„Ich kann nichts sehen …“ sagte eine hohle Stimme, und von Görenczy nahm das als Stichwort und trat in die Höhle. Er rannte nicht, das wäre auffällig gewesen. Auf dem unebenen Steinboden konnte man nicht geräuschlos gehen. Also ging er ganz normal, als ob er ein Recht hätte, genau hier zu sein.
Er sah Asko, der mit dem Rücken zu ihm stand und einen Mann stütze, der mit dem Oberkörper halb in einer eindrucksvollen Maschine verschwunden war, die wie eine kleine Miniaturlokomotive mit einem umgestülpten Schirm aussah.
Askos Kopf drehte sich und deutete eine Richtung an. Ein dunkler Schatten an der Wand stellte sich als eine Felsspalte heraus, von der ein weiterer Gang sich abtrennte.
„Können Sie es jetzt erkennen?“ fragte Asko, und einen Augenblick lang dachte Udolf, er sei gemeint. Er nickte und wandte sich dem Gang zu.
„Nein“, erklang die Stimme aus der Maschine. „Ich kann keine Korrosion feststellen. Sieht alles tipp topp aus. Sie machen sich zu viele Gedanken. Wird schon klappen. Ist doch eine ausgezeichnete Arbeit. Wir brauchen nur Munition.“
Der Kopf tauchte aus der Maschine auf, und der Mann sah Asko an, der sich so hingestellt hatte, daß der Mann mit dem Rücken zum Gang stand.
„Ich dachte nur“, sagte er, „es wäre unangenehm, wenn wir dann endlich Munition haben und feststellen, daß die Maschine wegen einer korrodierten Schraube nicht funktioniert.“
Udolf glitt in die Schatten den Ganges und preßte sich gegen die Wand. Einen Augenblick lang blieb er reglos stehen. Der Mann drehte sich um.
„Ich könnte schwören“, brummte er, „ich habe jemanden vorbeigehen hören. Wer war es?“
„Tut mir leid, ich habe nicht hingeschaut“, entgegnete Asko. „Eventuell Bilecki? Ich weiß es wirklich nicht. Schauen Sie, diese Schraube …“ Er zog den Mann auf die andere Seite der Maschine, wo die Erfindung selbst ihre Sicht einschränkte.
Leise kroch Udolf weiter durchs Dunkel. Er hatte eine Laterne an sich genommen, die am Ende des Ganges gestanden hatte, als warte sie auf ihn. Noch wagte er jedoch nicht sie anzuzünden, um sich nicht durch den Lichtschein zu verraten.
Er würde den Wasserfall im Dunkeln finden müssen. Er hoffte, daß es auf dem Weg dorthin keine Fallen und Gruben gab. Er haßte es, seinen Weg an den Felsen entlang ertasten zu müssen, während er nicht einmal sehen konnte, wohin er seine Füße setzte. Angst, wieder in ein finsteres Loch zu fallen, um dort auf den Tod zu warten, durchfuhr ihn eiskalt. Er war kein Feigling, nie gewesen. Im Gegenteil, seine Handlungsweise war eher immer zu draufgängerisch und unvorsichtig. Die unfreiwillige Diät und die üble Lage, in der er sich befunden hatte, mußte ihn erschöpft haben. Er fluchte still in sich hinein.
Er beneidete Asko nicht um dessen Rolle. Teil eines solchen Unterfangens zu sein – und sei es nur als getarnter Spion – mußte einem auf dem Gewissen liegen, und das Gewissen war Askos schwächste Stelle.
Er fing sich mit den Händen, als seine Füße auf dem abschüssigen, rauhen Grund rutschten. Der geheimnisvolle Pfad führte eindeutig bergauf. Asko hatte nicht gesagt, daß man den halben Berg erklettern mußte. Er fragte sich, wie weit es noch wäre, ob er auf seinem Weg noch einem Feind begegnen würde und wohin ihn der Wasserfall spülen mochte. Wahrscheinlich in den kleinen See. Er fragte sich auch, ob die Gruppe, die auf der Suche nach der Fey-Emanation war, noch an diesem See sein würde, wenn er ihn erreichte.
Daß er sie überholen könnte, um vor ihnen bei Ladners zu sein, glaubte er nicht. Es war unmöglich. Damit konnte er nichts für Mrs. Fairchild tun. Sie war stärker und zäher, als sie aussah; vielleicht würde sie entkommen. Oder es würde ihr gelingen, sich aus der Sache herauszureden. Sie sah nicht aus wie eine Feyon, nur wie eine süße, junge Frau.
Er hoffte, Asko würde nichts Dummes unternehmen. Noch ein halbes Jahr zuvor hätte er Berge versetzt, um dem bezaubernden Mädchen zu helfen. Doch Asko hatte sich verändert.
Jetzt hörte er den Wasserfall. Er klang nah. Von Görenczy zwang sich, nicht zu rennen. Er stieg blind durch einen Berg. Das tat man besser langsam. Selbst wenn er sich beeilte, würde er es nicht schaffen, Delacroix‘ tapferes Frauchen rechtzeitig zu warnen.
Nun spürte er die Feuchtigkeit des Gischtnebels. Er berührte Gesicht und Hände wie eisige Spinnweben. Er hatte gehofft, die Öffnung würde seinen Pfad beleuchten, doch draußen war Nacht.
So ging er auf einen unsichtbaren Wasserfall zu, ohne zu ahnen, wohin er seine Schritte setzte. Der Gedanke, abzustürzen und zu ertrinken, meldete sich mit plötzlicher Heftigkeit. Er hätte Asko fragen sollen, wie weit es eigentlich nach unten ging. Er hatte noch nicht einmal gefragt, ob man durch den Wasserfall laufen konnte oder springen oder daran herunterklettern mußte. Verdammt, sie hatten ihre Hirne nicht beisammen gehabt. Ihm blieb nichts übrig, als es auszuprobieren. In stockfinstrer Nacht, ohne eine Ahnung, wohin es ging, würde er durch einen gottverfluchten Wasserfall gehen. Doch er hatte sich diesen Beruf ausgesucht.
Plötzlich dachte er an sein Elternhaus. Sein Vater hätte es gerne gesehen, wenn er geheiratet und sich aus dem aktiven Dienst auf den Landsitz der von Görenczys bei Regensburg zurückgezogen hätte. Dort hätte er leben und eine der braven, wohlerzogenen Töchter der adligen Nachbarsfamilien heiraten können. Morgens ausreiten, ein bißchen mit dem Verwalter plauschen, dann Mittag essen, nachmittags mit der Ehefrau Tee trinken, abends den Kindern Gute-Nacht-Küsse geben und schließlich den Tag bei einer Zigarre und einem Glas Frankenwein ausklingen lassen. Er wäre vor Langeweile gestorben. Wenn er jetzt draufging, dann wenigstens nicht aus Langeweile.
Er gehörte dem feschsten Regiment Bayerns an und hatte ein interessantes Leben. Er konnte sich nicht beschweren. Man respektierte ihn, Scharen hübscher Mädchen mit den unterschiedlichsten Auffassungen von Tugend fanden ihn hinreißend und gestatteten ihm mehr oder weniger Freiheiten, je nachdem.
Seine Hand verlor den Halt am Fels und faßte ins Wasser. Einen Augenblick lang stolperte er rückwärts. Das Wasser dröhnte und toste in seinen Ohren und überlagerte jedes andere Geräusch. Die Intensität des Lärms hüllte ihn ein und zog ihn in ein eigenes kleines Universum. Feinde verloren an Bedeutung. Nur Wasser blieb.
Er trat behutsam vor, tastete mit dem Fuß nach sicherem Grund, fürchtete, der Fels unter ihm mochte ganz plötzlich verschwinden und ihn der Gewalt der Fluten überlassen. Die Hände hielt er nach vorn ausgestreckt. Nach einem vorsichtigen Schritt berührten seine Finger Wasser. Der Ansturm des eisigen Nasses schlug seine Hände nach unten und zeigte ihm die Vehemenz, mit der es außerhalb des Tunnels abwärts stürzte. Die Erdanziehung war das einzige Gesetz, dem Wasser gehorchte.
Er fragte sich, woher dieser Gedanke kam. Er sah ihm nicht ähnlich. Er tastete seitlich nach der Öffnung im Fels. Ein schmaler Spalt, schmaler, als er gedacht hatte. Wieder tat er einen winzigen Schritt nach vorn, schob sich Zoll um Zoll weiter, bis er das prasselnde Wasser auf seinen Schuhspitzen spürte.
Noch ein Schritt. Seine Schultern berührten die Felsen zu beiden Seiten des Spaltes. Den Kopf hielt er zurückgewandt, um ihn nicht dem Trommelfeuer der brausenden Fluten auszusetzen. Eiskalter Nebel sprühte ihn ein, durchweichte seine Kleidung und das Pulver in seiner Waffe und machte alles naß und rutschig.
Er mußte sich seitlich wenden. In voller Breite paßte er nicht durch den Zwischenraum. Er stellt die Laterne ab, verfluchte sich, daß er sie nicht angezündet hatte. Er hätte es tun sollen. In seiner Besorgnis, nicht entdeckt zu werden, hatte er das Ding dunkel bis hier her geschleppt. Nun war alles naß.
Er fuhr mit den Händen an der Lücke entlang. Über ihm schien der Durchlaß etwas weiter zu sein, und so tastete er mit dem Fuß nach einem Halt, um höher zu steigen. Der Fels war glatt, und er konnte keinen Vorsprung ertasten, der ihn halten würde, wenn er weiterkletterte.
Ihm kam der Gedanke, daß er keine Indizien für seine Flucht zurücklassen sollte, also hob er die Laterne wieder auf. Es kostete ihn Überwindung, sie fortzuwerfen, denn das hieß, daß es kein Zurück mehr gab. Er brach alle Brücken hinter sich ab. Kaum hielt er sie ins Wasser, entriß es sie ihm auch schon.
Das war‘s. Er mußte jetzt springen oder die Sache lassen. Wenn er aufgab, würde der Meister ihn zum Reden bringen, und er würde alles verraten, Asko, Delacroix, dessen Frau, McMullen, ihre Ziele, ihre Kontakte.
Überleben würde er trotzdem nicht. Also lieber ehrenvoll abtreten.
„Wirf dein Herz über die Hürde, Udolf“, murmelte er sich selbst zu, „der Rest kommt dann schon nach.“
Er wickelte seinen gestohlenen Janker fest um sich, versuchte, sich an ein passendes Gebet oder wenigstens einen passenden Heiligen für die Fürbitte zu entsinnen.
„Heilige Barbara, die du denen im Dunkel der Berge hilfst … das ist jetzt dein Stichwort.“
Er sprang.