Kapitel 31
Die Zeit schenkte ihm neue Erkenntnis. Sie schien so flüchtig. Manchmal raste sie, dann wieder kroch sie. Er hörte Wasser und spürte die Tropfen auf seiner Haut. Er brauchte eine Weile, um Haut als solche zu begreifen, zu verstehen, daß sie ihn einschloß, er in ihr weilte und die Welt durch sie erfühlte.
Dies war auch seine Erkenntnis. Er war eine Kreatur. Er war nicht aus Fels und Wasser gemacht, obgleich Letzteres ihn einlud, mit ihm zu kommen und mit der Zeit selbst um die Wette zu rasen. Anfangs verstand er diese Einladung nicht, dann versuchte er, sie zu ignorieren, schließlich lehnte er sie ab. Das machte ihn stolz, denn es hieß, daß er eine Entscheidung gefällt hatte. Wenn er das konnte, so verfügte er über einen freien Willen. Wer selbständig dachte, mußte leben.
Fortschritt. Die Feststellung, daß er lebte, war ein Fortschritt. Gleichwohl mangelte es ihm an Wissen, wo die Wirklichkeit und wo Träume anfingen und endeten. Der letzte Gedanke beunruhigte ihn, denn er schien sich zu entsinnen, daß er der Herr der Träume war. Er spann sie, wickelte sie und wob sie zu Harris-Tweed. Ungebeten fuhr der Ausdruck, den er mit Wollstoff assoziierte, durch seinen Geist, und er versuchte, ihm zu seinem Ursprung zu folgen. Doch er verirrte sich. Eben noch da, war der Begriff schon wieder aus seiner Realität verschwunden und hinterließ nur die Spur einer bedeutungsleeren Silbe.
Diese Silbe tönte in seinem Gemüt und hallte von den salzigen Wänden wider. Was hatte er da nur gedacht und was damit gemeint?
Träume. Er hatte über Träume gegrübelt. Ein Kichern erklang, nicht von außen, sondern von innen, aus der sicheren Umhüllung seiner eigenen Haut, und es gluckste durch seinen Körper. Er war Traummeister, und sie hatten ihm das nicht nehmen können. Nach und nach gewann er Kraft zurück. Mit jedem lebenstollen Tropfen klaren, kalten Wassers, der ihn berührte, schickte er seine Träume in die Ferne, reckte sich nach dem Denken und Fühlen der Wesen, die er nicht verstehen oder definieren konnte. Er reiste an deren Herzensbanden entlang. Diese Wege standen ihm offen, und sie waren starke Verbindungen, die Energielinien der Liebe.
Mit plötzlicher Klarheit begriff er, daß die Menschen, die ihn gefangengenommen hatten, nichts von alldem verstanden. Sie erwarteten, daß er so sei wie sie selbst, in sich physisch gefangen, sterblich, der Zeit untertan, einem Körper aus Fleisch und Blut zugeteilt. Doch hier in den Bergen gab es viele Wesen, die nicht so waren. Die Zeit lief schnell für das Wasser und langsam für den Fels und schuf so ganz unterschiedliche Wirklichkeiten, von denen die feindlichen Menschenwesen nichts ahnten. Sie suchten nach seinen Geschwistern, vielleicht sogar nach seinen Müttern und erwarteten, daß sie so wären wie sie, nach ihrem Bilde geschaffen, in ihrem Zeitstrahl gefangen, von nichts umgeben als von Haut.
Doch er gehörte zu den Na Daoine-Maithe, und die Wirklichkeit war nicht so eng und schmal, wie die Menschen meinten. Auch gab es nicht nur eine Wahrheit. Wie konnten sie nur so phantasielos sein, das zu glauben?
Natürlich gab es Verwandte, die in nur einer Zeitlinie ihr Zuhause hatten, die unter Menschen wohnten, mit ihnen lebten. In der Menschenwelt stachen sie durch entsprechende Macht und Stärke hervor. In der Welt der Fey waren sie die Schwächeren. Ihre Kräfte konnten sich nicht mit denen von Fels und Wasser messen, und obschon Stein zu gemächlich war, um sich Gedanken um sie zu machen, konnte Wasser sie doch überwinden, sie ändern und mitreißen in den Lebenskreis der unendlichen Wiederkehr. Sie verloren sich. Ihre menschenähnliche Essenz löste sich auf in einen Strahlenkranz voller einzelner Gedanken und Ziele, bildete Bach, Fluß, See, Ozean – doch nie wieder zu das gleiche autarke Wesen.
Keiner seiner Gedanken ergab Sinn. Über Harris-Tweed hatte er nachgedacht. Er versuchte, die Erinnerung wiederzubeleben, die so nah beim Klang dieses Wortes lag, doch es wollte sich kein Bild zu den Silben einstellen. Gleichwohl fühlte er, daß es wichtig war, sich daran festzuhalten. Ein Teil seiner selbst war darin versteckt, jenseits von dem, was Bedeutung bedeutete.
Ein Klang von Heimat – und auch dies war ein fremdes Konzept. Wohl war er reviergebunden, so viel war richtig, hatte sich nie aus der trauten Geschlossenheit der Berge entfernt. Doch waren sie ihm Heimat? Mußte man nicht, um etwas als Heimat zu begreifen, auch das kennen, was nicht dazugehörte?
Heimat. Ein merkwürdiger Gedanke. Das Dunkel, das ihn umgab, war das Heimat? Das Fließen und Glucksen des Wassers, das durch den Fels hüpfte und sprang, immer nach unten, nie nach oben. Jedes Wesen hatte seine Einschränkungen, und Wasser konnte nicht bergauf wandern. Hier waren die Berge sein Meister. Sie wuchsen mit der Zeit, erhoben sich in langsamem Selbstbewußtsein aus dem Salzmeer, verwandelten flachen Muschelstrand in senkrechte Schluchten.
Damals war er noch nicht dagewesen. Zu lang war das her. Doch die Berge kannten noch ihre alten, langsamen Lieder und sangen sie, begleitet vom Forte eisiger Winter und der süßen Modulation des Frühling, der nur für einen winzigen Augenblick sein Glockenspiel erklingen ließ, bevor der Sommer das Thema aufgriff und seine Schönheit in goldenem Herbst verklingen ließ.
Er mochte den Klang der Berge und hatte ihm lange gelauscht. Doch es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sie keine Zuhörer gehabt. So hatte die Melodie der Erde sie alle geschaffen, einen nach dem anderen, all die Kreaturen aus Fels und Luft geboren, aus Himmel und Wind gekürt, Wasser und Sonnenschein, Dunkelheit und purem Willen. Na Daoine-Maithe nannten sie sich, die guten Wesen, die Zuhörer der Welt.
Die Fey. Das Wort erbebte in seinem geschundenen Gedächtnis. Böse Gestalten aus Legenden und Märchen. Putzig und süß oder gefährlich und finster. Wie auch immer, ihre hervorstechendste Eigenschaft war, daß sie nicht existierten. Er war sich sicher. Sie waren nur Aberglaube, wuchernde Gedanken dummer und ungebildeter Menschen. Die Unterschicht glaubte an so etwas. Er nicht. Nie. Höchstens, als er noch ganz klein gewesen war.
War er noch klein? Er versuchte, sich zu definieren, und es gelang ihm so wenig wie die Male davor. Er mußte klein und jung sein, denn an die Musik der Berge konnte er sich nicht erinnern. Ein ferner Dudelsack, der ein Klagelied durch ein Tal schallen ließ, war das, was seiner Vorstellung von Bergmusik am nächsten kam. Wieder versuchte er, sich daran zu erinnern, warum er das eben gedacht hatte. Bergmusik. Wenigstens ein Lied sollte ihm doch einfallen.
Ein paar Verszeilen kamen ihm in den Sinn, und er klammerte sich an ihnen fest wie ein Ertrinkender an einer Rettungsleine. „Ohne Zurück – setzt‘ ich aufs Glück – fand dessen Segen – auf meinen Wegen – doch ohne ein Wort – ging es fort, weit fort.“
Er erinnerte sich an die Melodie und begann, sie zu summen. Sie schallte durch das Dunkel um ihn herum. Plötzlich schien er noch einsamer zu sein. Ein Lied war ihm eingefallen, es war da, bei ihm, und verlieh seinem Erinnerungsvermögen Gehalt. Als er klein war, hatte er dieses Lied gelernt, und das war noch nicht lange her. Er war immer noch jung, zu jung, um allein in der Dunkelheit begraben zu liegen und den Liedern der Berge zu lauschen.
Ihm wurde klar, daß er Grund hatte, sich zu fürchten, denn so allein war er noch nie gewesen. Doch er war auch noch nie so wenig allein gewesen. Etwas Fremdes kratzte an seinen Gedanken, machte sich in seinem Geist breit, verlangte nach Platz in seinem Körper und berührte alles, was er war.
„Wer bist du?“ fragte er, und die geheimnisvollen Felswände warfen seine Frage zurück.
„Du … du … du …“
„Warum?“
„Drum … drum … drum …“
Er suchte in seiner Erinnerung nach seinem Namen, stolz, daß ihm eingefallen war, daß er einen haben mußte, und summte wieder sein Lied, freute sich an dem Klang, der ihn verließ und von außen wieder an sein Ohr drang und an sein Begreifen.
„Ich lebe“, stellte er fest, und das Echo antwortete unerwartet.
„Du bist vergänglich.“
Danach sang er weiter. Der Hall spann sein Lied zum Kanon, und ein eigentümlicher Bordun formte sich aus seinen tiefsten Tönen. Zum ersten Mal verstand er das Lied.
„Mr. Swithin“, sagte er, als plötzlich das spitze Mäusegesicht mit dem ewig miesepetrigen Ausdruck vor seinem geistigen Auge auftauchte. „Sie hatten Recht mit vielen Dingen, und von anderen hatten Sie nicht einmal den Ansatz einer Ahnung.“
Er verschob seine Konzentration von seinem belagerten Verstand fort zu seinen anderen Sinnen. Die Felswände um ihn herum konnte er erkennen, obgleich das Dunkel vollständig war. Es fächerte sich in ein Spektrum verschiedener Grautöne. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung bewußt wahr. Er sah, wo Gestein war, wo Luft und wo Fleisch.
Er blickte an sich hinab. Er war ein sehr junger Mann, stellte er fest und meinte, das immer schon geahnt zu haben. Natürlich, was sollte er sonst wohl sein? Er war ein junger Mann in einer Höhle.
Er verspürte Schmerzen. Sie sammelten sich an seiner neuen Erkenntnis, und es war ihm schier unmöglich, sie einem Körperteil zuzuordnen. Es war eher, als seien sie gleichmäßig über seinen ganzen Körper verteilt, durchdrängen jeden Knochen und alle Organe.
Er war vergänglich, hatte das Echo gesagt. Das hieß, er würde sterben. Hier in der Höhle würde er in seinen Schmerzen liegen und sterben.
Das konnte er nicht zulassen. Letztlich war er unsterblich oder immerhin beinahe. Am Leben entlangzureisen war seine Spezialität, und dabei Schmerz zu verspüren war eine unwillkommene Ablenkung. Das Gefühl erinnerte ihn an den grausigen Moment, in dem die vergänglichen Geschöpfe ihn ergriffen und zu entleeren versucht hatten.
Er lernte aus der Erfahrung und beschützte den zerbrechlichen Körper, in dem er nach dem Versagen seines eigenen physischen Zusammenhalts Zuflucht gesucht hatte. Vieles wurde immer klarer. Sein Geist war gespalten. Doch er würde heilen, und auch das Menschenwesen würde heilen, denn nur geheilt würde es nützlich sein, und schließlich würden sie um diesen Körper streiten, inmitten der Felsmusik, der Wassermelodie und der süßen Weise, die der sterbliche Junge gesummt hatte. Er mochte das Lied.
Es würde Jahre dauern, bis diese Knochen zu Salz wurden, wenn überhaupt. Doch er hatte, was er brauchte, eine körperliche Erscheinung, die ihm half, sich in der stofflichen Welt zu materialisieren.
Der Jüngling würde lernen zurückzustehen. Im Augenblick war seine allzu deutliche Anwesenheit noch ein Ärgernis. Die Gedanken flogen ihm zu ungestüm durch den Schädel, zu scharf und zu klar. Daran war er nicht gewöhnt. Schlafende dachten unklare, wolkenverhangene Gedanken. Mit den Bildern, die sie formten, ließ sich spielen. Er war für sie der Wind, der durch die Bäume weht, der Gesang unmöglicher Vögel, das Gurgeln eines Baches, der den Berg hinan fließt.
Er war Ian und sonst gar nichts, und jetzt würde er ein wenig schlafen. Wenn er wieder erwachte, würde er aufstehen, und danach würde er nach Hause gehen.