Kapitel 26
Sophie lag auf dem engen, harten Bett in dem kleinen Gasthof in Grundlsee, in dem sie abgestiegen waren. Es war ein schlichter Ort, vermutlich eher für die Leute des Salzhandels gedacht als für Damen der gehobenen Gesellschaft. Auch hatten sie nur zwei Zimmer mieten können. Mrs. Fairchild mußte ein Zimmer mit ihrer Zofe teilen, und sie selbst teilte sich den Raum mit Cérise Denglot.
Glücklich war keine von ihnen über diese Regelung gewesen, doch nachdem sie sich entschlossen hatte, in den Bergen nach ihren Männern zu suchen, waren sie zu stolz gewesen, um sich von solchen Unbequemlichkeiten abschrecken zu lassen.
Sie war zerschlagen. Die Nacht zog sich. Ein paar Stunden hatte sie geschlafen, dann war sie erwacht, als Cérise im Schlaf gestöhnt hatte. Torlyn, hatte sie geseufzt. Es klang nicht nach einem Alptraum.
Der Mond schien ins Fenster, und da der Gasthof keinen Paravent hatte, der ihnen ein wenig Privatsphäre und Würde gelassen hätte, sah Sophie, wie das mondhelle Goldhaar ihrer Zimmergenossin über das Kissen strömte, wo es einem entzückenden Spitzenhauch von einem Nachthäubchen entkommen war.
Die Frau war außergewöhnlich schön. Sophie fand das irritierend und schalt sich wegen einer Eifersucht, die ihr nicht zustand. Ihre Liebesgeschichte mit Torlyn lag über zwanzig Jahre zurück, war längst vorbei. Sie hatte sie beendet. Sie war Anfang dreißig gewesen und genauso hübsch wie die französische Sängerin heute. Über zehn wundervolle Jahre hatten sie zusammen gehabt.
Es hatte unendlich wehgetan. Nichts im Leben hatte je so geschmerzt wie ihn fortzuschicken, ehe er das Interesse an ihr verlor. Doch sie wußte, sie wurde älter und er nicht. Sie wollte nicht warten, bis er sie wegen einer Jüngeren verließ. Er war nicht im normalen Sinn des Wortes treu. Auf gewisse Weise lebte er seine eigene Art von Treue. Tiefe, leidenschaftliche Liebe empfand er – soweit sie wußte – immer nur zu einem Menschen. Doch er nahm sich viele und feierte die Liebe mit ihnen. Er war so unwiderstehlich und so aufregend erotisch, daß ihn die meisten Frauen und Männer nicht viel Überredungskunst kosteten. Ein winziger Zauber, der ihnen den Weg zu Freiheit und Leidenschaft zeigte – und fast alle hießen ihn und das, was er mit ihnen tat, willkommen, ganz gleich, ob er nur ihr Blut trank oder sie auch auf andere Weise auskostete.
Das Andenken an seine Liebkosungen war immer frisch in ihrem Gedächtnis. Sie entsann sich seiner Kunstfertigkeit, ihren Körper auf ihn einzustimmen. Er hatte das Wissen und die Sensibilität, ihre Bedürfnisse zu erfühlen, ihre Liebe und ihre Leidenschaft bis zur Ekstase zu steigern. Sie erinnerte sich auch an seine Leidenschaft, die Liebe und die tiefe Erregung in den dunklen Augen.
Es hatte sie beinahe zerrissen, ihn zu verlassen. Sie hatte ihre Rückkehr in die „normale“ Gesellschaft sorgsam geplant, hatte ihn um Hilfe gegeben, und er hatte sie gewährt. Auch ihn hatte es geschmerzt, doch er war zu alt und weise, um die Notwendigkeit nicht einzusehen, und zu großmütig, um nicht alles dafür zu tun, daß sie – aus seinem Schutz entlassen – ein akzeptiertes Leben in respektablem Umfeld führen konnte.
Sie hatte sich einen Mann auserkoren, und gemeinsam mit Torlyn hatten sie eine glaubhafte Lebensgeschichte, eine ehrenwerte Vergangenheit für sie gesponnen. Torlyn hatte dafür gesorgt, daß Herr Treynstern nicht daran zweifelte, vielleicht auch dafür, daß der gutsituierte Herr sich in sie verliebte und ihr einen Antrag machte. Gesagt hatte er ihr das nicht, doch die Verbindung war ungewöhnlich. Sophie war kein junges Mädchen mehr, und Luitpold Treynstern war fast sechzig Jahre alt und ein eingefleischter Junggeselle.
Luitpold hatte ihr Rang und Namen gegeben, einen Platz im gesellschaftlichen Leben und so viel Liebe, wie er vermochte. Nichts davon war mit Torlyn zu vergleichen, doch Sophie hatte versucht, keine Vergleiche anzustellen. Er war nur ein Mensch, alt und erstaunlich unerfahren, was die körperlichen Bedürfnisse einer Frau anging. Doch das war egal. Sie hatte sich bemüht, ihm eine gute, liebevolle Frau zu sein, verständnisvoll und großzügig, und Luitpold hatte nie den geringsten Verdacht gehegt, daß der Sohn, den sie ihm nach einem Jahr Ehe gebar, nicht von ihm war. Er war ein stolzer Vater gewesen.
Wie hatte sie Torlyn um dieses Kind angefleht. Er hatte es nicht tun wollen, hatte gesagt, daß er, obgleich er sie schwängern könnte, nicht wissen konnte, ob ein so empfangenes Kind menschlich erscheinen würde oder deutlich ein Feyon-Kind wäre. Er vermochte nur in Grenzen Einfluß auf die Natur zu nehmen. Er warnte sie, daß es sie ruinieren würde, wenn sie ein Kind gebar, daß offensichtlich nicht von ihrem Gatten stammte, und daß es auch für das Kind grausam sein konnte, wenn es nicht wußte, wohin es gehörte.
Doch er hatte sie genug geliebt, um es trotzdem zu tun. Heimlich war er in ihr Haus gekommen, als Luitpold beruflich unterwegs gewesen war. Es war das letzte Mal gewesen, daß sie sich geliebt hatten. Wild und unheimlich und fast verzweifelt war die Nacht gewesen, und sie hatten beide gewußt, daß sie einander nie wieder haben konnten.
Eventuell hatte er sein Fey-Talent, Erbgut zu manipulieren, unterschätzt. Oder sie hatten Glück. Thorolf Maximilian war so vollständig menschlich, wie man es sich nur wünschen konnte. Seine Ohren waren rund, Blut zu trinken wäre ihm nie in den Sinn gekommen, und er war auch nicht ein bißchen tagblind. Er war ein normales Kind, vielleicht ein wenig anmutiger und wilder als andere, doch zumindest letzteres mochte an dem frühen Dahinscheiden Herrn Treynsterns liegen.
Einundzwanzig war er jetzt und sah unglaublich gut aus. Er hatte ihr Kastanienhaar geerbt, ihre grauen Augen und ihr Interesse an Kunst. Von seinem Vater hatte er den schlanken Körperbau, die elegante Art, sich zu bewegen, sein Lächeln und das aristokratische Profil. Ganz offensichtlich war sein Weg mit gebrochenen Mädchenherzen gepflastert. Bis jetzt hatte er Glück gehabt, daß kein wirklich schlimmer Skandal ihn zu einer Verehelichung oder noch schlimmer zu einem Duell gezwungen hatte. Sie versuchte immer wieder, ihm ins Gewissen zu reden, doch ihre Ratschläge waren ihm nur lästig. Vermutlich glaubte er nicht, daß seine verwitwete Mutter etwas über die überwältigenden Gelüste des Fleisches wissen konnte.
Torlyn war ihn einmal besuchen gekommen. Ein Jahr nach Luitpolds viel zu frühem Tod stand er auf einmal in der Tür, nicht um sie zu besuchen, sondern um das Kind zu sehen. Die ganze Nacht hatte er neben dem Bettchen gesessen und dem Knaben beim Schlafen zugesehen. Am Morgen war er gegangen. Vorher hatte er noch gesagt, daß sie keine Angst haben mußte. Ihr Sohn hatte fast nichts von einem Feyon, er war fast vollkommen Mensch. Er hatte ihr geraten, dem Buben nichts über seine Herkunft zu sagen und versprochen, ihm die Wahrheit selbst zu erläutern, wenn er erst alt genug war, sie zu begreifen.
Bisher hatte er das nicht getan. Sophie war dankbar dafür, denn sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie ihr eigensinniger Sohn auf die Nachricht reagieren würde, daß er außerhalb des Ehebetts von einem Vampir gezeugt worden war. Vielleicht würde sie ihn verlieren. Das würde ihr zum zweiten Mal das Herz brechen.
Sie drehte sich um. Sie sollte besser schlafen. Es war ein beschwerlicher Tag gewesen. Cérise anzusprechen hatte sie einige Überwindung gekostet, und die Fahrt war wie alle durchs Gebirge rauh und unbequem gewesen. Sie hatten sich nur eine kurze Pause bei der St.-Leonhard-Kapelle am Paß gegönnt. Dort hielten alle Gefährte an, um für eine sichere Reise zu beten. Cérise und sie selbst hatten eine Kerze entzündet. Beide waren katholisch.
Corrisande war in der Zeit spazieren gegangen. Sie hatten sie an einer Quelle kniend gefunden, ihre Hände im eiskalten Gletscherwasser. Ihr Blick war weit ins Leere gerichtet gewesen.
Sie machte sich Sorgen um die junge Frau. Sie wirkte so zart und zerbrechlich und litt offenbar erheblich unter den Begleiterscheinungen einer frühen Schwangerschaft. Sie sah aus, als sei sie nicht älter als bestenfalls achtzehn, eine sehr junge Gattin für den mysteriösen Mr. Fairchild.
Doch Corrisande klang nicht wie ein junges Mädchen. Sie machte den Eindruck, als wisse sie genau, was sie tat, und es stand Sophie nicht zu, sich einzumischen. Wenn die junge Frau glaubte, dies tun zu müssen, dann mußte sie es tun. Sophie hoffte nur, daß die werdende Mutter sich nicht übernahm.
Sie hörte die Tür des andern Zimmers gehen. Noch jemand war wach. Vielleicht Corrisandes charmante Kammerzofe. Oder nicht? Es ging sie nichts an. Sie sollte einfach schlafen. Schließlich wäre es peinlich, jemanden beim Besuch der Örtlichkeiten über den Hof aufzuhalten. Besser, man ignorierte das, und dazu war sie auch entschlossen. Im nächsten Augenblick stand sie auch schon, fuhr leise in Morgenmantel und Pantoffeln und schlich aus dem Zimmer.
Corrisande saß – ebenfalls im Morgenmantel – auf dem Boden im Korridor. Neben ihr brannte eine Kerze. Ihre nußbraunen Locken fielen ihr über die Schultern. Sie trug kein Nachthäubchen. Ihre himmelblauen Augen wirkten übergroß in dem blassen Gesicht. Feingliedrige nackte Füße hatten sich aus den Hausschuhen gestohlen.
„Mrs. Fairchild! Was tun Sie denn hier? Geht es Ihnen nicht gut?“
Die auffälligen Augen fingen sich in ihrem Blick, doch die junge Frau machte keine Anstalten aufzustehen.
„Ich hatte einen Traum“, sagte sie nach einer Weile. „Ich mußte ein paar Schritte gehen. Doch dann wurde mir schwindlig.“
Sophie setzte sich neben sie. Auf dem Flur gab es keine Stühle. Die Dielen waren ausgetreten und alt, aber sauber. Ein bunter Flickenteppich bedeckte sie teilweise. Er bot Schmuck und Wärme gleichermaßen.
„Mrs. Fairchild, es geht mich nichts an, doch ich denke, Sie sollten nicht weiterreisen. Sie brauchen ein bißchen Ruhe. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber sie sehen blaß und krank aus. Sie haben eine Verantwortung ihrem Kind gegenüber.“
Die junge Frau seufzte und schmunzelte unerwartet, was sie äußerst liebenswert aussehen ließ.
„Ich weiß. Aber ich sehe immer viel fragiler aus, als ich bin. Ich bin stark und halte einiges aus. Wir haben dies gemeinsam begonnen, und vielleicht sollte ich deshalb keine Geheimnisse vor Ihnen haben. Wir müssen einander trauen. Also verrate ich Ihnen jetzt etwas – und ich hoffe, Sie verstehen, daß das niemand erfahren darf. Es gibt Wesen auf der Welt, die jünger aussehen und stärker sind, als sie wirken. Sie wissen das. Ich gehöre zu ihnen.“
Sophie war überrascht. War es möglich, daß die junge Frau ihr sagte, sie sei eine Sí? Sie musterte das schöne, anmutige Gesicht. Denkbar war es. Die Ohren waren rund. Genau wie bei Thorolf – es mußte nichts besagen.
„Sind Sie ...“ fragte sie, sprach es aber nicht aus, sondern betrachtete nur still das ebenmäßige, blutjunge Gesicht, den zarten Körperbau, die schmale Gestalt. Sie sah aus wie eine Elfenstatue, der man Leben eingehaucht hatte.
„Meine Eltern sind Menschen. Es liegt Jahrhunderte zurück, da hat es in meiner Ahnenreihe einmal einen ... Fehltritt ... gegeben. Erst bei mir trat das Erbe wieder hervor. Ich verlasse mich auf dieses Erbe, was meine Widerstandkraft angeht. Es hat mich schon einmal am Leben erhalten. Was ich Ihnen gerade gesagt habe, wissen nur wenige Menschen. Sie können sich denken, wie man darauf reagieren würde. Meine Kammerzofe weiß es nicht. Cérise schon. Arpad natürlich auch. Ich mag ihn sehr. Er hat bei meiner Vermählung meinen Vater vertreten.“
Sophie starrte sie an. Sie konnte sich Torlyn nicht vor einem Altar vorstellen.
„Mein Mann weiß es natürlich auch, und noch drei weitere Herren, einer davon der Meister des Arkanen, der mit meinem Mann in den Bergen unterwegs ist – und Sie wissen es jetzt.“
Sophie nahm die Hand der jungen Frau. Sie war kalt.
„Ich bin geehrt, Mrs. Fairchild. Darauf wäre ich allein nie gekommen. Sie wirken vollkommen menschlich. Aber Sie sind ganz kalt und sollten zurück ins Bett gehen, ehe Sie sich erkälten.“
„Ich erkälte mich nicht, Frau Treynstern, und mir ist im Moment auch nicht kalt. Mir war nur schwindlig. Ich neige jetzt morgens dazu.“
„Morgenübelkeit während der Schwangerschaft ist eine äußerst menschliche Eigenschaft, Mrs. Fairchild. Viel Feyonblut kann nach all den Generationen nicht mehr in Ihnen sein. Sie sollten auf die Bedürfnisse Ihres menschlichen Organismus‘ mehr Rücksicht nehmen.“ Sie hielt inne. „Was haben Sie geträumt?“
Corrisande seufzte und senkte den Blick.
„Nichts Schönes. Ich war wieder in dem hohlen Berg. Ich schwamm durch Wassertropfen, die durch das Gestein rannen. Ich sickerte in eine Höhle. Jeder Tropfen von mir sah dort einen brennenden Käfig mit Menschen darinnen. Sie versuchten herauszukommen, doch es gelang ihnen nicht. Dann fing einer von ihnen Feuer.“
„Wer?“ fragte Sophie argwöhnisch, obgleich sie die Antwort ahnte.
Corrisande nickte.
„Arpad. Er hielt ein totes Mädchen in den Armen, und er brannte von innen nach außen. Er schrie und verwandelte sich in eine kleine Sonne. Da verbrannten auch die anderen. Mein Mann war unter ihnen. Ich war Wasser und hätte sie löschen können, doch ich konnte sie nicht erreichen, floß nur von Stein zu Stein und sah immer wieder die gleiche Szene.“
Eine Träne lief ihr über die Wange.
Frau Treynstern spürte die Furcht der jungen Frau. Aus einem Impuls heraus nahm sie sie in die Arme und hielt sie fest. Der junge Körper war ganz verkrampft vor mühsam gewahrter Fassung.
„Pst. Das war nur ein Traum. Wir sind hier, um so etwas zu verhindern. Dazu sind wir gekommen.“
Wie ihnen das allerdings gelingen sollte, wußte Sophie auch nicht. Das Mädchen in ihren Armen entspannte sich ein wenig, und sie strich ihr übers Haar, das so seidig und fedrig war wie das Torlyns. Tatsächlich erinnerte sie die Situation ein wenig an die Zeit, als Thorolf noch klein war und getröstet werden mußte.
„Was ist, wenn es schon geschehen ist?“ fragte Corrisande.
„Es kann noch nicht geschehen sein“, entgegnete Sophie. „Sie sind noch nicht in dieser Höhle, und ein Wassertropfen sind Sie auch nicht. Ich bin mir sicher“, log sie, „daß es sich um Warnungen handelt. Wir haben diese Träume, damit wir diese Dinge verhindern.“
Corrisande seufzte.
„Lieber Gott! Mach, daß das wahr ist.“