Kapitel 56

Asko von Orven unterdrückte mit Mühe seine innere Unruhe. Er machte sich Sorgen um so viele Dinge, daß es ihm zunehmend schwer fiel, dies vor seiner hoffentlich nichts ahnenden Umgebung zu verbergen. Ein Teil seines Ärgers galt genau dem Fakt, daß er sich überhaupt gestattete, unruhig zu sein.

Da war einmal Leutnant von Görenczy. Hatte er es geschafft? Das Team, das man der Sí-Messung hinterhergeschickt hatte, war noch nicht zurückgekommen, obwohl es inzwischen hell wurde.

Vielleicht jagten sie Udolf? Nachdem Sie möglicherweise Corrisande Fairchild ermordet hatten?

Dann waren da noch Delacroix und McMullen. Die Tatsache, daß sie nicht mit von Görenczy den Berg hatten verlassen können, hatte sie in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht.

Natürlich gingen sie ihn im Grunde nichts an. Sie waren von alleine gekommen. Sie würden auch allein wieder rausfinden müssen. Es war nicht seine Schuld, daß er mit einem Haufen ruchloser Mörder zusammen war, nicht seine Schuld, daß der Professor die zerstörerische Kreativität eines Größenwahnsinnigen hatte oder der Magier so viel Respekt vor dem Leben wie eine Dampfwalze vor einem Ameisenhaufen.

Es war auch nicht seine Schuld, daß Charlotte von Sandling irgendwo in der Dunkelheit verschwunden war.

Schon war sie wieder in seinen Gedanken, ihr Gesicht klar vor seinen Augen. Die Frau war seinem Herzen näher als Logik oder Anstand geboten. Wenn sie eine Schönheit gewesen wäre, süß und zart wie Corrisande oder elegant und wunderschön wie Cérise Denglot, hätte er das verstehen können. Doch sie war zu groß, kleidete sich unmodern, war ganz nett, aber nicht außergewöhnlich hübsch und zudem so stur wie ein Maulesel. Keine dieser Qualitäten schätzte er besonders an Frauen. Frauen sollten niedlich und sanft sein, brav und wohlerzogen. Ihre Geistesgaben mochten getrost unakademisch sein, solange sie einigermaßen charmant waren. Nach einem scharfen Verstand hätte er von selbst nicht in einer Frau gesucht, und nun schien gerade dieser ihn an der schachspielenden Charlotte von Sandling am meisten zu faszinieren.

„Träumen Sie, Meyer?“

Er zwang sich zu einem reumütigen Grinsen.

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor. Ich habe letzte Nacht wieder nicht viel Schlaf gehabt.“

„Natürlich nicht. Keiner von uns.“ Der Ton des Projektleiters war wenig freundlich. Doch die Wucht seines Unmuts galt nicht Asko.

„Wie konnte es Ihnen entgehen, daß der Mann ein Magier war? Lieber Himmel, Marhanor, wie konnten Sie das übersehen?“

Der Professor war wütend. Sein Kinn war geschwollen und hatte eine bläuliche Farbe angenommen. Delacroix hatte ihn genau auf den Punkt getroffen. Asko von Orven, der auch gerne mal in den Ring stieg und ein guter Boxer war, hätte ihm selbst keinen besseren Hieb versetzen können.

Doch es war nicht das Kinn, das den Professor am meisten schmerzte. Der Würdeverlust kränkte ihn mehr.

Asko und sein Kollege hatten immer noch die Maschine überprüft, als Schreie aus dem Tunnel, in dem sich die Zelle befand, zu hören gewesen waren. Der Techniker hatte gegrinst, denn er hatte die Schreie den Gefangenen zugerechnet. Asko hatte zurückgegrinst, wenngleich aus einem anderen Grund.

Kurz darauf wurde jedoch deutlich, wer da schrie, und Asko war fasziniert von der Flut unflätiger Vokabeln, die einem ergrauten Herrn aus den besten Kreisen zur Verfügung standen.

Sie waren zum Gefängnis gelaufen.

Sie hatten eine Weile gebraucht, die Tür zu öffnen. Kaum frei allerdings hatte Hardenburg sie alle zusammengerufen. Oder wenigstens hatte er es versucht. Doch man sagte ihm, daß der Meister ihm sich noch nicht widmen könne, da er beschäftigt war und nicht gestört werden wollte. Zudem fehlten vier Jäger, die am Grundlsee nach Sí suchten.

Der Rest der Männer, von denen die meisten geschlafen hatten, hatte keine Lust, ohne magische Unterstützung im Dunkeln ein Gebirge zu durchsuchen. Die Höhlen waren gefährlich, naß und glatt. Ein falscher Schritt brachte den Tod.

Von Orven sagte nicht viel zu all dem. Er schlug lediglich vor zu warten, bis Meister Marhanor fertig war und helfen konnte.

Hardenburg hatte das nicht gefallen, doch es war ihm nichts anderes übrig geblieben.

Jetzt jedoch saßen sie wieder alle beisammen, mit dem Meister in ihrer Mitte, der müde und voller Ungeduld war, und seine Reaktion brachte den Professor fast zur Weißglut. Er sagte einfach nichts.

„Meister Marhanor“, begann Hardenburg erneut. „Wir scheinen ganz plötzlich dreier Gefangener verlustig gegangen zu sein. Einer davon ein Kollege von Ihnen. Sie haben sie hierher gebracht. Sie haben sie nicht befragt, sondern sie den ganzen Tag in ihrem Loch versauern lassen.“

„Wo sie auch jetzt noch versauern würden, wenn Sie es nicht für nötig befunden hätten, sich einzumischen, Hardenburg“, gab der Magier schneidend zurück. Er schien dem Erfinder direkt in die Augen zu blicken, ein Ding der Unmöglichkeit für einen Blinden. Der zielgerichtete leere Blick machte alle nervös, und Asko mied ihn, fürchtete völlig irrational, der Mann könnte so einen Zugang zu seinen Gedanken finden.

„Sie vergessen sich, Marhanor. Sie sind angeheuert worden, um uns bei diesem Projekt zu unterstützen. Sie leiten es nicht. Ich leite es.“

„Sie leiten es schlecht, wie es scheint“, erwiderte der Magier. „Ich hatte gute Gründe, die Gefangenen erst einmal dort zu lassen, wo sie waren. Hunger und Durst sind überzeugende Motivatoren. Ich hatte ausdrücklich gesagt, daß ich mich selbst mit ihnen befassen wollte. Aber Sie konnten ja nicht widerstehen, sie ein wenig von Ihrer Überlegenheit kosten zu lassen, Hardenburg.“

„Und Sie konnten nicht widerstehen, sie ein wenig leiden zu lassen, Marhanor. Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sie mit ein bißchen Hypnose nicht auch so zum Reden gebracht hätten, hungrig oder nicht. Wenn Sie das nicht können, dann muß ich sagen, habe ich Sie massiv überschätzt. Jeder Salonzauberer versteht sich auf ein paar Mesmerismustricks. Oder haben Sie sich vor der Macht ihres Kollegen gefürchtet?“

„Gewiß nicht“, zischte der Meister und zog dabei die narbigen Lippen von den Zähnen. Asko fand, daß er fast wie eine Schlange aussah.

Schweigen legte sich über die Anwesenden. Selbst Hardenburg schien etwas von der gefährlichen Wut zu fühlen, die in dem Magier brodelte. Doch sie hielt ihn nicht lange davon ab, weiter zu argumentieren.

„Nun, wenn Sie keine Angst hatten, dann frage ich mich, weswegen Sie sie nicht gleich befragt haben. Das wiederum bringt mich zu meiner ursprünglichen Frage zurück: Wie konnte es Ihnen entgehen, daß der Mann war, was er war? Denn es ist Ihnen entgangen. Leugnen Sie nicht!“

„Hardenburg! Um Ihretwillen, zeigen Sie etwas mehr Respekt!“ lautete die hitzige Antwort des Meisters. Asko unterdrückte ein Lächeln. Daß er drohte anstatt zu antworten, machte es deutlich: Hardenburg hatte recht.

„Marhanor, um unser aller Willen, zeigen Sie etwas mehr Einsicht!“ gab der Professor prompt zurück. „Es sind drei potentielle Spione im Berg unterwegs. Sie sagen, daß sie nicht hinaus könnten. Doch da bin ich mir nicht so sicher. Wenn Ihnen entgangen ist, daß der Mann Ihr Kollege war, kann Ihnen auch entgangen sein, daß er durch ihren Bann geschlüpft ist.“

„Sie sind noch im Berg. Ich hätte es bemerkt, wenn sie den Bann durchbrochen hätten. Jede größere arkane Feldverschiebung hätte ich bemerkt, und das Brechen eines Bannes erfordert viel Macht und viel Können. Es ist beinahe unmöglich. Der Bann zeigt Störungen an. Wird er von innen berührt, weiß ich davon. Sie haben keinen Begriff davon, wie ausgeklügelt die Magie ist, der ich mich bediene. Sie haben keine Ahnung. Die Männer können nicht hinaus, sofern sie nicht mitten durch diese Höhle laufen und durch den Wasserfall springen. Dafür hätten sich drei erwachsenen Männer unbeobachtet an allen hier Anwesenden vorbeischleichen müssen. Das ist unmöglich. Sie selbst haben gesagt, daß sie nicht schmal genug seien, um durch den Spalt zu passen. Wir haben sie sicher.“

„Wo sind sie dann?“ höhnte Hardenburg.

„Ich kann ihre Präsenz ausloten, doch ich brauche meine Kraft für den Feyon. Nach Menschen in einem Berg zu suchen, in dem sich ohnehin ein gutes Dutzend davon aufhält, ist sinnlos. Doch ich rüste gerne eine Suchmannschaft mit magischem Licht aus und mit Amuletten, die den Sinn schärfen. Das würde ihnen einen massiven Vorteil gegenüber den Flüchtigen geben. Tatsächlich werden wir sie finden müssen, bevor ich den Bann aufhebe. Doch ich brauche meine Kraft und meine Konzentration für die Aufrechterhaltung des Banns und für die Messungen zur Lokalisierung des Feyons. Ich habe weder die Geduld, noch die Muße, meine kostbare Zeit mit der Suche nach drei Leuten zu vergeuden, die mit einer Kerze irgendwo im Dunkel festsitzen. Vermutlich werden sie genauso abstürzen und sich die Hälse brechen wie der Eindringling vor einem Monat.“

„Der andere Meister kann vermutlich genau wie Sie magisches Licht erzeugen oder die Nachtsicht verstärken.“

„Nicht genau wie ich, Hardenburg. Niemals genau wie ich. Wenn er länger als ein paar Sekunden starke Magie benutzt, kann ich ihn ausfindig machen. Er hat das bislang unterlassen, genau aus diesem Grund. Das heißt, daß sie sich auf ihre ganz normalen menschlichen Fähigkeiten verlassen müssen, um durch die Dunkelheit zu wandern und ein Versteck zu suchen. Wir werden sie finden. Jetzt gleich, wenn Sie darauf bestehen, Hardenburg, doch dann muß ich meine Messungen auf ein anderes Ziel einstellen. Wollen Sie den Feyon – oder wollen Sie diese Männer? Es ist Ihre Entscheidung. Sie sind der Leiter des Projektes, wie Sie eben nochmals betont haben.“

Der Professor starrte den Meister an. Die Männer ebenfalls. Keiner sprach.

„Ich will den Sí“, antwortete Hardenburg nach einiger Zeit. „Und ich will diese Kerle. Lebend, wenn es geht, damit ich sie befragen kann. Aber ich nehme sie auch tot. Der Maler war dem Akzent nach Bayer. Die anderen beiden Briten. Eine eher unwahrscheinliche Konstellation.“

„Aber schon da gewesen“, erwiderte der Meister, und Asko konzentrierte sich auf seine Atmung, und machte sich so unauffällig wie möglich. Sollte der Meister noch mehr wissen, war seine Tarnung in Gefahr.

„Machen Sie sich nicht lächerlich, Marhanor. Diese drei waren kein Team, und der Maler interessiert mich überhaupt nicht. Die beiden Briten schon – ein Kämpfer und ein Magier – das ist eine schlagkräftige Einheit, die manch ein Land gerne zur Spionage zur Verfügung hätte.“

„Dieser Künstler …“ begann Marhanor, doch er wurde unterbrochen. Ein ohrenbetäubender Donner dröhnte wie eine Explosion im Berg. Asko spürte, wie der Fels unter seinen Füßen bebte. Es fühlte sich an, als hätte ein gigantischer Blitz das Gebirge getroffen, gespalten, zerbröselt und zusammengeschmiedet, alles in einem einzigen ewig währenden Augenblick.

In weniger als einer Sekunde war der unerhörte Angriff auf Nerven und Trommelfell vorüber, und die Männer, die alle schreiend von ihren Sitzen aufgesprungen waren, starrten nun den Meister an. Der hatte die Arme seitlich ausgestreckt und murmelte leise unverständliche Worte. Von seinen Fingern sproß ein gleißendes Netz, das sich durch die Höhle streckte, sich durch die Luft verzweigte, in den Fels wuchs. Wie eine Spinne in ihrem Netz stand er da, schwankte ein wenig und mit ihm die leuchtenden Linien. Sie strahlten von ihm aus und durchdrangen alles, was auf ihrem Weg lag.

Asko stellte fest, daß manche der Linien mitten durch seine vermeintlichen Gefährten liefen. So wie sie das bemerkten, begannen sie, furchtsam nach den Spinnenfäden zu grabschen, ohne sie jedoch berühren zu können.

Ihr Schreien verklang mit dem Verschwinden des Strahlennetzes. Es löste sich in nichts auf, und nur der Meister blieb zurück, stand voll konzentriert in ihrer Mitte, seine Hände ausgestreckt.

Alle starrten ihn an, und selbst der Professor war einen Grad fahler geworden. Offenbar war ihm eben klar geworden, mit welchen Mächten er da stritt.

„Was war das?“ fragte jemand, nicht Hardenburg, Asko wußte kaum, wer. Er starrte ebenfalls den Magier an, der langsam seine blinden Augen wieder öffnete und nach einer Weile aufhörte zu murmeln.

„Arkane Energie“, flüsterte er. „Die absolut ungeheuerste Emanation von außernatürlicher Energie, die ich je gespürt habe. Etwas ist in diesem Berg. Es materialisierte und verschwand dann wieder. Ich konnte gerade noch den Bann aufrechterhalten. Was immer es war. Es ist nicht nach draußen entwischt.“

Asko wußte mit einem Mal, was er gesehen hatte, nämlich die Substanz des Bannspruches, den der Meister webte. Ihm wurde übel bei der Erinnerung, und er war froh, daß keine der Kraftlinien ihn berührt hatte. Er war sich sicher, daß zu sehen, wie er von arkanen Spinnenfäden direkt durchschnitten wurde, nachhaltig sein verdauungstechnisches Wohlbefinden beeinträchtigt hätte.

„War das dieses Graf-Arpad-Ding?“ fragte von Waydt vorsichtig.

„Nein.“ Der Meister schüttelte den Kopf. „Wenn er über eine solche Macht verfügen würde, hätten Sie ihn niemals gefangen. Vielmehr wären Sie jetzt alle tot. Doch ich muß mich zurückziehen. Ich brauche meine Kraft und meine Konzentration. Wir werden uns wieder sprechen, wenn ich meine Position gesichert habe. Ich teile Ihnen dann mit, wie wir weiter vorgehen.“

Mit diesen autoritären Worten ließ er sie alle in der Haupthöhle stehen und ging.

Langsam ließ sich Asko von Orven wieder auf seinen Sitz sinken und versenkte das Gesicht in den Händen. Fey-Energie einer Größenordung, die selbst einem Mann der Bruderschaft neu war. Vermutlich war sie sogar größer als die, die er selbst erst vor einem halben Jahr erlebt hatte, als Delacroix, McMullen, Leutnant von Görenczy und er fast gestorben waren, wie Mäuse, die gegen Drachen kämpften. Er war wieder eine Maus.

Vielleicht waren die unnatürlichen Kreaturen dieser Gegend der Männer und ihrer Ziele überdrüssig geworden. Niemand im Team hatte auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, daß die Sí koordiniert intervenieren könnten. Sie hatten alle fest daran geglaubt, daß diese Kreaturen gemeinsam zu gezielter strategischer Planung nicht fähig waren.

Möglicherweise hatten sie sich geirrt.