Kapitel 1

Professor Hardenburg war sich der moralischen Implikationen bewußt. Doch es war nicht seine Entscheidung, und so konnte er sie ignorieren. Er hatte sie delegiert. Eine Idee hatte er gehabt, mehr nicht. Sie Wirklichkeit werden zu lassen, hatten andere entschieden.

Die Maschine war fast fertig. Eine Vision aus Stahl, Messing und Glas. Eine kleine Lokomotive mit zwei Parabolschirmen.

Als ihm die Idee dazu gekommen war, hatte er nicht geglaubt, daß der Apparat sich tatsächlich bauen ließe. Er war eine Theorie, eine plötzliche, wunderbar zerstörerische Idee.

Doch wer sagte, daß diese Maschine die Menschheit nicht voranbringen würde? Hardenburg baute sie für sein Land, finanzierte sie aus geheimen Geldquellen, die ein hoher Beamter des Kriegsministeriums aus dem Waffenbudget abgezweigt hatte. Diese Quellen waren so geheim, daß nicht einmal Seine Majestät Kaiser Franz Joseph davon wußte, so wie er auch von diesem Projekt nichts ahnte. Die österreichischen Truppen schossen noch immer mit Musketen. Armeereformen waren aufgeschoben. Doch Hardenburg hatte das Geld, an einer Entwicklung zu arbeiten, die konventionelle Truppen obsolet machen würde.

Seine Heimat würde in Zukunft jeden Krieg gewinnen. Rebellierende Italiener, streitsüchtige Ungarn und freiheitsfaselnde Böhmen würde man schlichtweg ignorieren. Ebenso die Preußen, diese arroganten Militaristen mit ihrem überschlauen Minister Otto von Bismarck.

Die Maschine mußte nur fertig werden, und Hardenburg würde Streitigkeiten in Zukunft im Alleingang lösen. Hardenburg-Kanone hatte er sie getauft. Wie auch sonst?

Einige Probleme waren noch nicht gelöst. Die Maschine war groß. Um sie entwickeln und testen zu können, ohne irgendwelche unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, hatten sie sich ins Tunnelsystem der Berge zurückziehen müssen. Im Salzkammergut gab es verlassene alte Salzstollen, die niemanden mehr interessierten. Unerforschte, salzglitzernde Kalkhöhlen durchzogen das gesamte Karstgebirge. In dieser gebirgigen Einöde hatten sie ihr Projekt verwirklicht und der Vollendung entgegengeführt.

Freilich wußte er, daß ein Großteil des Erfolges von ihrem neuen Meister des Arkanen abhing. Ohne die Einbindung magischer Künste hätte die Idee nie Gestalt annehmen können. Es war kühn, moderne Dampfkraft mit Magie zu verknüpfen. Er selbst war kein Magier, doch er hatte gewußt, daß sie einen brauchen würden.

Zunächst hatte Hardenburg Zweifel gehabt, daß der neue Magier, den man ihm gesandt hatte, der richtige war. Der Mann war blind, seltsam und oft völlig unzugänglich. Seine Haut war gezeichnet von grauenhaften Brandnarben, die ihn so entstellten, daß es schwierig war, ihm überhaupt ins Gesicht zu sehen. Doch man mußte ihm nicht in die Augen blicken, wenn man mit ihm sprach. Er hatte keine.

Seine Macht war außergewöhnlich. Nach seinem Namen gefragt, hatte er sie angewiesen, ihn Meister Marhanor zu nennen.

Meister Marhanor war erst im Mai zum Projekt gestoßen, just zu einem Zeitpunkt, als Hardenburg ernste Zweifel kamen, ob seine Theorie sich jemals beweisen ließe, und die Aussicht, in der Vergessenheit zu versinken, hatte ihm beinahe ebensoviel Unbehagen bereitet wie die, den Zorn eines bestimmten Herrn im Kriegsministerium auf sich zu ziehen.

Dabei war es die Schuld der ministerialen Verschwörer, daß sie anfangs kaum Fortschritte gemacht hatten. Er hatte ihnen von Anfang an gesagt, sie bräuchten einen erstklassigen Meister der arkanen Künste. Der Salonzauberer, den sie ihm zunächst zur Unterstützung gesandt hatten, war mit seinen Mesmerismus-Instrumenten, seinem Pendel und seinem nervösen Gekicher gewiß nicht die richtige Wahl für ein so ehrfurchtgebietendes Projekt gewesen.

Der Mann war während des ersten Testlaufes ausgebrannt. Nicht mit tatsächlichen Flammen, aber doch so gut wie. Er lebte noch, als man ihn aus dem Kontrollsitz hob, war so lebendig wie eine Runkelrübe. Nur noch die Hülle menschlichen Daseins war übrig. Seine innere Essenz, seine Seele war in Flammen aufgegangen.

Letztlich war es das, was die Maschine tat. Sie transmutierte arkane Energie in physische Zerstörungskraft.

Magische Energie war in vielen Dingen der Natur vorhanden. Hardenburg war kein Magier, doch er wußte das. Arkane Energie hatte die Fähigkeit, die Naturgesetze zu brechen. Er hatte das sehr klar gesehen, als er einige Jahre zuvor einem einflußreichen Freund geholfen hatte, eine Dryade zu vernichten, die dessen Tochter an sich gebunden hatte. Die Kreatur war schwierig zu töten gewesen. Die Energie, die sich entlud, während die Dryade starb, war wie ein Feuersturm gen Himmel explodiert, ein glänzender, vollständig lotrechter Regenbogen, der die Wolken durchschnitt, ehe er mit einem Blitz zurück in den Boden fuhr.

Ursprünglich hatten sie die Kreatur für die Forschung fangen wollen, hatten gar einen besonderen Käfig dafür bauen lassen, dessen Außenseite mit Kalteisen verstärkt war, jener seltenen metallischen Substanz, die angeblich die Fähigkeit hatte, das Leben eines Feyons zu beenden. Doch die Macht der Kreatur war viel größer gewesen, als sie angenommen hatten, und so waren sie schließlich froh gewesen, sie nicht gefangen, sondern gleich getötet zu haben.

Immerhin hatte das Spektakel Hardenburg zu einer Idee inspiriert. So viel Energie mußte nutzbar sein. Arkane Kraft als physikalische statt als metaphysische Energiequelle anzuzapfen – das wurde sein Plan.

Wissenschaftler beschäftigten sich nicht mit Metaphysik. Sie ignorierten Magie oder leugneten deren Existenz. Ein Universum mit berechenbaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten war einem des irrationalen Hokuspokus allemal vorzuziehen. Keiner von Hardenburgs Kollegen glaubte an Magie oder Fabelwesen. Was nicht zu beweisen war, gehörte in den Bereich der Märchen und Sagen, bestenfalls noch in den des Glaubens, und war somit nicht verwendbar zu Forschungszwecken.

Zauberei war nicht in physikalischen Einheiten meßbar. Das machte sie für die Physik unbrauchbar, und da die Wissenschaft gar nicht erst an ihre Existenz glaubte, hatte sie auch keine Vorstellung bezüglich ihrer Möglichkeiten. Weltweit gab es nur wenige Magierlogen, die Meister des Arkanen heranbildeten. Der Einfluß und die Fähigkeiten dieser Logen lagen genauso im Dunkeln wie ihre Ziele.

Hardenburg sah sich als Pionier einer neuen Ära. Er mußte arkane Energie nicht messen. Er brauchte nur einen guten Meister mit der Fähigkeit, sie zu kanalisieren und zu fokussieren sowie ein magisches Mittel, einen Treibstoff sozusagen, der der Waffe als Munition diente.

Wenn seine Berechnungen stimmten, würde die Hardenburg-Kanone ein Zielgebiet vollständig zerstören und dabei jedes Leben in wenigen Minuten auslöschen können. Die Maschine würde einen zielgerichteten Kugelblitz von mehreren Kilometern Durchmesser generieren. Taktisch gesehen würde das eine feindliche Armee zwingen, ihre Truppen in kleine, weitverstreute Verbände aufzuteilen, um einer Zerstörung auf einen Schlag zu entgehen. Das Land, das diese Waffe besaß, wurde faktisch unangreifbar.

So war es nicht weiter verwunderlich, daß Hardenburg im Kriegsministerium wohlgesonnene Zuhörer gewonnen hatte. Wer wollte nicht eine solche Waffe sein eigen nennen? Die österreichische Armee war nicht so modern, wie sie sein sollte. Die Artillerie war archaisch, man schoß immer noch mit einschüssigen Vorderladern statt mit mehrschüssigen Zündnadelgewehren. Nach Hardenburgs Eindruck sonnte sich die Armee seines Landes in den Erinnerungen längst vergangenen Ruhmes, war gerade noch stark genug, die Rebellionen in den unruhigen Provinzen Groß-Österreichs niederzuhalten, nicht aber, einen ernsthaften Krieg auf europäischer Ebene zu gewinnen.

Das würde er ändern. Darauf war er stolz. Er hatte gute Aussichten auf Erfolg mit seinen Technikern, seinem Meister des Arkanen und der patriotischen Jägereinheit, die ihm lebende Munition finden und fangen sollte.

Er sah verträumt auf den Prototypen. Das Gerät stand auf Stahlrädern und würde wie eine Lokomotive auf Schienen fortbewegt. Ein eigener Dampfantrieb war deshalb Teil der Waffe, dessen polierte Messingteile stolz im Licht der neuen Göbel-Glühlampen glänzten, mit denen die Höhle beleuchtet war.

Die Zentraleinheit der Hardenburg-Kanone war ein kalteisenverstärkter Käfig, der die eigentliche Munition beinhalten würde – eine lebende und gefährliche Munition. Ein Parabolrezeptor war auf das Innere des Käfigs gerichtet, um von dort die Energie abzuzapfen. Durch das Können eines starken Magiers, der sich gegenüber im Kontrollsitz befand, würde diese Energie gesammelt, transformiert und schließlich in einen zweiten Parabolschirm geleitet. Von dort konnte die so gewonnene Energie als konzentrierter Blitzstrahl auf das Ziel gelenkt werden.

Von zentraler Bedeutung war das Können des Meisters. Hardenburg hatte gesehen, was geschah, wenn dessen Macht nicht stark oder konzentriert genug war: Die arkane Energie schlug zurück und leerte den Meister anstelle der Munition. Allerdings war die Munition auch nicht gut dabei gefahren. Der kleine, blasse, mißgebildete Feyon, den die Jäger gefunden hatten, hatte fast menschlich ausgesehen, als sie ihn nach dem Experiment wieder aus ihrem Kalteisen-Käfig befreit hatten. Viel Leben war nicht mehr in ihm gewesen, und so hatten sie ihn einfach eingesperrt. Nach einiger Zeit war er dann plötzlich verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Hardenburg schmunzelte. Er hatte Glück gehabt. In den vergangenen fünf Monaten hatte er nicht nur einen exzellenten Meister für die magische Komponente der Waffenentwicklung gefunden, sondern endlich auch einen guten Mechaniker und Ingenieur. Zuvor war der Mann Offizier in der Bayerischen Armee gewesen, und somit brachte er neben Erfindergeist auch noch die strategischen Kenntnisse militärischer Planung mit. Das machte ihn zu einer nützlichen Kraft bei diesem Projekt.

Natürlich hätte Hardenburg lieber mit einem Österreicher zusammengearbeitet. Jedoch war Bayern eng verbunden mit dem Österreichischen Kaiserreich. Kaiserin Elisabeth war eine bayerische Prinzessin. So hatte er sich entschlossen, dem Bayern zu trauen. Zurück konnte der Mann ohnehin nicht mehr. Seine unehrenhafte Entlassung aus der Bayerischen Armee hatte ihm jede Möglichkeit, in seinem Heimatland noch Karriere zu machen, verbaut.

Hardenburg hatte die Geschichte durch seine Kontakte beim Kriegsministerium überprüfen lassen, und sie war wahr. Zwar hatte der Mann nach seinem Versagen seinen Namen geändert, doch hatte er Hardenburg seine wirkliche Identität anvertraut.

Eines Tages, dachte Hardenburg, würde er gerne wissen, welchen Vergehens sich der junge Ex-Offizier, der sich jetzt Meyer nannte, schuldig gemacht hatte, um unter solch skandalösen Umständen entlassen zu werden. Der Mann sah zu geradlinig und ehrlich aus, als daß man ihm etwas Böses zutraute. Wahrscheinlich war eine Frau im Spiel, dachte Hardenburg. Der Mann war jung, und in seinen hellblauen Augen lag eine so zynische Distanz, daß man seine Bitterkeit förmlich spüren konnte.

Nur Frauen konnten einen Mann so verletzen, ihn seine Prinzipien vergessen lassen, bis er sich plötzlich mit zerstörter Zukunft und gebrochenem Herzen außerhalb der Gesellschaft wiederfand. Doch er war talentiert, und so war Hardenburg dankbar, daß ihm das Schicksal den Mann geschickt hatte, der einmal Asko von Orven gewesen war.