Kapitel 19

Sowohl er als auch Arpad hielten das Mädchen fest. Asko, derzeit unter dem Namen Meyer bekannt, hatte sie aufgefangen, ehe sie sich beim Aufschlag verletzen konnte.

„Gott im Himmel! Nicht jetzt! Wir brauchen sie wach“, grummelte er ungeduldig.

Zusammen legten sie sie vorsichtig auf den Boden. Asko musterte sie. Ihr blaues Auge und ihre geschwollene Wange gaben einen scharfen Farbkontrast zu ihrer extremen Blässe ab. Tiefe Schatten verunzierten die weiße Haut um ihre Augen. So blaß war sie noch nicht gewesen, als sie sich ihren Weg ins Speisezimmer gebahnt und von Waydt Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte. Es mußte eine Frau sehr mitnehmen, fast vergewaltigt zu werden. Das hätte nie geschehen dürfen.

„Ich werde sie wecken“, sagte der dunkle Mann, den sie beinahe umgebracht hatten. Seine schmalen Hände legten sich auf ihre Schläfen, und sie stöhnte.

„Was zum Teufel tun Sie da?“ fragte Asko ärgerlich, bemüht, seine Stimme gedämpft zu halten.

„Ich gehe in ihr Bewußtsein und zwinge sie, es wiederzufinden. Ich werde sie mitnehmen. Dazu muß sie laufen können. Sie und Ihr Haufen von Mördern haben viel zu verantworten.“

Asko konnte es ihm nicht verständlich machen, und es war gewiß sicherer, wenn er es nicht wußte. Doch der Angriff auf seine Ehre kratzte an seiner aufrechten Gemütsart. Er hätte diesen Auftrag nie übernehmen sollen. Es war falsch gewesen. Doch nun war es zu spät, etwas zu ändern.

„Ich muß wieder nach draußen“, sagte er steif und ließ die unnatürliche Kreatur bewußt ohne jede Erklärung. „Die denken, ich überprüfe die Stallungen. Laufen Sie ihnen nicht in die Arme. Sie würden nicht mögen, was man mit Ihnen vorhat.“

Er wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment öffnete Charlotte ihre Augen, sah, daß zwei Männer sie festhielten, während sie am Boden lag, und begann zu schreien. Ihre großen, braunen Augen waren weit vor Panik. Sie hatte vor ihm genauso viel Angst wie vor Arpad. Vielleicht wußte sie ja nicht, was geschehen war.

Sie wußte es sehr wohl. Es machte nur keinen Unterschied, daß sie beide eingeschritten waren und das, was man ihr antun wollte, verhindert hatten. Sie waren zwei Fremde in ihrem Schlafzimmer, in dem Zimmer, in dem ein Mann ihr hatte Gewalt antun wollen – was ihm fast gelungen war.

„Fräulein von Sandling!“ zischte er ungeduldig. Für so was war jetzt keine Zeit. „Die Zeit läuft uns davon. Sie müssen sich zusammennehmen! Ich tue Ihnen nichts, und Graf Arpad ...“ Er wußte nicht, ob er das gleiche von dem Feyon behaupten konnte. Er hatte noch keinem Angehörigen der Fey getraut, nicht einem, und zu versichern „und Graf Arpad tut Ihnen auch nichts“ ging ihm nicht über die Lippen. Was er nicht glaubte, konnte er nicht beteuern. Dennoch würde er sie mit dem Mann fortschicken. Sie war bei einem gottverdammten Feyon besser aufgehoben als bei seiner eigenen Gruppe pflichtbewußter Herren. Die Schande machte ihn wütend.

„Fräulein von Sandling!“ versuchte der Sí sein Glück. „Wir müssen los, solange wir noch eine Chance haben, hier herauszukommen. Ich werde Ihnen auf die Füße helfen.“

Der dunkle Mann zog sie hoch, und sie wehrte sich heftig. Einen Moment lang dachte Asko, er täte ihr weh, und schritt ein. Doch im nächsten Augenblick bekämpfte sie ihn mit der gleichen Intensität, verzweifelt und doch zu schwach, um etwas auszurichten. Ihm wurde klar, daß sie vor Angst fast verrückt wurde, weil sie sie anfaßten.

Er verstand das, doch für Hysterie blieb keine Zeit. Beide hielten sie nun zwischen sich fest, so daß sie sich nicht mehr rühren konnte. Asko spürte, wie sie in seinen Händen bebte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Er schämte sich dafür, ein Mann zu sein. Der Sí drehte sie zu sich und blickte ihr in die Augen.

„Charlotte, ich weiß, Sie haben Angst. Aber Sie sind eine tapfere Frau. Reißen Sie sich zusammen. Ich schwöre, ich will Ihnen nichts Böses. Wir müssen los. Jeder Augenblick zählt. Wir werden Sie jetzt loslassen, und Sie werden Ihre Schuhe und Ihren Mantel anziehen, und dann steigen wir aus dem Fenster. Ich werde Ihnen helfen. Doch dafür muß ich Sie anfassen, und Sie müssen das still und ohne einen Laut ertragen. Haben Sie das verstanden?“

Die Stimme des Feyon klang sanft und hatte doch Autorität. Es war, als spräche er zu einem verängstigten Kind. Seine dunklen Augen strahlten eine beklemmende Intensität aus, die Asko nicht im Mindesten gefiel. Doch er erreichte sie. Sie hörte auf, sich zu wehren, stand nur da, zitterte, weinte still.

Trotz seiner Sorge und Ungeduld tat sie Asko unendlich leid. Er fühlte sich schuldig. Keine Frau sollte je in eine solche Situation kommen, und kein Mann sollte sie je so sehen, wie sie jetzt war. Ihre Tränen ließen ihr Gesicht weiter aufschwellen. Ihre sanften, weichen Lippen, die ihn über den Eßtisch hinweg angelächelt hatten, zitterten. Ihr Haar hing in krausen Strähnen vom Kopf. Er hatte sie nicht für besonders schön oder anmutig gehalten, doch sie hatte einen schlagfertigen, intelligenten Charme. Ihr Lächeln war voller Wärme und Verbindlichkeit gewesen, ihre nußbraunen Augen hatten schelmisch geblitzt. Sie war anziehend, ohne es zu wissen. Sie hatte Interesse an den unterschiedlichsten Dingen gezeigt, und im Gespräch hatte sie bewiesen, daß sie einen scharfen Geist besaß. Davon schien nichts mehr übrig. Sie wirkte vernichtet.

Er half ihr in Stiefel und Mantel, knöpfte letzteren zu, denn ihre Finger zitterten zu sehr. Dann brachten der Feyon und er sie ans Fenster. Arpad glitt lautlos aus dem Zimmer und balancierte auf den Ästen. Er streckte die Arme nach ihr aus.

Asko hob sie hoch. Sie war eine große, kräftige Frau und nicht sonderlich leicht. Er spürte, wie sie sich in seinen Armen versteifte, doch sie schrie nicht mehr. Sie biß sich auf die Lippen. Sie bluteten. Er spürte ihren schaudernden Atem. Ihre Augen waren halb geschlossen. Er hatte Angst, sie würde wieder ohnmächtig werden.

Er reichte sie durchs Fenster, und Arpad nahm sie entgegen. Als sie in den Ästen balancierte, sicher gehalten von dem Sí, drehte sie sich um und sah ihn noch einmal an.

„Warum?“ fragte sie leise. Ihre Stimme bebte. „Sie sind ein Verbrecher. Warum helfen Sie mir?“

Er schluckte eine ärgerliche Antwort herunter und schloß das Fenster. Dann öffnete er es wieder. Man durfte es nicht geschlossen finden. Das würde Hilfe von innen bedeuten.

Er mußte sich beeilen. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Herren zu überzeugen, den Sí in der falschen Richtung zu suchen. Ein Verbrecher war er also für sie. Er hatte ein großes Risiko auf sich genommen, um sie zu retten, und sie hielt ihn für einen Mörder.

Doch was sonst sollte sie von ihm halten? Höchstwahrscheinlich hatte sie gesehen, wie er von hinten auf Arpad geschossen hatte. Ohne Zögern hatte er ihm eine Kugel ins Feyonherz gejagt. Das Herz war ein Muskel, und Muskeln konnten heilen. Sie wußte nicht, daß er es getan hatte, um dem Mann neben ihm zuvorzukommen, der mit Kalteisen auf ihn gefeuert hätte, als letzte Maßnahme, wenn der Sí sich als zu gefährlich erwiesen hätte. Als er am Boden lag, war das nicht mehr erforderlich.

Es war egal, was sie von ihm hielt. Bedeutungslos. Sie wußte es nicht besser. Wie sollte sie auch?

Sie war nicht seine Sache. All das hätte nicht geschehen dürfen, doch mehr konnte er ihr nicht helfen. Es gab Wichtigeres zu tun. Hier ging es um das Schicksal von weit mehr als nur einer Person. Das Schicksal ganzer Nationen stand auf dem Spiel. Er durfte sie nicht seine Pläne stören lassen.

Ihm wurde klar, daß er dachte wie seinerzeit Delacroix. Der Gedanke machte ihn ärgerlich. Wie sehr hatte er sich damals gegen diese Denkweise aufgelehnt. Doch sechs Monate waren eine lange Zeit. Zu viel war geschehen.

Während er die Geheimtreppe hinabeilte, erinnerte er sich jener Tage. Damals hatte sich auch eine junge Dame in den Verstrickungen seines Auftrags wiedergefunden. Corrisande Jarrencourt. Fairchild hieß sie jetzt. Wie war er in das zierliche, hübsche Mädchen verliebt gewesen – oder hatte es zumindest geglaubt. In Wirklichkeit hätte er eine Frau, in deren Adern auch ein Anteil Feyonblut floß, nicht lieben können. Oder gar ehelichen. Der Gedanke, Kinder mit ihr zu haben und ihnen das nicht ganz menschliche Blut weiterzugeben war ihm unerträglich.

Sie war süß gewesen, und ein wenig hatte sie seine Einstellung verändert. Sonst hätte er das Mädchen nicht Graf Arpad mitgegeben.

Er erreichte den Keller und spähte vorsichtig aus der Tür. Fünf Herren waren unterwegs, den Feyon zu suchen. Er selbst hätte bei den Stallungen sein sollen. Daß er dort nicht gewesen war, durften sie nicht entdecken. Es war schwer genug, seine Rolle in dem Geflecht von Verdacht und Mißtrauen zu spielen, das sie alle umgab.

Niemand schien im Keller zu sein. Er eilte die langen Korridore entlang, schirmte das Licht seiner Laterne ab. Von Stauffs Leichnam hatten sie in den Salon getragen. Der Sí hatte ihm wie Kraitmair das Genick gebrochen. Daß er das mit einer winzigen Bewegung seiner schmalen Finger einfach so konnte, war etwas, das Asko sich gut merken würde. Meist wirkte der dunkle Mann so harmlos und charmant.

Doch Asko wußte, daß er nicht ungefährlich war. Immerhin hatten sie Seite an Seite gekämpft, und er hatte Arpad damals so wenig gemocht wie heute.

Dennoch war es ein Schock gewesen, als er entdeckt hatte, daß der Feyon, den zu fangen sie ausgezogen waren, ein Bekannter war. Ihn zu warnen war unmöglich, ohne sich zu verraten. Also hatte er mitmachen müssen. Das Projekt konnte ohne die Fey als Energielieferanten nicht reüssieren. Hardenburg hatte sich das einfach vorgestellt. Das Gebirge war voller Sagen von Wassermännern, Faunen, Wichten, Nymphen und Dryaden, hieß es. Doch die Gruppe hatte nur eine Kreatur finden können. Also hatten sie nach Menschen gefahndet, die möglicherweise welche kannten. Von Sandling war ein Himmelsgeschenk. So hatte Hardenburg sich ausgedrückt, und Meister Marhanor hatte dieser Einschätzung lächelnd beigepflichtet. Verfluchter Bursche. Zauberer waren Asko ebenso unsympathisch wie Sí. Niemandem außer Gott stand so viel Macht über andere zu.

Vorsichtig erklomm Asko die Treppe zur Küche und lugte um die Ecke. Er hatte Glück. Der ordentliche Raum war verlassen. Ein oder zwei Bierkrüge standen noch auf dem Büfett. Seine Begleiter waren ordentliche Leute. Sie ließen kein Chaos zurück, und obgleich sie sich für völlig im Recht bei ihrer Machtübernahme im Haus fühlten, benahmen sie sich doch nicht wie Wilde. Außer gegenüber dem Mädchen.

Jetzt hörte er sie. Sie waren in der Etage über ihm und fluchten. Höchstwahrscheinlich hatten sie gerade Kraitmairs Leichnam gefunden und Charlys Verschwinden bemerkt. Es war unwahrscheinlich, daß sie sie für schuldig an seinem Tod hielten, schließlich war sie nur eine Frau. Mit bloßen Händen hätte sie einen kampferprobten Burschen wie Kraitmair nie besiegen können. Doch nun würden sie wissen, daß sie mit Arpad unterwegs war. Das machte sie zur Gejagten. Asko sah wieder ihre ängstlichen, weit aufgerissenen Augen vor sich.

Die Jagd war eröffnet. Da kamen sie auch schon die Treppe heruntergepoltert. Er sprintete zur Hintertür, öffnete sie und schaffte es, so auszusehen, als würde er eben vom Hof her eintreten, als die restlichen fünf Männer in die Küche brachen.

„Ich konnte ihn draußen nicht finden“, begann er und hielt inne, als habe er eben begriffen, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. „Was ist passiert?“ Er sah von Waydt an. Grüne Augen blitzen wütend.

„Der verfluchte Feyon hat Kraitmair umgebracht und das Mädchen entführt. Er muß noch im Zimmer gewesen sein, als ich mit ihr sprach. Ich bat Kraitmair, sie zu Einzelheiten zu befragen. Als sie schrie, hatte ich angenommen, er würde sie ein wenig einschüchtern. Doch er ist tot. Wer weiß, was der Feyon mit ihr angestellt hat. Obwohl man es sich natürlich vorstellen kann.“

Asko starrte ihn erschüttert an. Von Waydt gab seinen Leuten ein Zeichen, sich fertig zu machen. Sie überprüften ihre Gewehre.

„Sie meinen, er hat sie ...“

„Kraitmair hatte Schrammen und blaue Flecken im Gesicht. Höchstwahrscheinlich hat er versucht, Charlotte zu schützen. Wenn dieses abartige Aas allerdings denkt, sie wäre eine gute Geisel, dann irrt es. So will sie niemand mehr zurück. Der Tod wäre eine Erlösung für sie.“

Asko stellten sich die Nackenhaare auf, und er atmete behutsam ein und wieder aus, um seine Reaktion zu dem Gesagten nicht zu zeigen. „Wie schrecklich“, kommentierte er nur. „Hatten Sie nicht erwähnt, Sie wären mit ihr verlobt?“

„Nein. Unsere Eltern hätten die Verbindung gerne gesehen. Ich wollte sie nie. Wer würde schon ein Mädchen heiraten wollen, das im zarten Alter von fünfzehn bereits eine Affäre mit einem Feyon hatte? Keine Protektion und kein Einfluß ihrer Eltern wären das wert. Zudem sind sie inzwischen gestorben.“

Von Waydt eilte zur Hintertür. Asko trat beiseite.

„Was machen wir ...“ begann er.

„Wir jagen sie, bis wir sie kriegen.“ Von Waydt hastete in den Hof, die Männer folgten ihm.

„Auf die Pferde!“ befahl er. „Laßt die Hunde los. Wir werden dieses Ding fangen und in der Maschine verheizen, und der guten Charlotte werde ich persönlich den Fangschuß setzen.“