Kapitel 49
„Du lieber Himmel!“
Sophie sah zwei dunkle Gestalten aus dem See kriechen und zusammenbrechen. Beide lagen sie reglos da, Schatten in der Nacht.
Nach dem Streit mit den Männern, die Marie-Jeannette im Nachthemd aus ihrem Bett gezerrt hatten, waren Frau Treynstern und Cérise hierher zurückgekommen. Die Männer waren schließlich verschwunden, als sie keinen Feyon zu finden vermochten – und nachdem die Wirtin ihnen mit der Gendarmerie und der Wirt mit einer Mistgabel gedroht hatte.
Als sie und die Sängerin beim Gasthaus angekommen waren, um Marie-Jeannette beizustehen, hatte Frau Treynstern befürchtet, die rohen Gesellen würden ihnen etwas tun. Doch sie waren nicht an ihnen interessiert. Einer von ihnen hielt ein kompaßähnliches Messinggerät in den Händen. Was immer es auch sein mochte, es schien sie zu überzeugen, daß sie nicht gefunden hatten, was sie suchten.
Die Wirtin versicherte den Männern, daß die drei Damen – sie zeigte auf Frau Treynstern, die Sängerin und die Zofe – ihre einzigen Gäste waren, wenn man von einem reisenden Händler absah, der am Abend abgereist war. Wo er denn hingereist sei, fragten die Männer, und die Wirtin versicherte ihnen, daß er nach Aussee aufgebrochen war. Wohin sonst? Die einzige Straße von Grundlsee führte dorthin, und, fügte sie an, was ginge sie das überhaupt an? Sie waren nicht der Viertelmann oder die Polizei. Sie gehörten nicht zur Salzbehörde im Kammerhof, die die Gegend für den Kaiser verwaltete, und Gäste waren sie hier auch nicht. Also sollten sie gehen – und nicht zurückkommen.
Die Frau war nicht zurückhaltend in ihrer Ausdrucksweise. Ihre wortreiche Entrüstung und entschlossene Art siegten über die Arroganz und Herablassung der Bewaffneten.
Sophie konnte sich an keinen Handlungsreisenden im Gasthaus erinnern und schloß daraus, daß die Wirtin ihn erfunden hatte. Doch sie hatte nicht die Muße, darüber nachzugrübeln, bis die Kerle wieder ihr Ruderboot bestiegen hatten und über den See verschwanden.
Der Gastwirt ließ seine Forke sinken und starrte ärgerlich in die Dunkelheit. Die Wirtin hatte ihre Hände immer noch in die Hüften gestemmt und brummte den Männern, die so rücksichtslos den Frieden des Hauses gebrochen hatten, Beleidigungen hinterher. Marie-Jeannette fand mit erstaunlicher Schnelligkeit ihre Fassung wieder, was nahelegte, daß ihre Panik und ihre herzzerreißenden Schreie zum Teil gespielt gewesen waren und dazu gedient hatten, die Damen zu warnen.
„Wo ist Mrs. Fairchild?“ fragte sie sie auf Französisch.
Keine der beiden Damen antworte ihr, sie sahen sich nur etwas unsicher um. Sophie wollte Mrs. Fairchilds Geheimnis nicht preisgeben, und Cérise zog es ohnehin vor, die Zofe zu ignorieren – sofern sie nicht gerade ihre Dienste in Anspruch nahm.
„Also wirklich“, murrte Marie-Jeannette. „Glauben Sie, ich bin so dumm und weiß nicht, was sie ist? Sie hätte es mir längst sagen sollen. Aber wahrscheinlich hat sie sich nicht getraut. Manche Leute würden sie wohl weniger mögen, wenn sie‘s wüßten.“
„Wenn du es weißt, dann solltest du so klug sein, nicht darüber zu reden“, gab Cérise hochmütig zurück. „Diese Kerle haben sie gesucht. Ich weiß nicht, was sie vorhatten, aber ich glaube kaum, daß es etwas Nettes war.“
„Wo ist Ihre Freundin?“ fragte Frau Ladner, und die Unterhaltung schwenkte auf Deutsch um.
„Sie ist …“
„Wir haben …“
Sophie und Cérise sahen einander an und wußten nicht, was sie sagen sollten. Die Wirtin beobachtete sie streng.
„Die Damen sollten morgen abreisen. Sie sind nicht sicher hier. Die Burschen gehören zum Baron. Seit über einem Jahr machen sie hier die Gegend unsicher. Von denen ist noch nichts Gutes gekommen. Ich mag sie nicht. Tun wer weiß wie! Diese Gegend gehört dem Kaiser und nicht dem Baron und seinen Parteigängern, egal wie reich und mächtig er ist. Ich weiß nicht, was die hier wollen. Aber von mir bekommen sie nichts. Der Schiffer, der Sie übergesetzt hat, hat gesagt, sie hätten ein Mädchen aus dem nächsten Tal entführt. Eine ehrbare junge Dame. Aus ihrem eigenen Haus! Man hat sie schreien gehört. Jetzt wird sie vermißt. Hier verbreiten sich solche Nachrichten schnell.“
Sophie überlegte, ob auch diese junge Dame ein Fey-Erbe in sich trug, doch sie fragte nicht.
„Wenn sie Mädchen entführen, muß man der Obrigkeit Bescheid geben!“
„Der Baron hat hier viel zu sagen, auch wenn er nicht das ganze Jahr über hier ist. Alle stecken mit ihm unter einer Decke. Sie wissen doch, wie die Herrschaften so sind. Den hohen Herren glaubt man immer mehr als unsereinem. Aber jetzt, wo Fräulein von Sandling vermißt wird, wird vermutlich endlich was unternommen. Ihr Onkel ist voller Sorge.“
„Was tun diese Männer denn hier?“
„Wer weiß? Sie gehen in die Berge zum Jagen, selbst in der Schonzeit, und niemand weiß, wie viele es sind. Immer wieder neue Gesichter, und Leute verschwinden. Sie müssen abreisen. Morgen.“
Frau Treynstern lächelte ihr freundlich zu und nickte.
„Morgen reden wir noch mal darüber, und wir danken Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen und Ihren Schutz. Sie waren sehr liebenswürdig. Doch jetzt müssen wir dringend zurück …“
Sie beendete ihren Satz nicht, denn sie wußte nicht, wie sie erklären sollte, daß sie ihre Freundin aus dem Wasser ziehen und dafür sorgen mußten, daß sie wieder Luft atmen konnte. Die Wirtin nickte nur.
„Denken Sie an meine Worte!“ betonte sie unheilvoll. Dann ging sie wieder ins Gasthaus, gefolgt von ihrem Mann.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte Frau Treynstern, und die drei begannen, in die Dunkelheit zu laufen. „Marie-Jeannette, Sie bleiben hier und ziehen sich etwas Anständiges an. Es ist entschieden zu kalt, um nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Wildnis zu laufen, und von der Temperatur einmal abgesehen ist es keinesfalls die Art Kleidung, mit der ein junges Mädchen nachts durchs Gebüsch zu schleichen hat. So etwas kann ich nicht gestatten.“
„Aber ich will helfen!“
„Dann gehen Sie ins Haus und beschaffen Sie eine Wärmflasche. Mrs. Fairchild wird kalt und naß sein.“
„Aber ich …“
„Tun Sie, was ich sage!“ befahl Frau Treynstern ruhig und unnachgiebig.
Marie-Jeannette murrte.
„Immer, wenn es interessant wird, werde ich fortgeschickt, um Wärmflaschen zu holen!“
„Tja, das Leben ist unfair, n‘est-ce pas“, bemerkte Cérise Denglot süffisant und lächelte maliziös, „besonders für die untersten Schichten.“
Die Zofe drehte sich um und ging, leise etwas vor sich hinmurmelnd, das keinesfalls freundlich klang.
„Freches Ding“, kommentierte Cérise etwas zu laut und folgte Frau Treynstern zurück an die Uferböschung, zu dem Ort, an dem sie Corrisande verlassen hatten. Sie eilten so schnell es ging durch die Dunkelheit, erst auf dem Trampelpfad und danach direkt durchs Gebüsch. So fanden sie sie dort, eben den Fluten entstiegen. Doch sie war nicht allein und – was noch weitaus beunruhigender war – sie war vollständig entkleidet.
Beide Damen zögerten einen Augenblick und eilten dann zur der nackten jungen Frau. Sie lag auf dem Bauch, ihre Füße hingen im Wasser. Ein japsendes, kehliges Gurgeln drang von ihren Lippen.
„Sie versucht zu atmen“, sagte Frau Treynstern, kniete sich neben sie und gab ihr zarte Klapse auf den entblößten Rücken. Der Mann stöhnte und drehte sich langsam um, während Frau Treynstern noch neben der jungen Frau kniete und versuchte, ihre Schultern anzuheben.
„Beim Jupiter!“ murmelte der Mann und blinzelte ins Licht der Laterne, die die Sängerin ihm ins Gesicht leuchtete. „Gerettet von einer verdammten Wassernymphe!“
„Görenczy, Sie Scheusal“, erklang Cérises Stimme ärgerlich und barsch. „Was zum Teufel tun Sie hier und was haben Sie ihr angetan?“
Der Mann setzte sich langsam auf, versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Licht der Laterne beleuchtete das nackte Mädchen neben ihm, deren zarter, weißer Rücken ihm zugewandt war. Er blickte sich desorientiert um, konnte offenbar nicht recht verstehen, was vor sich ging.
„Was?“ fragte er überrascht, während seine Augen sich an dem nackten Frauenkörper neben ihm förmlich festsogen. „Was passiert ist? Das fragen Sie mich? Zum Teufel – die Stimme kenne ich. Cérise Denglot? Was tun Sie denn hier? Als wären die Dinge nicht ohne Sie schon schlimm genug!“
„Leutnant von Görenczy“, gab die Sängerin steif und giftig zurück, „was ich hier tue, ist nebensächlich. Aber was Sie mit Corrisande gemacht haben – dafür wird Delacroix Sie in Stücke reißen.“
„Corrisande? Haben sie sie erwischt?“
„Hat wer wen erwischt?“
„Die Männer!“
„Seien Sie kein Idiot! Sie liegen neben ihr, und wenn Sie ihr auch nur ein Haar …“
„Meine lieben Freunde“, unterbrach Frau Treynstern, die ihren Mantel über Corrisande gebreitet hatte und immer noch mit der flachen Hand auf deren Rücken klopfte, „Sie müssen Ihren Streit vertagen. Ich kann sie nicht dazu bringen zu atmen.“
„Das ist Corrisande?“ Von Görenczy hatte sich ganz aufgesetzt und musterte die kleine Gestalt neben ihm, die Wassernymphe, die sein Leben gerettet hatte. „Was um Himmels Willen tut sie zu dieser Jahreszeit im See, und auch noch vollständig na…“
Frau Treynstern unterbrach ihn.
„Sie hatte gesagt, daß sie vielleicht Probleme haben würde, wieder Luft zu atmen, und sie sagte, daß ihr Gatte ihr in einer ähnlichen Situation auf den Rücken geschlagen hätte, um ihr zu helfen. Doch das scheint nichts zu nützen. Ich kann sie nicht wiederbeleben.“ Ein Hauch von Panik schwang in ihrer Stimme.
Von Görenczy erhob sich auf die Knie und griff nach der bewußtlosen Frau neben ihm.
„Sie kennen anscheinend Delacroix nicht, gnädige Frau, sonst wüßten Sie, daß seine Ausführung von Rückenschlägen sich von Ihrer unterscheidet.“
Er hob den feingliedrigen Körper mit einem Arm an und schlug mit voller Kraft auf den Rücken. Nach dem dritten Schlag begann die Frau zu prusten und zu spucken. Wasser schoß ihr aus Mund und Nase.
„Du lieber Himmel!“ murmelte Cérise und wandte sich ab.
„Corrisande“, kommandierte der Leutnant schroff und ignorierte die Reaktion der Sängerin. „Versuchen Sie, regelmäßig zu atmen! Denken Sie an Ihren Ehemann! Er würde es so wollen.“
Er hielt sie hoch, stützte sie von hinten ab, und Sophie bemerkte, daß seine Hände unter dem Mantel auf ihrer Haut lagen. Doch da war nichts zu machen. Wie hatte sie es nur geschafft, ihr Schwimmkostüm zu verlieren? Weshalb nur? Wozu? Es machte die Situation entsetzlich peinlich für sie alle, ganz besonders für Corrisande selbst.
Die zierliche Frau atmete inzwischen japsend. Sie schien Schmerzen zu haben.
„Corrisande, geht es Ihnen gut?“ fragte Frau Treynstern und redete sie direkt mit ihrem Vornamen an. Im kargen Lampenlicht sah sie, daß das Mädchen am ganzen Körper heftig zitterte. Ihre Augen waren offen, sahen aber ins Leere.
„Bringen wir sie zurück zum Ladner“, schlug Cérise vor. „Es ist abscheulich kalt hier draußen. Sie werden beide für trockene Kleidung dankbar sein. Oder überhaupt Kleidung. Mon Dieu, que c’est bizarre!”
Als der junge Mann sich hochrappelte, stellte Frau Treynstern fest, daß auch er zitternd fröstelte. Er war bis auf die Knochen ausgekühlt. Sie hatte gehofft, er würde in der Lage sein, Corrisande zu tragen, doch nach einem langen Blick auf ihn verwarf sie den Gedanken.
„Mademoiselle Denglot, wenn Sie mir bitte mit Corrisande helfen möchten. Ich denke nicht, daß sie alleine gehen kann.“
Die Sängerin drehte sich zu dem Herrn um, doch auch sie nahm Abstand davon, ihn um Hilfe zu bitten, als sie seinen Zustand erkannte. Immerhin warf sie ihm einen erzürnten Blick zu. So nahm sie einen Arm der Frau ihres Exliebhabers, während die Exliebhaberin ihres Liebhabers, den anderen nahm, während ein weiterer ehemaliger Galan, den sie am liebsten weder sah noch sprach, neben ihnen ging. Es ging ihr durch den Kopf, daß ein moralischer Lebenswandel bisweilen auch seine Vorteile haben mochte.
„Was haben Sie nur im See gewollt, Görenczy?“ fragte sie abrupt, während sie Corrisandes leichten Körper zusammen mit Frau Treynstern aufrichtete.
Er gab zunächst ein Schnauben zur Antwort und begann dann, etwas unsicher loszugehen. Die drei Damen folgten ihm, nachdem Sophie den Mantel, den Sie Corrisande übergeworfen hatte, zugeknöpft hatte.
„Ich war damit beschäftigt“, sagte er schließlich, „einer Bande übler Burschen zu entkommen und Corrisande zu warnen. Sie muß nach Ischl gehen und dort bleiben. Diese Leute jagen Fey – was hat Corrisande im See gemacht?“
„Sie hat versucht, der gleichen Bande übler Burschen zu entkommen“, erläuterte Cérise. „Sie sind inzwischen übrigens weg, und offenbar hat sie nebenbei auch noch Ihr wertloses Leben gerettet.“
„Dafür bin ich ihr in der Tat ausnehmend dankbar. Nur warum mußte sie sich dafür ausziehen? Ist das nicht etwas ungewöhnlich? Nicht, daß ich sie kritisieren wollte. Ist wahrscheinlich Paradeuniform für Nymphen oder so.“
„Sie trug ein Schwimmkostüm, als sie ins Wasser ging. Was haben Sie nur mit ihr gemacht, daß sie jetzt …“
Leutnant von Görenczy hob seine Hände in einer hilflos unschuldigen Geste.
„Nichts. Ich war mit Ertrinken beschäftigt, und dann kam diese kleine Wassernixe, nahm mich in die Arme und brachte mich ans Ufer. Ich habe sie gar nicht erkannt.“
„Woher wußten Sie, daß Sie sie warnen mußten?“
„Von Orven hat sie gesehen. Die Gegend ist nicht sicher für Ihresgleichen.“
„Sie sind auf einer Mission?“
„Cérise, Sie sollten doch wirklich wissen, daß man so etwas nicht fragt. Sie müssen schnell abreisen. Ich weiß nicht, was sie hier alle tun. Delacroix war außer sich vor Sorge um seine Gemahlin.“
„Sie haben ihn getroffen? Er lebt?“
„Jedenfalls als ich ihn traf. Erfreute sich bester Gesundheit und hätte seine Frau am liebsten zum Kuckuck geschickt. Oder wenigstens nach Ischl, und da soll sie bleiben.“
„Warum ist er nicht bei Ihnen?“
„Er ist mit McMullen in den Höhlen jenseits des Kammersees eingeschlossen. Man hat uns gefangengenommen, aber wir konnten fliehen. Nur kann er nicht aus dem Berg.“
„Ach, aber Sie schon?“
„Ich bin schlanker als die beiden. Ich paßte durch den einzigen unbewachten Ausgang. Ich bin gottverflucht müde. Seien Sie so gut und hören Sie auf, mich zu piesacken.“
„Seien Sie nicht albern. Wir müssen das wissen. Wir sind allein deswegen gekommen. Was geschieht hier?“
„Ich habe Ihnen doch gesagt, was geschehen ist. Außerdem muß ich weiter nach … einerlei. Muß Bericht erstatten, und Sie reisen am besten nach Ischl. Übrigens“, er drehte sich etwas um und wandte sich Frau Treynstern zu, „ich entschuldige mich dafür, daß ich mich nicht ordentlich vorgestellt haben, gnädige Frau, ich bin …“
„Sie sind von Görenczy, der Maler.“
„Im Moment bin ich Herr Grossauer, der Maler. Wenn Sie sich das bitte merken wollen. Kein Leutnant von Görenczy. Bitte halten Sie mich nicht für unhöflich, gnädige Frau, aber ich wüßte doch zu gern …“
„Sophie Treynstern, Herr Grossauer. Ich bin eine Freundin, und ich habe auch eine Frage. Haben Sie auf Ihren letzten Abenteuern Graf Arpad getroffen?“
Ein kaum vernehmbares Fauchen kam von Cérise, und Frau Treynstern wurde gewahr, daß sie eben auf deren Gebiet gewildert hatte. Doch Fragen danach, wer das größere Recht hatte, Erkundigungen über den geliebten Mann einzuholen, waren ihr im Augenblick nicht wichtig.
„Nein, Gnädigste. Er ist anscheinend in der gleichen Bergkette gefangen. Diese Männer versuchen, ihn zu fangen.“
„Lieber Gott!“ rief Sophie. „Warum denn das?“
„Frau Treynstern, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber sollten sie ihn tatsächlich fangen, wird er das nicht überleben. Ich schätze aber, daß es nicht leicht ist, seiner habhaft zu werden. Sofern ihn das Mädchen nicht behindert.“
Sie hatten den Gasthof erreicht.
„Welches Mädchen?“ fragte Cérise scharf.
„Cérise“, erwiderte Udolf maliziös. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mir erst einmal trockene Sachen anziehen, dann beantworte ich gerne weitere Fragen. Mir ist nämlich verflucht kalt, und ich denke, Corrisande ist auch am Erfrieren. Sie sollten sie zu Bett bringen. Diese Herumnympherei scheint ihr nicht besonders gutzutun.“
Cérise stellte sich ihm in den Weg, ihre Augen blitzten. Sie hatte Corrisande losgelassen, und da Frau Treynstern nicht stark genug war, um die junge Frau alleine zu tragen, sanken beide in die Knie.
„Beantworten Sie meine Frage, oder ich kratze Ihnen die Augen aus!“
„Eins nach dem anderen. Helfen Sie erst einmal Ihrer Freundin. Ihr Liebhaber lebt.“ Er wandte sich Sophie zu, half ihr auf und nahm Corrisandes anderen Arm.
Sie traten ins Wirtshaus, und Cérise Denglot spuckte fast vor Wut.
„Sie gefühlloser Sohn einer Cocotte …“
„Kinder! Bitte!“ unterbrach Sophie. „Wir wollen doch nicht die Hausbewohner aufwecken …“
„Sie sind einfach nur eifersüchtig!“ zeterte Cérise ohne Unterbrechung weiter.
„Eifersüchtig? Seien Sie nicht geschmacklos. Wenn ich eifersüchtig auf jeden Liebhaber wäre, den Sie hatten, seit Sie mich in die Wüste geschickt haben, müßte ich mir zweimal die Woche die Kugel geben! Mindestens.“
Frau Treynstern begriff allmählich die Umstände dieser Beziehung. Das half nicht weiter.
„Meine lieben, jungen Freunde …“ begann sie wieder, doch sie wurde abermals von der Sängerin unterbrochen.
„Genau diese Art von Denken war und ist es, die ich an Ihnen …“
Marie-Jeannette trat nun zu ihnen und schenkte dem Offizier ein entzückendes Lächeln.
„Oh, der Leutn…“
„Grossauer“, kam es ihr im Chor entgegen. „Das ist Herr Grossauer.“
„Hallo Süße“, grüßte Grossauer und grinste charmant. „Was haben Sie denn da? Eine Wärmflasche? Genau das, was ich brauche, liebes Mädchen.“
„Sie ist für Mrs. Fairchild. Ich kann Ihnen aber gern eine machen. Ich bringe sie dann in Ihr Zimmer.“
„Das ist eine wunderbare Idee,“ lobte er und zwinkerte ihr auf eine Art und Weise zu, die Sophie bei einem Mann, der gerade eben noch zu erschöpft gewesen war, eine ohnmächtige Dame zu tragen, für ziemlich unpassend hielt.
Sie stiegen die enge Treppe nach oben, und Corrisande hatte immerhin so viel von ihrem Bewußtsein wiedererlangt, daß sie mit entsprechender Hilfe Frau Treynsterns die Stufen selbst bewältigen konnte. Von Görenczy durchsuchte seine durchweichte Kleidung.
„Erstaunlich“, brummte er, „da war ich tagelang in einem Loch, wurde gerettet, wieder gefangen, in einen Berg gesperrt, habe mich durch ein Nadelöhr in die Freiheit gequetscht, bin durch einen Wasserfall getaucht, man hat auf mich geschossen, und ich bin beinahe ertrunken – in drei verschiedenen Seen – aber! Er ist noch da!“
„Wer?“ fragte Marie-Jeannette.
„Der Zimmerschlüssel.“
Marie-Jeannette lachte, öffnete dann die Tür zum Zimmer der Damen und half Corrisande und Frau Treynstern hinein. Nachdem sie ihre Arbeitgeberin sicher auf dem Bett abgesetzt hatte, schlüpfte sie wieder aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter, vermutlich um den Leutnant mit einer Wärmflasche erfreuen zu können. Nur Cérise stand noch in der offenen Tür.
„Was für ein Mädchen, Grossauer?“ fragte sie bohrend. Frau Treynstern spitzte im Hintergrund ebenfalls die Ohren.
„Die Männer haben Graf Arpad gefangen, indem sie ihm ein paar Kugeln verpaßten, damit er kurzzeitig kampfunfähig war. Asko meinte, man habe ihm ins Herz geschossen. Er hat überlebt, und eine junge Frau hat ihn gerettet. Asko hat einen Namen erwähnt, Charlotte von Sandling. Auf ihrer Flucht sind sie im Berg eingeschlossen worden. Jetzt können sie nicht mehr heraus. Es liegt ein magischer Bann drauf.“
„Großer Gott!“ rief Cérise schmerzhaft aus. Sophie trat zu ihr.
„Herr Grossauer“, sagte sie. „Hat er viel Blut verloren?“
„Ich war nicht dabei. Könnte mir schon vorstellen, daß ein Blattschuß viel Blut kostet. Aber er lebt. Das Mädchen hat ihm geholfen. Wenigstens ist sie nicht allein im Dunkeln. Er wird ihr doch helfen, oder?“
Schweigen legte sich über den Raum.
„Ja,“ beteuerte Cérise schließlich mit eingeübtem Lächeln. „Natürlich.“ Dann schloß sie die Tür und lehnte sich müde dagegen.
„Sie haben ihn niedergeschossen“, fauchte sie, und eine Zornesträne lief ihr über die Wange. „Diese salauds haben ihn einfach abgeknallt!“
Sophie nahm ihre Hände und drückte sie.
„Er hat es überlebt, Mademoiselle Denglot. Er ist gut darin zu überleben. Er hat viele Jahrhunderte überlebt. Er heilt schnell. Es wird ihm inzwischen nicht einmal mehr wehtun.“
„Ja, aber …“
„Er wird allerdings sehr bedrückt sein wegen des Mädchens, besonders wenn sie ihn gerettet hat. Das wird er nicht gerne tun“, fügte Sophie besorgt hinzu.
„Sie meinen, er …“
Sophie nickte.
„Was für eine Wahl hat er denn? Er ist Überlebenskünstler. Selbstopferung und Zurückhaltung sind nicht seine starken Seiten. Wie schrecklich.“ Es war nicht ganz klar, ob ihr Graf Arpad oder Charlotte mehr leid tat.
Ihre Unterhaltung wurde durch lautes Schluchzen unterbrochen. Corrisande weinte hysterisch.
„Was ist jetzt schon wieder los?“ fragte Cérise Denglot ein wenig enerviert.