Kapitel 10

Der Mond war noch nicht voll, und obwohl nur wenige Wolken das Sternenlicht verdeckten, war es doch bemerkenswert dunkel. Philip Fairchild, dessen Nachtsicht aus Gründen, über die er lieber nicht nachdachte, ungewöhnlich gut war, konnte noch die dunklen Bäume und die helleren Kalksteinfelsen ausmachen. Das winzige Gewässer hieß Kammersee und war der dritte See, den sie in ebenso vielen Tagen untersuchten. Das Wasser spiegelte den Nachthimmel wie eine blanke Silberplatte. Nur wo ein Wasserfall aus dem Fels brach und in den See stürzte, war die schimmernde Oberfläche bewegt.

Es war erst Ende September, doch die Nacht war kalt. Er dachte sehnsüchtig an sein warmes Bett, an irgendein warmes Bett, das seine Frau zum Inhalt hätte, sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen, ihren weichen, zarten Körper an seinem zu spüren. Er vermißte sie.

Die dunkle Gestalt seines Freundes war gleich neben ihm, wie er verborgen im Unterholz hinter den hellgrauen Felsen. Sie warteten seit Sonnenuntergang, wohlversteckt zwar, aber vielleicht doch nicht zu übersehen. Sich hinter Büschen zu verstecken mochte sinnlos sein in einem Tal, das nur mit Booten zu erreichen war. Um hierher zu gelangen, hatten sie von den ansässigen Fischern Boote mieten müssen. Auf einem See konnte man ein Boot nicht verstecken.

Es hatte keinen ganzen Tag erfordert, von Ischl ins Ausseer Land zu reiten. Die Landschaft war imposant. Hohe Berge säumten eine ganze Ansammlung tiefer, glitzernder Seen, deren Farben je nach Wetter und Tageszeit unterschiedlich wirkten, mal grün, mal tiefblau. Letztere Farbe ließ ihn an seine Frau denken. Corrisande hatte die blausten Augen, die er je gesehen hatte. Ihm wurde warm bei dem Gedanken, wie sie ihn damit ansah.

Er hatte sie nicht gern zurückgelassen. Doch er hatte sie auch nicht mitnehmen wollen. Wenn er auch der Meinung war, daß sie Phantome jagten und nichts finden würden, war es doch grundsätzlich möglich, daß es gefährlich wurde. Nicht, daß er ihren Mut bezweifelte – sie war ein zähes kleines Ding –, doch er wußte, daß die Sorge um ihre Sicherheit ihn ablenken würde. Ein halbes Jahr zuvor war sie fast gestorben. Er hatte sie in letzter Minute dem Tode entrissen. Er weigerte sich, so etwas noch einmal zu erleben.

Er schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken auszulöschen. „Bis jetzt ist niemand gekommen“, flüsterte er McMullen zu, dem kleinen, untersetzten Meister des Arkanen, mit dem er im Geheimdienst Ihrer Majestät oft genug gemeinsam tätig gewesen war.

„Sie würden jetzt sicher lieber in Ihrem Bett bei Ihrer hübschen Frau liegen, nicht wahr?“ frotzelte sein Begleiter in der freundlich-frechen Weise, in der das nur besonders enge Freunde taten.

Delacroix grinste. Sein Freund hatte das Talent, seine Gemütsverfassung zu lesen. Er war Magier im Rang eines Meisters. Er spürte weit mehr als seine Mitmenschen. Außerdem sah er mehr als Delacroix, denn er hatte seine Nachtsicht magisch erweitert. Delacroix hätte ihn bitten können, das gleiche für ihn zu tun, doch das hätte bedeutet, daß er sein Schutzamulett gegen magische Manipulationen hätte abnehmen müssen. Da sie nicht wußten, mit welcher Art von Gefahr sie rechnen mußten – falls es überhaupt eine gab –, zog er vor, das Amulett anzubehalten. Also starrte er angestrengt in die Finsternis und hoffte, daß – sollte tatsächlich jemand vorbeikommen – dieser Jemand eine Laterne tragen würde, damit man ihn von weitem sehen konnte.

Seine Hoffnung, daß überhaupt jemand kommen würde, war allerdings nicht groß. Die ganze Affäre war ein Windei. McMullen mußte nach seinem verlorengegangen Neffen suchen, doch selbst er gab freimütig zu, daß die Aussichten, den Jungen noch zu finden, winzig waren. Ende August war er verschwunden. Ein Monat war lang. Jede Chance, die sie gehabt hätten, Ian noch lebend zu finden, mochte längst dahin sein.

Sie hatten mit den Behörden und mit vielen Ortsansässigen gesprochen. Sie hatten auch das Wirtshaus gefunden, das Ian erwähnt hatte. Es war tatsächlich eine Poststation für die weiter entfernt liegenden Gehöfte rund um den Grundlsee, das größte der drei Gewässer, die auf verschiedenen Ebenen zwischen den Bergen aufgereiht lagen. Das Wirtshaus war ein gemütliches, wenn auch einfaches Haus. Der Wirt erinnerte sich an den jungen englischen Herrn und auch an den Hauslehrer, der einige Tage später gekommen war, um nach dem Verbleib seines Schützlings zu forschen.

Doch der junge Mann war nur einmal in dem Lokal gewesen, und wohin er gegangen war, wußte niemand. Er hatte wie nun auch Delacroix und McMullen ein Boot gemietet. Das war der schnellste Weg, um vom Hauptdorf am See, das ebenfalls Grundlsee hieß, zu Ladners Poststation zu kommen, die am langgestreckten Nordufer des Sees lag.

Immerhin hatten sie mit Hilfe von McMullens arkaner Überzeugungskraft und ein wenig Mesmerismus die schweigsamen Alpenbewohner dazu gebracht, zu berichten, daß seit circa achtzehn Monaten eine untypisch hohe Anzahl Fremder auf den Seen unterwegs war. Diese Leute hatten ihre eigenen Boote, überquerten den Grundlsee, wanderten weiter zum nächst höher gelegenen See, dem Toplitzsee, wo sie auch Boote hatten, und verschwanden dann in Richtung Kammersee, dem kleinsten und höchstgelegensten der Seen, und von dort in die Berge. Touristen waren dafür bekannt, immer seltsame Dinge zu treiben, nur blieben sie selten länger als einen Tag in der Wildnis.

Man wußte es nicht genau, doch der Eindruck bestand, daß manche der Leute weitaus länger in den Bergen blieben als nur einen Tag. Vielleicht waren es Jagdpartien. Das Tote Gebirge war ein gutes Jagdrevier. Zudem gab es da noch die alte Salzroute über die Berge, die bis nach Italien führte.

Salz kam immer wieder in den Unterhaltungen vor. Es definierte dieses Land. Fast jeder arbeitete der Salzgewinnung zu, entweder in den Salinen, in der Weiterverarbeitung oder im Transport. Aussee, der größte Ort dieser Region, war nicht nur ein Ferienort für romantisch veranlagte Touristen. Es war auch das Zentrum des Salzhandels, eines lukrativen Unternehmens, das vollständig vom Staat geführt wurde.

Ian, sagte McMullen, habe sich immer sehr für Bergwerke und Gruben interessiert. Vielleicht waren es gerade die Bergwerke in dieser Gegend gewesen, die ihn dazu bewogen hatten, von der weit modischeren Reiseroute durch die Schweiz abzusehen und statt dessen hierherzukommen. Ian wußte schon immer seinen Kopf durchzusetzen.

Sie hörten die Stimmen, noch bevor sie das Licht sahen. In dem felsumkränzten Talkessel, der den See umgab, hallten Stimmen weit und wurden von den Felsen als Echo zurückgetragen.

Beide Männer verharrten reglos. Menschen, die mitten in der Nacht durch die Wildnis liefen, mußten verrückt sein. Oder verzweifelt. Oder darauf bedacht, ihre Geheimnisse zu hüten.

Wenn es Geheimnisse zu hüten gab, waren Delacroix und McMullen der Sache eventuell nähergekommen. Allerdings glaubte Delacroix nicht, daß das Geheimnis auch nur halb so interessant war, wie der Junge vermutet hatte. Höchstwahrscheinlich ging es um Schmuggel oder Hehlerei. Oder es waren Wilddiebe.

Falls Ian allerdings auf seiner Suche nach sagenhaften Geheimnissen und ungeahnten Abenteuern auf Schmuggler, Hehler oder Wilderer getroffen war, konnte es gut sein, daß diese ihn hatten verschwinden lassen, um einen lästigen Zeugen loszuwerden. Zwar kannte Delacroix die hiesigen Gesetze nicht, doch er konnte sich nicht vorstellen, welche Art geheimnisvoller Gaunereien jemand in der Wildnis des Toten Gebirges verbergen sollte. Das Vorhandensein der nächtlichen Wanderer schien zumindest anzudeuten, daß es etwas gab.

Aus ihrem Versteck heraus beobachteten sie die Prozession von drei Männern mit Laternen, die vorsichtig über die Felsen kletterten und dabei Kiepen mit schwerem Inhalt trugen. Sie kamen näher. Ihre Stimmen waren deutlich zu vernehmen. Sie sprachen Deutsch mit österreichischem Akzent, was es den beiden Briten etwas schwerer machte, sie zu verstehen. Doch Delacroix Sprachkenntnisse waren gut, und so verstand er sie halbwegs.

„Wenn sie ihn fangen, werden sie ein ganz schönes Problem haben, ihn hierherzubringen. Wissen Sie, was er ist?“

„Nein. Nur, daß er ein Feyon ist. Das ist alles. Wenn sie ihn schnappen, werden sie schon wissen, wie sie ihn hierherbringen.“

„Meyer ist mitgegangen. Möchte wissen warum. Gehört nicht zu seinen Aufgaben.“

„Neugier. Oder vielleicht wollte er einfach mal weg von dem Blinden. Er mag ihn nicht – und überhaupt, ich wäre selbst auch gerne mitgegangen. Du etwa nicht? Schließlich jagen wir den gottverfluchten Wassermann und die legendäre Waldfee, über die die Einheimischen hier dauernd erzählen, nun schon seit Monaten. Ganz zu schweigen von dem vielzitierten Berggeist.“

„Ich sage dir was. Sie existieren gar nicht, und der Feyon, den sie treffen wollen, existiert auch nicht. Nichts als gottverdammte Märchen.“

„Das solltest du besser nicht wiederholen.“

Die Stimmen verklangen in der Nacht und verschwanden hinter dem Rauschen des kleinen Wasserfalls.

Die beiden Lauscher blieben noch ein paar Momente ganz still.

„Gehen wir ihnen nach!“ murmelte Delacroix schließlich. „Vielleicht finden wir ja mehr heraus.“

„Ohne Licht werden Sie sich den Hals brechen, hier in der Wildnis“, flüsterte der Meister, „und mit Licht werden sie uns sehen.“

„Ich sehe genug“, behauptete Delacroix, „und wenn wir ihnen nicht gleich nachgehen, werden wir sie verlieren.“

„Na gut. Gehen Sie voraus!“

Der hochgewachsene Mann glitt aus dem Versteck und balancierte über die glitschigen Felsen, von Schatten zu Schatten. Er hörte nicht, wie sein Kamerad ihm folgte, doch er machte sich keine Sorgen. Der Meister konnte seine Bewegungen – wörtlich – im Handumdrehen geräuschlos werden lassen.

Delacroix mußte auf sein schmerzlich erworbenes Wissen als jugendlicher Dieb und Einbrecher zurückgreifen. Zum Glück hatte er die ausgefallenen Kenntnisse und Fähigkeiten, die man ihm als Kind beigebracht hatte, nie verlernt. Menschen, die ihn in Aktion sahen, konnten es selten fassen, daß ein wuchtiger Mann von über einem Meter neunzig sich so leichtfüßig bewegen konnte. Doch in seinem Beruf war es gut gewesen, unterschätzt zu werden.

Nicht, daß es noch sein Beruf war. Dieses Abenteuer würde das letzte sein. Er wollte sich nicht mehr in Gefahr begeben. Er hatte eine Frau, für die er sorgen mußte, und früher oder später würden sie Kinder haben. Früher wahrscheinlich, nicht später, wenn er Corrisandes Gemütsschwankungen der letzten Zeit richtig deutete. Doch sie hatte nichts gesagt. Das hätte sie doch sicher getan?

Er trat auf den Felsen vor sich und gleichzeitig ins Nichts. Während er fiel, spürte er, wie sein Schutzamulett auf der Haut brannte. Jemand wirkte Magie gegen ihn. Er war zu abgelenkt gewesen, um es zu bemerken.

Nun war es zu spät.