Kapitel 63
Beim Anblick ihrer Tochter wusste Susanna sofort Bescheid. Sie nahm sie in die Arme und zog sie dann neben sich auf einen der Stühle im Wartesaal. „Kind, ich werde das nur einmal fragen. Also sperr deine Lauscherchen auf.“ Susanna sprach so ernst, dass Beth sich gezwungen fühlte, sie anzusehen. Erst nachdem sich Susanna der ganzen Aufmerksamkeit ihrer Tochter sicher war, fuhr sie fort. „Du hast dich in ihn verliebt, nicht wahr?“
Beth zögerte.
„Liebes, du wärst nicht die erste in unserer Familie, die ihr Herz in Nizza verliert. Erinnerst du dich? Deiner Tante ging es kein Stück besser. Würde mich auch wundern, wenn dir der Junge gleichgültig wäre. Ist wirklich ein kleines Prachtexemplar.“
„Mama!“ Gleichermassen entsetzt wie auch belustigt rief Beth ihre Mutter zur Ordnung.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage. Hast du?“
„Ich denke schon.“
„Dann schnapp ihn dir. Ich weiss, weshalb du denkst, mit mir nach England zurückkommen zu müssen, aber du musst dir um Papa keine Sorgen machen, um den kümmere ich mich. Wir beide sind alt genug, weißt du?“ Susanna strahlte mit ihrem warmen, beruhigenden Blick soviel Verständnis aus, dass Beth unweigerlich lächeln musste. Dennoch haderte sie mit ihrem Gewissen. Diesen Konflikt konnte man von ihrem Gesicht ablesen wie aus einem offenen Buch, weshalb Susanna sich von ihrem Stuhl erhob, sich vor Beth hinkniete und sie fest in ihre Arme schloss. Ganz nah an Beths Ohr, so dass nur sie es hören konnte, flüsterte Susanna dann nur noch ein Wort. „Geh.“ Damit löste sie sich aus der Umarmung. Bevor sie Beth aber ganz los liess, schaute sie sie noch einmal an. Fast so, als würde sie sich ihr Gesicht wie eine Art Erinnerungsfoto fest einprägen. Es war eine Momentaufnahme, die ihr niemand mehr nehmen konnte. Beths Augen glitzerten feucht, während gleichzeitig ihr strahlendes Lächeln alle Sorgen aus ihrem Gesicht vertrieb. Es war, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Voller Energie und Entschlossenheit sprang sie auf und ohne sich noch einmal umzudrehen rannte sie quer durch den Flughafen, dem Ausgang entgegen. Rücksichtslos stellte sie sich dann mitten auf die Strasse, in der Hoffnung, dass man sie nicht übersah. Der Fahrer des kurz darauf heranrollenden Taxis machte keinen erfreuten Eindruck, als er sein Reaktionsvermögen auf die Probe gestellt sah. Aber der Test galt nach der Vollbremsung als bestanden, weshalb Beth unbekümmert die hintere Tür öffnete und einstieg.
Die Tür des Polizeireviers flog auf und mit ihr schossen alle Köpfe der anwesenden Beamten in die Höhe. Erneut gelang Beth damit ein meisterhafter Auftritt, der den Inszenierungen Hollywoods in nichts nachstand. Sie entdeckte Irene an deren Arbeitsplatz. „Wo ist er?“
Irene versuchte zu antworten, aber ihre Stimmbänder wollten ihr nicht gehorchen, weshalb ihre Mundgymnastik an einen Fisch auf dem Trockenen erinnerte. Sie bediente sich daher der Zeichensprache und deutete auf die geschlossene Bürotür.
Madeleine, die in der kleinen Küche stand, biss gleichzeitig mit Beths Eintreten in eine ihrer süssen Namensgenossinen und verschluckte sich prompt daran. Von neugierigen Blicken verfolgt, marschierte Beth auf das Büro zu und stiess die Tür ohne anzuklopfen auf. Die Türkante verfehlte Jérémies Nase nur um Haaresbreite.
„Was zum…?“, rief er aufgebracht aus. Dann brach er ab, als er sah, wer die Schuld an dem Beinaheunfall trug.
Mit rasendem Puls blieb Beth unbeholfen in der Tür stehen. Ahnungslos, wie sie ihrem Schrecken Ausdruck verleihen sollte, reagierte sie mit der ersten Emotion die ihr zur Verfügung stand. Wut. „Was zum Teufel machst du denn direkt hinter der Tür?“, bluffte sie Jérémie laut an.
Die im Revier Anwesenden hatten sich Mühe gegeben, möglichst beschäftig zu wirken, konzentrieren konnte sich aber schon lange keiner mehr. Jetzt verstummte auch die letzte Tastatur.
„Stehen! Schliesslich ist es mein Büro!“, brüllte Jérémie zurück. „Was willst du hier? Ich dachte, du sitzt bereits im Flugzeug und schlürfst deinen Earl Grey!“
Irgendwo im Raum japste jemand nach Luft.
Dass Jérémie ebenfalls mit Wut konterte, trieb wiederum Beth weiter in die Weissglut. „Ach ja? Obwohl mir inzwischen der Grund entfallen ist, kannst du froh sein, dass ich zurückgekommen bin! Schliesslich kann sich ein bornierter Affe, wie du es bist, glücklich schätzen, dass sich eine Frau wie ich in ihn verliebt hat!“ Soviel hatte sie eigentlich nicht sagen wollen. Wütend darüber, dass sie sich so hatte hinreissen lassen, presste sie die Lippen aufeinander und senkte beschämt den Blick.
„Wie war das?“ Auf einen Schlag war Jérémies Wut verraucht. Er trat einen Schritt auf Beth zu, setzte seinen Finger unter ihr Kinn und zwang sie auf diese Weise, ihn anzusehen. Das löste in Beth ein Déjàvue aus, welches wiederum ein aufregendes Kribbeln durch ihren Körper trieb. Sie gab seinem Druck nach und schaute ihn an.
Dieser Blick, diese unergründlichen, hellblauen Augen. Sie waren wie geschaffen, um darin zu ertrinken. Jérémie war ein Mann, der wusste, wann er verloren hatte. Normalerweise empfand er diesen Umstand als Ärgernis und gab es meist auch nur ungern zu. Nicht so in diesem Fall. Die zuvor für Wut reservierte Stelle wurde von Belustigung eingenommen - denn eigentlich war es in jedem normalen Spiel nicht der Verlierer, der das Schlachtfeld mit der Siegertrophäe im Arm verliess. Doch dieses hier war schon immer anders gelaufen. Die Fältchen um seine Augen wurden wieder tiefer und ohne den Blick von ihr zu trennen, begann er behutsam, mit dem Daumen die Linie von Beths Kinn nachzufahren.
Im Hintergrund stiess jemand einen tiefen Seufzer aus.
„Lady, wissen Sie eigentlich, dass Sie ein nervtötendes kleines Gör sind?“ Sich jedes Detail genau einprägend, musterte Jérémie amüsiert Beths Gesicht. Er senkte seinen Kopf zu ihr hinunter, bis sich die Nasenspitzen in einer federleichten Berührung trafen. Sofort durchzuckten heisse Wellen seinen Körper.
„Sie?“ Beth zog sich lächelnd wieder ein kleines Stück zurück, aber nur soviel, wie nötig war, um ihn mit einem tadelnden Blick zu strafen.
„Pardon, Macht der Gewohnheit.“ Er bedachte sie mit einem zärtlichen Blick, der ihre Knie weich werden liess, während er langsam die letzte Distanz überbrückend seinen Kopf zu dem ihren senkte, bis sich die Lippen erst sanft berührten, um sich dann in einem leidenschaftlichen Versprechen zu verlieren.