Kapitel 20

 

Der neue Tag begann vielversprechend und Beth hoffte, dass er noch weitere nette Überraschungen bereit hielt. Sie war der Meinung, sich das nach all den Strapazen verdient zu haben. Die Entlassungspapiere waren schnell unterzeichnet und Beth beeilte sich, das Spital zügig zu verlassen, die Ärzte sollten unter keinen Umständen auf die Idee kommen, ihre Entscheidung zu überdenken. Kaum hatte sich die Schiebetür hinter ihr geschlossen, fragte sie sich, was sie jetzt eigentlich zu tun gedachte. In die Wohnung konnte sie höchst wahrscheinlich noch nicht zurück. Also galt es einen Schlafplatz zu finden und irgendwie musste sie an ihre Kleider kommen. Dazu fiel ihr nur eine Lösung ein. Diejenige hatte den Vorteil, dass er ihr noch erklären konnte, weshalb er überhaupt bei ihr in der Wohnung vorbeigekommen war. Die Erinnerungen an den Vortag schwirrten nur in Fetzen in ihrem Gehirn herum, aus denen kaum ein zusammenhängendes Bild rekonstruierte werden konnte, aber sie glaubte zu wissen, dass er ihr etwas sagen wollte.

Entgegen ihren Erwartungen war Jérémie nicht auf der Polizeiwache anzutreffen.

„Sie wollen zum Inspecteur, stimmts?“

Ein wenig orientierungslos schaute Beth sich nach einem Ansprechpartner um. Dass ihr Rücken jetzt aus heiterem Himmel angesprochen wurde, überraschte sie. Suchend drehte sie sich um. Bis sie erkannte, wer mit ihr gesprochen hatte, dauerte es einen Augenblick. Eine freundliche, mütterlich wirkende Dame in Uniform grinste hinter einem grossen Computerbildschirm hervor.

„Guten Tag. Ja, ich suche Inspecteur Russeau.“

Obwohl es nicht den Anschein macht, hat auch er neben dem Revier noch ein Zuhause.“

Beth hätte es nicht für möglich gehalten, doch das Lächeln der Dame wurde noch breiter.

„Tatsächlich? Was meinen Sie, wann kommt er denn hierher?“

„Das weiss ich leider nicht. Aber ich kann ihn anrufen!“

„Nicht nötig. Sagen Sie ihm einfach, ich wäre aus dem Krankenhaus entlassen worden und werde mir bei Louis ein Frühstück gönnen. Wenn er sich mit mir in Verbindung setzen könnte, wäre das toll, denn ich müsste wissen, ob ich mir ein Hotelzimmer nehmen soll, bis ich wieder in die Wohnung kann oder ob ich vielleicht schon heute Abend wieder zurückgehen könnte.“

„Ah ja, das Gas. Wissen Sie was? Ich gebe Ihnen einfach die Privatadresse. Gehen Sie ungeniert dort vorbei, um ihn gleich selbst zu fragen. Es kann nicht angehen, dass Sie so im Ungewissen gelassen werden.

Etwas verwundert beobachtete Beth, wie die offenbar bestens informierte Irene, so hiess die Dame gemäss dem Schild auf ihrem Tisch, in wilden Lettern eine Adresse auf ein Blatt Papier kritzelte. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber wäre es nicht doch besser, wenn Sie ihn stattdessen vielleicht kurz anrufen würden?“

„Wo denken Sie hin! Das ist wirklich in Ordnung. Hier.“ Irene drückte Beth die Karte in die Hand, die sie soeben beschriftet hatte. „Gehen Sie. Das braucht Ihnen nicht unangenehmen zu sein. Sagen Sie ihm liebe Grüsse von Irene und er soll Ihnen gefälligst einen vernünftigen Kaffee machen, ansonsten werde ich ihm seinen knorrigen Hintern versohlen.“

Unsicher warf Beth einen Blick auf das Stück Papier in ihren Händen. „Danke Madame, ehm,…“

Irene.“ Half sie Beth auf die Sprünge, schob ihren etwas korpulenten Körper unter dem Tisch hervor, stand auf und streckte Beth die Hand entgegen.

Ich heisse Beth.“ stellte sich Beth ebenfalls vor, obwohl sie davon ausging, dass Irene das schon längst wusste, und erwiderte das Angebot mit einem warmen Händedruck. Danke für deine Hilfe, Irene.“

„Immer wieder gerne.“

Kaum hatte Beth das Gebäude verlassen, schlich eine zweite Polizistin zur Tür schielend an Irenes Tisch.

„Sag mal, hast du den Verstand verloren?“, zischte die Frau.

„Warum?“ Irene versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen, es wollte ihr aber nicht so richtig gelingen.

„Du schickst einfach wildfremde Leute zum Inspecteur nach Hause?“

Beruhige dich, Madeleine, und vertrau mir. Ich bin der Meinung, dass es Zeit wird, dass Jérémie mal jemand auf die Sprünge hilft, sonst rostet er noch ein. Abgesehen davon finde ich, er hat jetzt genug Trübsal geblasen. Wenn sie jetzt auch tatsächlich hingeht, dann wird Jérémie es mir früher oder später danken.“ Verschwörerisch zwinkerte sie Madeleine zu. Madeleine schien aber nicht überzeugt zu sein. „Früher oder später wird er es dir danken? Wenn überhaupt, eher später.“

 

Die auf der Karte stehende Adresse war schnell gefunden. Zum x-ten Mal erklärte Beth sich selbst für verrückt, als sie den Klingelknopf des in Gelb getünchten Altbaus drückte. Es war ein schönes Haus und schien vor noch nicht allzu langer Zeit renoviert worden zu sein. Aus dem Innern hörte sie laute Musik und beinahe hoffte sie, dass er das Läuten nicht gehört hatte und sie einfach wieder gehen konnte. Warum war sie der Aufforderung dieser Polizistin gefolgt? Selbst ein Blinder konnte sehen, dass sie hier nichts zu suchen hatte und ihre Anwesenheit eine saublöde Idee war.

Sie war so in Gedanken, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als sich auf einmal die Tür öffnete. Erschrocken schaute sie auf und wurde prompt rot, als ihr Gehirn die Information ihrer Augen registrierte und die Mitteilung formulierte, dass Jérémie mit nacktem Oberkörper vor ihr stand. Sie ging davon aus, dass er von ihrem Anblick genauso erstaunt war, wie sie von seinem. Nur aus anderen Motiven.

Es entging ihr nicht, wie gut er gebaut war. Ihr war klar gewesen, dass er trainiert war, das konnte man auch mit Kleidung gut erkennen. Darüber, wie sich ihr jetzt allerdings der Anblick seiner muskulösen Brust, der nicht minder kräftigen Oberarme und der sanft angedeuteten Rillen der Bauchmuskulatur bot, geriet sie in Verlegenheit. Zu allem Übel stellte sie erschrocken fest, dass sie ihn auch noch anstarrte. Jérémie schien aber eher belustigt als beleidigt.

„Wenn du jetzt auch noch ‚Überraschung’ rufst, knall ich dir die Türe wieder vor der Nase zu.“ Die Fältchen um seine Augen wurden tiefer. Beinahe hätte er laut herausgelacht.

„Habe ich dich etwa angestarrt? Gott, das ist mir so peinlich! Tut mir leid, das wollte ich nicht!“ So gut sie konnte, versuchte Beth die Situation retten.

„Ist schon in Ordnung. Ein gewisses Schmeicheln kann ich nicht leugnen. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass eine Frau so wenig Taktgefühl besitzen kann, einen halbnackten Mann mit nur einem Blick noch mehr auszuziehen. Von einem Mann habe ich nie etwas anderes erwartet, aber von einer Dame, die aus dem Land kommt, das die hohe Kunst des Benehmens vor langer Zeit wahrscheinlich ins Masslose perfektioniert hat, hätte ich mehr Selbstbeherrschung erwartet.“

Inzwischen war Beth so rot wie die Geranie, die neben der Tür von der Decke hing. „Nun, ehm, ich glaube, also… Ich werde dann mal wieder gehen. Das war eine blöde Idee.“ Unbeholfen stotternd drehte sich Beth weg und wollte zurück auf die Strasse treten.

Quatsch. Komm schon rein und erzähl, wer dir diese Adresse gegeben hat. Oder nein, lass mich raten. Es war Irene?“

Mehrfach atmete Beth tief durch. Es schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie inzwischen wahrscheinlich die Königin im Kreissaal wäre, so wie sie in letzter Zeit das tiefe Durchatmen üben konnte. Langsam drehte sie sich wieder um. Der Schalk schimmerte zwar immer noch in Jérémies Augen, sie musste also auf den nächsten Spruch vorbereitet sein, aber er hielt auch einladend die Türe für sie auf.

„Sie hat gesagt, sie versohlt dir deinen knorrigen Hintern, wenn du mir nicht einen anständigen Kaffee servierst.“

Die Lachfältchen wurden noch tiefer. „Eindeutig Irene.“

 

Beth schaute sich im Haus um. Schnell war sie sich darüber im Klaren, dass bei der Einrichtung eine Frauenhand mitgewirkt haben musste. Sie fragte sich, ob diese Hand womöglich der Frau auf dem Foto auf seinem Schreibtisch im Revier gehörte.

„Wenn du weiter geradeaus dem Gang folgst, kommst du in die Küche. Machs dir gemütlich, ich bin kurz oben und zieh mir etwas mehr an, damit ich gegen die nächsten entkleidenden Blicke gewappnet bin.

Da war er also, der erwartete nächste Spruch. Böse funkelte Beth Jérémie an, folgte aber seiner Aufforderung. Erst jetzt wurde sie sich dessen bewusst, dass er noch nasse Haare hatte und sein einziges Beinkleid aus einem grossen weissen Handtuch bestand.

„Oh Gott, was tu ich hier?“, flüsterte sie zu sich selbst, während sie ihm nachsah, wie er oben am Treppenabsatz ankam und dann aus ihrem Blickfeld verschwand. Um sich wieder ein bisschen zu sammeln, schlenderte sie in die angewiesene Richtung. Es stellte sich heraus, dass das Haus tatsächlich einer Erneuerung unterzogen worden war. Allerdings schien es, als wären einige Arbeiten noch nicht abgeschlossen. Der Türrahmen zur Küche war frisch abgeschliffen worden, das unbehandelte Holz lag jetzt verletzlich offen und wartete auf die schützende Lackschicht. Die Küche, wie Jérémie es genannt hatte, glich eher einer Hightech-Landschaft in glänzendem Weiss. In einem grossen, hellen Raum schimmerten in der Morgensonne modernste Apparaturen mit vielen Knöpfen, Lämpchen und Anzeigen um die Wette. Die Kochinsel schien das Herzstück in diesem Zubereitungsparadies für kulinarische Köstlichkeiten darzustellen. Beth hatte das Gefühl, als müsste nächstens die Tür hinter ihr aufschwingen und die perfekte Hausfrau mit Petticoat und weisser rüschenbesetzter Kochschürze würde den Kochlöffel meisterhaft schwingen und das alles natürlich mit einem perfekten Lächeln auf ihrem perfekten Gesicht unter den perfekt frisierten Haaren. Da aber auch nach einigen Minuten nichts dergleichen geschah, fasste Beth den Mut, sich vom Fleck zu bewegen. Sie fand die Kaffeemaschine und war stolz, auf Anhieb den Einschalt-Knopf entdeckt zu haben. Während die Maschine sich aufwärmte, liess sie ihrer Neugier freien Lauf. Sie wanderte um die Kochinsel herum, der Fensterfront entlang auf eine grosse Schiebetür zu, zu derer Rechten eine Nische mit einem modernen Esstisch aus Nussbaumholz und den dazupassenden Stühlen stand.

Nur durch ein kurzes Anstupsen glitt die Tür wie von selbst auf und eröffnete den Blick in ein grosszügiges Wohnzimmer mit einem offenen Kamin aus dunklen Schieferplatten. In der Mitte des Raumes stand ein gemütliches Stoffsofa auf einem weissen Fransenteppich. Orange Akzente waren im ganzen Raum in verschiedenen Formen zu finden, die neben der kühlen Moderne der Einrichtung eine heimelige Wärme versprühten.

Frisch angezogen trat Jérémie ebenfalls in die Küche und ertappte Beth bei ihrem Rundgang. Er liess sie gewähren und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Aufgeschreckt durch das Geräusch der Bohnen im Mahlwerk der Maschine, drehte sich Beth um. Entschuldige, ich wollte nicht herumschnüffeln.“ Sie ging zurück in die Küche und schloss die Tür hinter sich.

„Ist schon in Ordnung. Das meiste habe ich selbst renoviert und auch eingerichtet. Deshalb stört es mich nicht, wenn jemand von der Neugierde gepackt wird und mein Werk betrachtet. Ich bin selbst ziemlich stolz darauf, weil ich glaube, dass es mir gut gelungen ist. Ich jedenfalls fühle mich wohl hier und das ist die Hauptsache.“

„Was meinst du mit ‚du hast das selbst gemacht’?“ Das hatte Beth nun wirklich nicht erwartet. Der unnahbare Kämpfer gegen das Unrecht hütet offenbar nicht nur Gesetze sondern auch einige ungeahnte Talente und Geheimnisse.

„Nun, meditieren liegt mir nicht besonders, ich schlafe immer ein. Das ist zwar auch eine Form zur Ruhe zu kommen, aber es ist wenig konstruktiv. Also habe ich mir eine nützlichere Beschäftigung zum Abschalten gesucht und das Heimwerken gefunden.“

Dann bist du also mit Rohre verlegen, Wände anstreichen und Schränke zimmern beschäftigt, wenn du gerade niemanden aus vergasten Wohnungen rettest?“

„Nicht nur. Es gehört auch Kamine mauern, Wasserrohre verlegen, Elektrogeräte einbauen sowie anschliessen und noch vieles mehr dazu.“ Jérémie klopfte mit dem Fingerknöchel gegen den Kühlschrank, zum Zeichen, dass es ebenfalls sein Verdienst war, dass jener voll funktionsfähig am dafür vorgesehenen Platz stand.

Wäre Beth in einem Zeichentrickfilm, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem ihr sprichwörtlich die Kinnlade Herunterklappen würde. „Das ist nicht dein Ernst. Diesen Kamin hast du gebaut? Wurde der von der Feuerpolizei abgenommen oder hoffst du einfach, dass du das korrekt gemacht hast und dein Haus nicht abfackeln wirst?“

Jérémie setzte ihr den Kaffee unter ihre Nase. „Milch, Zucker?“ Beth schüttelte den Kopf.

„Es ist alles absolut regulär und korrekt abgelaufen. Aber glaube mir, unbehandelte Schieferplatten zu einem Kamin zusammenzuwürfeln ist kein einfaches Unterfangen. Aber es hat Spass gemacht.“

Anerkennend nickte Beth. Es hätte sie sehr interessiert, ob vielleicht die eine oder andere Frauenhand mitgewirkt hatte. Aber sie rief sich zur Ordnung und erklärte ihrer Neugierde, dass es sie nichts anging. Abgesehen davon gab es wirklich Wichtigeres zu tun.

„Diese sensationelle Küche ist aber sicherlich nur Attrappe. Kühn wie ich bin, glaube ich dir, dass du mit dem Zementrührstab umgehen kannst, aber Mixer und Kochlöffel? Sei nicht beleidigt, aber das traue ich dir nicht zu. Oder macht deine Küche alles selbst? Soviel Knöpfe wie man hier drücken kann, würde ich das sogar noch glauben.“ Es war ein plumper Versuch doch einige Informationen über die Dame des Hauses zu erhalten.

„Leider habe ich auf meiner langen Suche keine selbstkochende Küche gefunden. Das ist aber natürlich oberste Priorität gewesen. Am Ende habe ich mich dann für dieses Modell entschieden, weil ich mir dachte, dass eine Küche komplett ohne Geräte optisch nicht unbedingt das ist, was man ein Juwel nennt.“

Zu Beths Leid schien der erprobte Polizist in jeder Beziehung nicht auf den Kopf gefallen und auch jetzt nicht bereit zu sein in diese Falle zu tappen. So herrlich dieses Geplänkel für Ablenkung von den schweren Themen sorgte, befand es Beth nach dieser Niederlage nun doch für an der Zeit, sich um die anstehenden Probleme zu kümmern, welche sie ohne Umschweife in Angriff nahm.

„Wann kann ich wieder in meine Wohnung?“

„Hoppla, so etwas nennt man wohl einen Themenwechsel. Bist du jetzt darauf gekommen, weil dich meine Küche an deine erinnert? Nein, im Ernst. Ich weiss es nicht. Und was ich dich sowieso fragen wollte: Wie geht es dir überhaupt? Gestern lagst du noch bewusstlos auf dem Sofa und heute läufst du wieder frei herum und machst Scherze über meine Küche und alles ohne ein klagendes Wort.“

„Öffentlich leiden liegt nicht in meiner Natur, auch wenn du mir das nach den letzten Tagen vielleicht nicht glaubst. Aber zu deiner Beruhigung, es geht mir wirklich gut. Der Arzt hat gesagt, es sei alles in Ordnung, also habe ich schnellstmöglich die Entlassungspapiere unterschrieben. Nur habe ich jetzt das Problem, dass ich ohne Übernachtungsmöglichkeit und ohne Kleidung dastehe. Bevor ich aber ein Zimmer anmiete und neue Sachen kaufe, dachte ich, ich frage nach, wann ich wieder in die Wohnung kann. Und jetzt, da ich die Antwort kenne, werde ich mich als nächstes um ein Zimmer kümmern. Wie sieht es kleidungstechnisch aus? Kann ich oder du mir einige Sachen holen? Ich schätze, ich werde zuerst noch waschen müssen, aber das ist das kleinste Problem.“

Jérémie schien sich seine Antwort gründlich zu überlegen, denn er liess sich reichlich Zeit. „Ich denke, ich kann dir Zutritt zu deiner Wohnung verschaffen. Du darfst einfach nichts anfassen, ausser den Kleidern, die du mitnehmen möchtest. Der Grund liegt darin, dass die Untersuchung noch läuft und die Spurensicherung die Wohnung noch nicht freigegeben hat.“

„Die Spurensicherung? Das klingt wie in einem Krimi im Fernsehen.“

„Es ist nicht ganz so spektakulär. Aber ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“

„Na gut. Wann meinst du, könnten wir uns auf den Weg machen? Ich dürste förmlich nach einer Dusche und frischen Sachen.“

„Warum hast du nicht im Krankenhaus geduscht?“

Diese Frage war zu erwarten. „Ich hasse Krankenhäuser und wollte so schnell wie möglich weg. Da war keine Zeit für praktische Gedanken.“

„Aha, verstehe.“ Dabei liess er es bewenden. „Fertig?“ Fragte er dann mit Blick auf ihre leere Kaffeetasse.

„Sieht so aus.“

„Gut, dann los.“

Knappe zwei Stunden später stand Beth mit einer Reisetasche in der einen und ihrer Handtasche in der anderen Hand auf dem Bürgersteig vor der Wohnung ihrer Tante. Der Anblick der Wohnung hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Alles war mit kleinen Schildern ausgelegt, überall klebte seltsames Pulver, der Gasgeruch hing in allen Textilien und schien sich in der Luft selbst festgefressen zu haben. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diesen Geruch jemals wieder loswerden würde. Doch die Suche nach einer Lösung für dieses Problem hatte noch etwas Zeit. Zuerst musste sie jetzt eine Bleibe finden. Jérémie tauchte neben ihr auf und verstaute den Zweitschlüssel wieder in seiner Tasche.

„Alles in Ordnung?“ Besorgt sah er sie an. Ihr Gemütszustand schien ihr ins Gesicht geschrieben zu sein.

„Ja, es ist nur etwas verwirrend. Es passiert mir schliesslich nicht jeden Tag, dass ich beinahe an einer Gasvergiftung sterbe und anschliessend die Wohnung präpariert wie der Tatort einer Theaterkulisse wieder antreffe.“

„Nein, alltäglich ist das bestimmt nicht. Jetzt komm, deine Kleider brauchen dringend einen Waschgang. Ich rieche sie bis hierher und wir stehen wohlgemerkt an der frischen Luft.“

Dankbar liess sich Beth von Jérémie mitziehen. Dass sie wieder vor seinem Haus enden würde, hatte sie sich weder überlegt, noch sich träumen lassen.

„Willst du hier draussen Wurzeln schlagen?“

Er hatte die Tür bereits geöffnet und ihr die Reisetasche abgenommen. Wortlos setzte sie sich nur langsam in Bewegung.

„Wo die Küche ist, weißt du ja bereits. Nimm dir was du brauchst. Ich könnte mir vorstellen, dass du inzwischen auch Hunger hast. Ich gehe derweil in den Keller und lasse die erste Maschine an.“

Mechanisch ging Beth in die Küche. Nach der Erwähnung von Essen spürte sie tatsächlich, wie ihr Magen sich zu beschweren begann. „Nun denn, er hat es angeboten, also nutze ich es. Ungeniert.“

Durch das Klappern neugierig geworden, betrat Jérémie etwas später ebenfalls die Küche. „Was…“

„Oh, ich dachte, ich mache etwas zu Essen und da nur Zutaten für Pfannkuchen da waren, gibt es jetzt eben Pfannkuchen. Möchtest du auch welche?“ Fröhlich grinste sie ihn aus mehlbeschmiertem Gesicht an. Ihm fiel auf, dass noch niemand so mit seiner Küche umgesprungen war. Trotz dem Chaos stellte er mit Erstaunen fest, dass ihm gefiel, wie es aussah.

Obwohl er nicht geantwortet hatte, stellte Beth zwei Teller auf den Tisch und servierte frische Pfannkuchen. Sie bedeutete ihm, sich zu setzen. Noch etwas skeptisch nahm er den ersten Bissen, um sich dann ihrem erwartungsvollen Blick zu stellen.

„Und?“

„Das sind die besten Pfannkuchen, die ich je gegessen habe.“ Mit ernstem Gesicht schaufelte er sich Nachschub auf seine Gabel.

Belustigt und zufrieden stopfte auch Beth die Teigmasse in sich hinein. Dass sie Hunger gehabt hatte, wusste sie, dass sie das Ozonloch in ihrem Magen beherbergt hatte, war ihr bis gerade eben nicht klar gewesen.

„Kochst du immer so gut?“

„Sagen wir, was ich koche, schmeckt mir meistens auch. Das habe ich wohl von meinem Vater. Der Verdienst meiner Mutter kann es jedenfalls nicht gewesen sein.“ Beim Gedanken an die Steinmuffins wurde Beth warm ums Herz. Gleichzeitig quälte sie aber auch ihr schlechtes Gewissen.

„Hast du eigentlich seit gestern wieder etwas von deinen Eltern gehört?“

Und schon war es passiert. Als hätte Jérémie ihre Gedanken gelesen, hatte er zielsicher den Grund ihres schlechten Gewissens in Worte gefasst. „Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich das nicht habe.“

„Warum nicht?“ Da beide fertig gegessen hatten, stellte Jérémie die Teller zusammen und trug sie zum Spülbecken. Beth öffnete ganz selbstverständlich die Geschirrspülmaschine und begann einzuräumen.

„Weil sie sich tierisch sorgen würden und alles daran setzten, hierher kommen zu können und das kann ich nicht verantworten.“

„Ich denke, das verstehe ich sogar. Aber sie im Ungewissen zu lassen halte ich für eine schlechte Idee. Mensch, du wärst ihnen beinahe weggestorben und sie hätten bereits das zweite Familienmitglied betrauern müssen. Das klingt jetzt zwar albern, aber irgendwie scheint euch diese Stadt kein Glück zu bringen.“

Beth beschlich das seltsame Gefühl, diese Worte schon einmal gehört zu haben. So schnell wie das Gefühl gekommen war, verschwand es dann aber auch wieder.

Als der letzte Gegenstand in der Maschine verstaut war, schnappte sich Beth einen Lappen und begann, den Herd und die Armaturen abzuwischen. Stumm stand Jérémie daneben und schaute dem Treiben zu. Erst jetzt, da Beth innehielt und ihn mit offenem Mund anstarrte, als käme er von einem anderen Stern, stellte er fest, dass er den Gedanken, den er selbst noch kaum richtig fassen konnte, bereits laut ausgesprochen hatte.

„Ich soll hierbleiben?“ Mit einiger Mühe hatte Beth ihre Sprache wieder gefunden.

Nun, scheinbar schon. Ja. Genauer gesagt, du hast keine Unterkunft, deine Wäsche ist sowieso schon bei mir in der Waschmaschine und ich habe ein Gästeschlafzimmer. Darin könntest du die nächste Zeit schlafen, bis du wieder in die Wohnung kannst, was voraussichtlich sowieso nicht mehr lange dauert.“

Beths Gehirn begann auf Hochtouren zu arbeiten. Pro und Kontra mussten abgewogen werden. Man konnte doch nicht einfach bei einem Mann übernachten, den man erst so kurz kannte. Hingegen war er Polizist, noch besser, er war Inspecteur, seine Leute schienen ihm zu vertrauen, also wieso sollte sie das nicht auch können? Allerdings kam es durchaus vor, dass vermeintlich normale Menschen vollkommene Psychopathen waren. Fiebrig versuchte Beth in Windeseile eine gangbare Lösung zu erarbeiten. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, blieb aber kein einziger vernünftiger Gedanke hängen. Also beschloss sie, ihr Bauchgefühl entscheiden zu lassen, weshalb sie selbst noch nicht wusste, wie ihr Antwort lauten würde, bis ihre Worte in ihren eigenen Ohren widerhallten.

„Es wäre natürlich sehr praktisch, ich weiss aber nicht, ob das für dich wirklich in Ordnung ist. Darfst du das überhaupt? Ich meine, kann man dir nicht irgendwie wegen emotionaler Bindung den Fall entziehen, oder so etwas in der Art?“

„Emotionale Bindung? Beth, nur damit wir uns einig sind, ich…“

Hastig unterbrach sie ihn. „Oh nein, warte! Bevor du weiter sprichst - ich glaube es gibt keinen Klärungsbedarf. Ich bilde mir jetzt nichts Besonderes auf dein Angebot ein. Schätzungsweise kann man uns wohl als zwei Menschen bezeichnen, die sich gut verstehen. Dann kommt dazu, dass ich in Not geraten bin und du mich rettest. So einfach ist das.

Jérémie zog eine Augenbraue hoch. „Das klingt nach dem Ritter in der goldenen Rüstung.“

Sie wusste genau, dass sie sich um Kopf und Kragen redete, aber sie hatte das Gefühl diese drohende falsche Interpretation nicht einfach stehen lassen zu können. „Falsche Wortwahl?“ Seufzend verwarf Beth die Hände. „Ich gebe es auf. Dein Angebot war lieb gemeint, aber ich denke, es ist keine gute Idee. Ich suche mir jetzt ein Hotelzimmer.“ Sie wollte schon aufstehen, da hielt Jérémie sie zurück.

„Beth, sieh es als Abenteuer. Wir sind zwei erwachsene Menschen, die soeben dermassen verkrampft versuchten, sich gegenseitig richtig zu verstehen, dass es schief gehen musste. Ich schätze, mit dieser Grundlage kann diese Sache noch ganz amüsant werden. Ausserdem ist es voraussichtlich nur für eine Nacht.“

Und was ist mit der nötigen professionellen Distanz zu einem Fall, den es zu lösen gilt? Kann man dir denn Fall nicht irgendwie entziehen, weil irgendjemand das Gefühl bekommen könnte, dass du persönlich zu nahe dran bis?“

Nun, mein Vorschlag ist zugegeben äusserst unüblich. Solange ich aber nicht aus persönlichen Gefühlen auf die irrationale Schiene gerate, gebe ich niemandem einen Grund an mir und meiner Professionalität zu zweifeln. Das dürfte also kein Problem darstellen. Bist du nun fertig damit, dir meinen Kopf zu zerbrechen?“

Immerhin brachte sie knapp ein schiefes Lächeln zustande. „Danke. Sag mal, wo ist denn eigentlich dein Zimmer?“

Schon hatte Jérémie Luft für den Gegenschlag geholt, als Beth noch einmal nachsetzte. „Ruhig Blut, alter Cowboy, das war ein Scherz. Zeig mir, wo du deine Gäste normalerweise versteckst.“

Jérémie schaute Beth aus funkelnden Augen an, machte dann aber ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf dem Absatz kehrt. Brav folgte sie ihm. Er führte sie in den oberen Stock des Hauses. Die Balustrade oben an der Treppe wirkte verkürzend auf den Gang, in dem drei Zimmer lagen. Links das Badezimmer, rechts ein Schlafzimmer und geradeaus vermutete Beth noch ein Schlafzimmer. Von der Balustrade selbst führte ebenfalls noch eine Tür in ein Zimmer. Jérémie zeigte ihr das Badezimmer und das Zimmer gegenüber. Die restlichen Räume blieben ihr verborgen. Beth war neugierig, was hinter den anderen beiden Türen lag, aber sie fragte nicht nach. Schliesslich bestimmt der Hausherr die Regeln und nicht der Gast.

„Ich hoffe, dir reicht diese einfache Unterkunft. In der Kommode findest du frische Bettwäsche und die Waschmaschine ist im Keller. Man bekommt sie schnell in den Griff. Sie ist nicht mit so vielen Knöpfen ausgestattet wie die Küchengeräte, aber ich denke, du wirst sie trotzdem mögen.

„Sehr witzig.“ Beth warf die Tasche auf das Bett und sah sich um. Es war ein helles und freundliches Zimmer. Im Gegensatz zum Stein im übrigen Haus, sorgte hier der Parkettboden für die nötige Wohlfühlatmosphäre. Das Bett war aus massivem Holz, genauso wie die Kommode, auf der ein gelber Blumentopf mit einem gesunden, kräftigen Farn stand. In der freien Ecke daneben befand sich eine Stehvase mit einem dezenten Arrangement aus Kunstblumen. Mehr war nicht in dem Zimmer. In Kombination mit den gelblich gestrichenen Wänden war es aber genau perfekt. Wieder konnte Beth das Feingefühl, mit dem dieses Haus eingerichtet worden war, nicht auf den Mann neben ihr zuteilen.

„So, also, ich werde mich dann auf den Weg zur Arbeit machen. Ich hoffe, du findest dich zurecht. Unten am Schlüsselbrett hängt noch ein Hausschlüssel, den kannst du für die nächste Zeit benützen. Wenn du Fragen hast, komm vorbei oder ruf an.“ Mit diesen Worten war Jérémie bereits aus der Tür und polterte die Treppe hinunter.

 

„Das fühlt sich so richtig seltsam an. Was tue ich hier eigentlich?“ Kopfschüttelnd packte sich Beth erneut ihre Reisetasche und stieg die Treppe hinunter. Als sie an der Haustür vorbei kam, überlegte sie für einen kurzen Augenblick, ob sie die Flucht ergreifen sollte. „Dummerchen, jetzt stell dich nicht so an!“ Ihre Tasche noch fester unter den Arm klemmend, ging sie in den Keller. Die Waschmaschine war schon von Weitem hörbar und deshalb bald gefunden. Die Keller der alten Stadthäuser waren aber nicht unbedingt das, was sich Beth unter heimelig vorstellte und sie war froh, mit der ersten Ladung frischer Wäsche bald wieder nach Oben gehen zu können. Da sie gesehen hatte, dass sich hinten an das Haus ein kleiner Garten anschloss, machte sie sich mit dem Wäschekorb dorthin auf den Weg. Schnell war auch eine passende Vorrichtung zum Aufhängen der nassen Kleider gefunden. Nach und nach konnte sich Beth entspannen und begann sich entgegen ihrer anfänglichen Befürchtung richtiggehend wohl zu fühlen. Nach getaner Arbeit schlich sich dann aber bald die Langeweile ein. Beinahe hätte sie dieser Zustand, gepaart mit ihrer Neugier in die beiden Zimmer geführt, die sie vorhin nicht gezeigt bekommen hatte. „Das ist Vertrauensmissbrauch, das kannst du nicht tun. Ende und aus.“ Doch es half nichts. Beth sprang vom Sofa auf, auf dem sie sich inzwischen niedergelassen hatte und schlich wie ein Verbrecher die Treppe hinauf. Sie zögerte nur eine Sekunde, bis sie die Türfalle der ersten Tür herunterdrückte. Aber es geschah nichts. Die Türe war abgeschlossen. „Das gibt es doch nicht. Ob die wohl immer abgeschlossen ist?“ Ein bisschen enttäuscht schlich sie zu der zweiten Türe. Diese liess sich beim ersten Rütteln widerstandslos öffnen. Mit einem Blick sah Beth ihre Vermutung bestätigt. Bei diesem Raum handelte es sich eindeutig um Jérémies Schlafzimmer. Es fiel auf, dass das Bett nicht gemacht war und auch sonst wirkte es unordentlicher als der Rest des Hauses, aber keinesfalls ungemütlich oder schmutzig. Es wirkte eher, als würde sich die meiste Zeit seines Lebens hier abspielen. Sie streifte noch kurz durch den Raum, entdeckte aber nichts Außergewöhnliches, was sie unweigerlich zu der Frage führte, was sie eigentlich erwartet hatte.

 

Die gleiche Frage stellte sich auch Jérémie auf dem Weg zum Polizeiposten, als er sich erneut vergewisserte, ob der silberne Schlüssel zur Befriedigung von Beths Neugierde noch dort war, wo er ihn hingetan hatte. Die Hand auf der linken Hosentasche, ertastete er ein weiteres Mal die Umrisse des kalten Metals. Auch wenn es absurd war und er wusste, dass der Schlüssel nicht einfach verschwinden würde, hatte er das Gefühl, immer wieder überprüfen zu müssen, ob er noch da war.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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